Die Richtungsänderung und die „geringfügige Unterbrechung“

Der Blick zurück bescherte Lots Frau, dass sie zur Salzsäule erstarrte. Sollte es im Rechtsfalle eines 64 jährigen Mannes auch so gehen, dass eine kurze „Richtungsänderung“ vom Weg zur Arbeit gleich in einen Verlust seiner Versicherungs“beweglichkeit“ führen sollte?

Der Fall:

Der als Schulhausmeister angestellte Mann verließ am 28. Januar 2013 morgens wie üblich sein Wohnhaus durch die Haustür, ging zum Hoftor, öffnete es und fuhr sein im Innenhof geparktes Auto nach rechts aus dem Tor hinaus. Er parkte es dann „längs zur Fahrbahn“ unmittelbar vor dem Hoftor. Er stieg aus, um das Hoftor zu schließen. Als er um das Auto herumging, rutschte er auf dem vereisten Asphalt aus und verletzte sich dabei die Schulter schwer. Zuerst bezahlte die Beklagte (BG) „ausweislich ihrer Aufstellung vom 22. Januar 2014 36.899,66 EUR für die ambulante und stationäre medizinische Behandlung sowie Verletztengeld bis 27. September 2013.“(2)

Zwei Minuten und Richtungswechsel als Ablehnungsgrund

Von einer weiteren Verletztenfeststellung und Gewährung von Entschädigungsleistungen sah die BG jedoch ab, da sie ab 11. Dez. 2013 bim Kläger (Unfallopfer) noch einmal den Hergang abfragte und wie lange der Weg „Auto-Tor-Zurück zum Auto“ dauere. Die Antwort, u.a.: „viell. 2 Minuten“. Die BG entschied mit Bescheid vom 5. Februar, dass das Ereignis kein Arbeitsunfall gewesen sei. Man könne die Unterbrechung nicht als geringfügig BSG – Urteil vom 12. April 2005 – B 2 U 11/04 R Rz 19 – juris) bezeichnen. Das wäre nur der Fall, wenn das Schließen des Hoftores "im Vorbeigehen" oder "ganz nebenher" möglich gewesen sei. Jedoch sind nur „nebenbei“ verrichtete Handlungen als „geringfügig“ und damit versicherungswürdig zu bewerten. (1)

Außerdem habe „der Kläger den Weg zur Arbeit unterbrochen, um das Hoftor zu schließen…. Die Unterbrechung habe allein privaten Gründen gedient und sei nicht erforderlich gewesen, um den Weg zur Arbeit zurückzulegen.“ (2) Damit wäre ein „innerer Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges und der eigentlich versicherten Tätigkeit zum Unfallzeitpunkt nicht mehr gegeben, der Kläger befand sich nicht mehr auf einem versicherte Wege, die Ablehnung der Entschädigung sei rechtens.

Der Geschädigte wehrt sich: "alles im Rahmen der zielführenden Handlung"

Dagegen erhob der Geschädigte am 17. Februar 2014 Widerspruch. Grund: Das „unfallbringende Verhalten“ sei im Rahmen der beabsichtigten Fahrt zum Arbeitsplatz geschehen, Auf- und Zumachen des Tores eine einheitliche Handlung auf dieses Ziel hin. Die Unterbrechung der Fahrt sei geringfügig, der Unfall unmittelbar in der Nähe des Fahrzeugs geschehen.

Die Hoftor-Frage: Eigennutz steht angeblich vor Fahrtziel

Diesem Widerspruch setzte die BG einen Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2014 entgegen. „Nach der neueren Rechtsprechung bewirke ein Richtungswechsel in die entgegengesetzte Richtung - vom eigentlichen Ziel weg - eine deutliche Zäsur, da sich die Umkehr sowohl nach ihrer Zielrichtung als auch ihrer Zweckbestimmung vom zunächst zurückgelegten Hinweg zur Arbeit unterscheide.“(2)

Außerdem habe der Mann den Unfall selber herbeigeführt, da er aus dem PKW ausgestiegen sei und da er ausschließlich aus privatwirtschaftlichem Beweggrund gehandelt habe: Mit dem Schließen des Hoftores wollte er allein sein Privateigentum schützen. „Der subjektive Wunsch des Klägers, das private Eigentum zu schützen, habe eine neue objektive Handlungssequenz in Gang gesetzt, die sich deutlich von dem Ziel zur Arbeit zu fahren abgrenzen lasse.“ (2)

Erste Instanz gibt Kläger (Geschädigtem) Recht

Dagegen erhob der Mann am 11. August 2014 Klage beim Sozialgericht Frankfurt, um den Unfall als Wegeunfall anzuerkennen. Der Unfall sei auf dem Wege zur Arbeit erfolgt. Ein Öffnen und Schließen eines Hoftores sei keine „Zäsur“, um mit dem eigenen Kfz zur Arbeit zu kommen, sondern eine zusammenhängende Handlung auf das Ziel zur Arbeit hin, der Schutz des Eigentums dem unterzuordnen. Ein Versagen des Versicherungsschutzes in diesem Falle – „halte er mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung für unvereinbar.“ (2)

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Foto von Priscilla Du Preez
  1. Mit Gerichtsbescheid vom 27. April 2015 entschied das Sozialgericht in der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsanklage, dass ein Wegeunfall vorliege. Der Kläger habe sich, als er aus dem Auto ausstieg, noch auf versichertem Arbeitswege befunden.
  2. Obwohl er sein Auto aus „eigenwirtschaftlichen Gründen“ geschlossen habe, sei die Fahrtunterbrechung als „geringfügig“ zu bewerten, der Weg zum Tor nur einige Schritte entfernt gewesen, was keine „erhebliche Zäsur“ darstelle. Alle Handlungen seien insgesamt zeitlich wie räumlich noch der Grundrichtung zuzuordnen.


