Wenn wir ehrlich sind: Der Wettbewerb um Talente wird nicht über den nächsten Benefits-Flyer entschieden, sondern über die Fähigkeit eines Unternehmens, Lebensphasen vorausschauend zu gestalten. Genau darüber spricht Stefanie Klein, Initiatorin von Women for Metals bei Aurubis, im HRM-Podcast – und liefert damit eine Blaupause für HR-Arbeit, die sowohl Recruiting als auch Retention messbar stärkt. Für erfahrene HR-Profis zwischen 40 und 60, die Verantwortung tragen und Wirksamkeit suchen, steckt hier mehr drin als wohlklingende Buzzwords. Es geht um Flexibilität als Standard, um sichtbare Vorbilder, um kluge Piloten und um eine Fürsorgekultur, die Leistung ermöglicht.
Lebensphasenorientierung für mehr Arbeitgeberattraktivität: Vom Lippenbekenntnis zum System
Lebensphasenorientierte Personalarbeit bedeutet, Karriere und Arbeitsorganisation so zu denken, dass sie zu Einstieg, Familienphase, Pflegeverantwortung, Neuorientierung und später Karriere passen. Der Perspektivwechsel ist subtil, aber folgenreich: Nicht die Person muss in die Struktur passen, die Struktur passt sich an die Lebenslogik der Person an. Das schafft Bindung, reduziert Fluktuation an neuralgischen Punkten (Elternzeit, Pflege, „späte Karriere“) und verbessert die Candidate Experience – gerade in Branchen, die als „traditionell“ gelten.
Entscheidend ist, diese Orientierung nicht als Sonderfall zu behandeln. Flexibilität wird Standard, nicht Ausnahme. Das gilt auch dort, wo es zunächst schwerer erscheint – etwa in Schicht- und Produktionsbereichen. Hier helfen teamgestützte Tauschmodelle, Wunschdienstpläne, Micro-Shifts oder die systematische Ausbildung von Springer:innen. Es geht nicht um beliebige Freiheit, sondern um verlässliche Planbarkeit für beide Seiten.
Frühe Bindung für frühe Arbeitgeberattraktivität: Ausbildungs- und Young-Talent-Arbeit neu denken
Stefanie Klein macht deutlich, dass Arbeitgeberattraktivität bereits vor dem ersten Arbeitstag beginnt. Ein intensives Onboarding mit Einführungswoche, Unternehmens-Deep-Dive, Begegnungen mit Expert:innen und – bemerkenswert – Finanzbildung vermittelt jungen Menschen Orientierung über den Job hinaus. Dieser Zusatznutzen wird unterschätzt: Wer früh berufliche und persönliche Kompetenzen aufbaut, bleibt länger und kommt schneller in die Leistung.
Ein weiterer Hebel ist Verantwortung ab Tag 1. Kleine, klar umrissene Projekte, regelmäßige Feedbacks und eine gelebte Fehlerkultur (statt Fehlervermeidung) fördern Selbstwirksamkeit. Die Generation junger Fachkräfte wird dadurch nicht „verhätschelt“, sondern anspruchsvoll gefordert. Gleichzeitig zeigt die Praxis: Reine Remote-Modelle sind für den Berufseinstieg selten ideal. Hybride Arbeit mit bewusst gesetzten Präsenztagen ermöglicht informelles Lernen, Netzwerkbildung und Kulturtransfer – Aspekte, die im Homeoffice schwer reproduzierbar sind.
Auf der Kommunikationsseite wirken authentische Social-Media-Formate stärker als jede Hochglanzbroschüre: Azubis, Dualis und Young Talents erzählen selbst – ehrlich, unpoliert, nah dran an der Realität. Sichtbarkeit entsteht nicht durch den perfekten Clip, sondern durch echte Stimmen.
Elternzeit als Karrierebrücke – nicht als Karrierebruch
Die Elternzeit ist ein klassischer Fluktuationspunkt – und eine riesige Chance. Entscheidend ist, dass Unternehmen diese Phase aktiv begleiten: Einladungen zu Team-Events, virtuelle Coffee Dates, Zugang zu internen News. Das wirkt banal, ist aber hochwirksam, weil Zugehörigkeit nicht reißt. Vor dem Wiedereinstieg lohnt sich ein Stärken- und Perspektivencheck: Wo lagen die Stärken zuletzt, welche Kompetenzen sind in der Elternzeit hinzugekommen (Organisation, Priorisierung, Resilienz), welches Zielbild macht Sinn? Ein strukturierter Wiedereinstiegsplan (z. B. 12 Wochen, mit Meilensteinen) reduziert Anlaufverluste und signalisiert Wertschätzung.
Wesentlich: Teilzeit darf kein Karriereknick sein. Führung in Teilzeit, klar geschnittene Verantwortungsbereiche und Jobsharing sind keine Sondermodelle für „Ausnahmen“, sondern moderne Routinen. Gerade Duos – heterogen besetzt nach Erfahrung, Geschlecht, Persönlichkeit – erhöhen Verfügbarkeit, Entscheidungsgüte und Nachfolgefähigkeit. Damit das gelingt, empfehlen sich Piloten mit eindeutiger Lernagenda: Ziele definieren, Verantwortlichkeiten klären, gemeinsame Sprechstunden etablieren, nach drei bis sechs Monaten evaluieren. Piloten nehmen Angst, erlauben Fehler und schaffen interne Beweise, die stärker sind als jede PowerPoint.
Pflegeverantwortung professionell adressieren
Immer mehr Mitarbeitende sind parallel für pflegebedürftige Angehörige verantwortlich – häufig unsichtbar, häufig belastend. Was in der Elternzeit funktioniert, wirkt hier ebenso: flexible Arbeitsfenster, temporäre Stundenreduktionen, verlässliche Rückkehrpfade. Ergänzend helfen Pflegeguides im Intranet, Partnerschaften mit Beratungsstellen oder interne Lotsen, die Erstorientierung geben. Das Signal ist klar: Wir sehen dich – und wir organisieren Leistung, ohne dich zu überfordern. Das reduziert Fehlzeiten, schützt Gesundheit und stärkt Bindung.
Späte Karriere: Wissensanker stärken, Abhängungsgefühl vermeiden
Mitarbeitende in der späten Karrierephase tragen das strukturelle Wissen eines Unternehmens. Was ihnen häufig fehlt, ist systematische Anerkennung und Upskilling in digitalen Themen. Workshops nach dem Prinzip „How to AI“, „LinkedIn Basics“, „Digitale Tools im Alltag“ holen ab, ohne zu belehren. Parallel bieten Mentor-Rollen Sichtbarkeit und Sinn. Flexible Stundenmodelle (z. B. projektbasierte Peaks, saisonale Verfügbarkeiten) halten Leistungsfähigkeit hoch – und sichern Know-how-Transfer, gerade in Transformationen.
Netzwerke, die wirklich tragen: niedrigschwellig beginnen, organisch wachsen
Netzwerke sind Kultur-Booster, wenn sie einfach starten: „Wir gehen mittags essen – wer kommt mit?“ Aus Treffen werden Communities (Women-, Väter-, Studierenden-Netzwerke), aus Communities werden Austauschformate, aus Formaten entstehen Initiativen. HR muss nicht alles orchestrieren – es reicht, Räume zu öffnen und Sichtbarkeit zu geben. Für Organisationen mit viel blue-collar-Anteil sind standortnahe Formate, Schicht-kompatible Zeiten und interne Botschafter:innen wichtig, die Kolleg:innen aus Produktion und Verwaltung verbinden.
Besonders wirksam ist Reverse Mentoring: Jüngere geben Digital- und Reichweitenkompetenz weiter, Erfahrene öffnen Türen, Kontext und Stakeholder-Logiken. Beide Seiten gewinnen – und die Organisation lernt schneller, Silos zu überwinden.
Role Models & Storytelling für bessere Arbeitgeberattraktivität: Identifikation schlägt Image
Karrieren sind selten linear. Genau das sollte erzählt werden. Geschichten von Kolleginnen und Kollegen, die die Richtung gewechselt, neu begonnen, bewusst Tempo rausgenommen oder wieder erhöht haben, schaffen Identifikation – intern wie extern. In Branchen mit Männerdominanz sind weibliche Vorbilder besonders sichtbar zu machen: nicht als PR-Figuren, sondern als kompetente Fach- und Führungskräfte mit greifbaren Aufgaben, Entscheidungen und Erfolgen. Diese Form der Kommunikation wirkt doppelt: Sie rekrutiert und bindet.
Mentale Gesundheit als Leistungsgrundlage
Ohne mentale Gesundheit keine Leistung. Punkt. Niedrigschwellige Employee-Assistance-Programme (EAP), anonyme Beratungsangebote und kurze Wartezeiten sind der Unterschied zwischen „Wir haben da was“ und echter Hilfe. Ergänzend empfiehlt sich ein präventiver Ansatz: Führungskräfte-Briefings zu Gesprächsführung in belastenden Situationen, klare Eskalationspfade, transparente Kommunikation von Angeboten. Das verändert die Kultur weg von „Augen zu und durch“ hin zu „früh reden, früh handeln“.
Führung in Teilzeit und Jobsharing: von der Ausnahme zur Normalität und zu höherer Arbeitgeberattraktivität
Für viele HR-Verantwortliche ist das der schwierigste Schritt – organisatorisch und kulturell. Die Lösung: Rollen neu schneiden (Ergebnis- statt Präsenzlogik), Schnittstellen klar dokumentieren (z. B. One-Pager je Verantwortungsbereich), gemeinsame Kalender und feste Übergabezeiten etablieren. Erfolgsmessung erfolgt über Outcome-KPIs (Projektmeilensteine, Qualität, Zufriedenheit der Schnittstellenpartner), nicht über Stunden. Ein sauber aufgesetzter Pilot schafft Argumente für Skeptiker – besonders in Umfeldern, die jahrzehntelang mit Vollzeit-Einzelrollen gearbeitet haben.
Produktion & Schicht: Realismus statt Romantik
Nicht jede Maßnahme aus dem Office lässt sich in die Fertigung übertragen. Aber viele Prinzipien durchaus: Diensttauschbörsen, transparente Planungshorizonte, Lebensphasen-Gespräche (vierteljährlich kurz, einmal jährlich tief), Qualifizierungspfade in angrenzende Tätigkeiten für temporäre physische Einschränkungen, und Schicht-flexible Lernangebote (z. B. Micro-Learning in der Kabine, On-Demand-Module). Arbeitgeberattraktivität in der Produktion entsteht aus Fairness, Planbarkeit und Entwicklung – nicht aus Obstkörben.
Governance & Messbarkeit: So wird aus guter Absicht ein System und daraus bessere Arbeitgeberattraktivität
Lebensphasenarbeit braucht Verantwortung und Messung. Wer in HR führt, verankert klare Routinen:
- Lebensphasen-Checkpoints in den People-Cycles (Onboarding, Elternzeitstart/-ende, Pflegefall, spätere Karriere).
- Kennzahlen, die zählen: Rückkehrquoten, Time-to-Productivity nach Wiedereinstieg, interne Wechsel, Fluktuation nach Lebensphase, Nutzung von EAP/Netzwerken, Zufriedenheit der Schnittstellen bei Jobsharing.
- Transparente Karrierepfade inkl. Teilzeit- und Tandemoptionen in Stellenprofilen – nicht versteckt, sondern proaktiv kommuniziert.
- Pilot-Kultur: Hypothese – Pilot – Review – Skalierung. So entsteht Vertrauen.
Kommunikation: Innen beginnen, außen verstärken
Arbeitgeberattraktivität ist Innenpolitik mit Außenwirkung. Deshalb zuerst interne Kanäle bespielen: Townhalls, Intranet, Team-Leitfäden, kurze Video-Statements von Role Models, Q&A-Sessions zu Piloten. Wenn die Basis steht, folgt die Außenkommunikation: Karriereseite mit konkreten Beispielen und Namen, Social-Posts von Mitarbeitenden, authentische Einblicke in echte Arbeitssituationen. Der wichtigste Kanal bleibt jedoch der Mund-zu-Mund-Empfehlungsfluss – den gewinnt, wer intern überzeugt.
Arbeitgeberattraktivität – Warum das alles? Drei harte Effekte, die Führung überzeugt
- Retention: Wer Lebensphasen ernst nimmt, reduziert Fluktuation an klassischen Bruchstellen.
- Recruiting: Sichtbare Flex-Modelle, Role Models und klare Wiedereinstiegswege vergrößern den Bewerber:innenpool – gerade bei Frauen in MINT-Berufen.
- Performance: Passende Arbeitsorganisation steigert Fokus, Qualität und Verantwortungsübernahme – messbar in Projektergebnissen und Schnittstellenfeedback.
Fazit: Attraktiv wird, wer vorlebt – und lernt
Die stärkste Botschaft aus den Impulsen von Stefanie Klein lautet: Nicht warten, pilotieren. Lebensphasenorientierung ist keine HR-Kampagne, sondern tägliche Führungsarbeit. Beginnen Sie dort, wo der Hebel in Ihrer Organisation am größten ist: ein Jobsharing-Pilot in einer Schlüsselrolle, ein strukturierter Wiedereinstieg nach Elternzeit, ein Reverse-Mentoring-Programm, das zwei Generationen verbindet, oder ein EAP mit garantierten Erstterminen binnen weniger Tage. Machen Sie die Ergebnisse sichtbar, feiern Sie Role Models – und lernen Sie konsequent weiter.
So entsteht Arbeitgeberattraktivität, die nicht nur gut klingt, sondern Talente hält, Talente anzieht und Leistung ermöglicht. Genau das brauchen Unternehmen heute – ob in der Metallindustrie oder anderswo.