Der Weg zum Zigarettenautomat wäre geringfügig und abgedeckt, das Schließen des Tores nicht?

Die Beklagte BG beantragt daraufhin, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. April 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen. Ein Verlassen des Autos und die Umkehr zum Hof, um „aus privaten Gründen“, das Tor zu schließen, seien nicht geringfügig und dokumentierten die geänderte Handlungstendenz (vom Arbeitsweg weg). Den Tatbestand der Geringfügigkeit erfüllten hingegen z.B.: „das Umdrehen vor der Haustür, um sie zu schließen“, das „Besorgen von Zigaretten an einem Automaten am Straßenrand“ oder „die Hilfeleistung beim Öffnen einer Straßenbahntür“, da sie gleichsam „im Vorbeigehen“ erfolgen könnten… (2)

Der Versicherungsschutz höre jedoch beispielsweise auf, wenn der Versicherte aus der Haustür ginge, zum Hoftor raus –und dann wiederkehre, weil er vergessen habe, die Haustür zu schließen.

Der Kläger beantragte erfolgreich, die Berufung zurückzuweisen

Mit dem Urteil AZ L 3 U 108/15 – gaben die Darmstädter Richter dem Kläger auch in zweiter Instanz Recht. Die Beklagte musste den Unfall als Wegeunfall anerkennen. Eine Revision wurde nicht zugelassen.

Begründung: Die Begründung ist sehr ausführlich und stellt u.a. die Auffassung der Beklagten richtig, die ihre Entscheidung vor allem auch auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Wegeunfallrecht stützen wollte. In ihrer Urteilsbegründung wies das LSG minutiös darauf hin, dass das BSG mitnichten eine Zäsur automatisch als versicherungsaussetzend betrachte. Wichtig sei dabei zu bewerten, wie lange der Richtungswechsel dauere und ob die objektive Handlung einen tatsächlich geänderten Handlungsimpuls offenbare (z.B. Besuch einer Disko oder endgültige Rückkehr in die Wohnung statt Weiterfahrt zur Arbeit).

So wurde eindeutig entschieden:

  1. Dass der „versicherte Weg zur Arbeit mit dem Durchschreiten der Außentür eines Wohngebäudes“ beginne (BSGE 2, 239; 42, 293, 296; 63, 212, 213; Keller in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, Rz 197 zu § 8, Krasney, in: Becker u.a. Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), Kommentar, Rz 182 zu § 8). (1,2,4))
  2. Dass man die einzelnen Handlungen (Weg von der Haustür über den Hof, Weg vom Hof zum Tor, Weg vom Tor zum Auto etc.) und „Richtungsänderungen“ nicht generell und zwingend einzeln in ihrer „Handlungsrichtung und Handlungstendenz“ bewerten müsse,
  3. sondern, dass hier das Aussteigen aus dem Pkw und der Weg „zurück“ zum Tor als „eingeschobene Verrichtungen“ in einem inneren Zusammenhang mit dem Hinweg stünden § 8 Abs. 2 Ziffer 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII). Das schließe auch „Gefahrenmomente“ mit ein, die vom privaten Grundstück ausgehen bis hin zu anderen Wegteilstrecken. (2, 3)
  4. Dass kurze Unterbrechungen als „geringfügige Unterbrechungen“ zu bewerten wären und „diesen Zusammenhang nicht beseitigen würden, selbst wenn sie aus eigenwirtschaftlichem Interesse erfolgten.“
  5. Dass bei Zeiträumen von 30 Sek. bis 2 Min. von einer „versicherungsschädlichen Zäsur“ nicht zu sprechen sei.
  6. Dass der Betroffene diese Weg alltäglich immer auf die gleiche Weise zurücklege – und damit bewiesen habe, dass all diese Handlungen einheitlich als Handlungen auf dem Weg zur Arbeit zu interpretieren seien.



Fazit:

Beschäftigte sind auf dem unmittelbaren Weg von und zur Arbeit (einer die Versicherung begründenden Tätigkeit/versicherten Tätigkeit, §§ 2, 3 oder 6 SGB VII) gesetzlich unfallversichert. Eine Wegeunfallversicherung ist demnach dazu da, einem Versicherten Versicherungsschutz zu gewähren, wenn sich der Unfall (ein nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII definierter Arbeitsunfall) auf dem Hin- oder Rückweg zur Arbeitsstätte ereignet. Das beginnt mit dem Tritt aus der Haustür, wenn der Versicherte „im Interesse des Betriebes“ diesen Weg „in einer auf die versicherte Tätigkeit bezogene Handlungstendenz“ beschreitet und zurücklege (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Und das ist auch dann der Fall, wenn der Gesamthandlungsstrang sich aus einzelnen Wegstrecken zusammensetzt, solange diese nur kurz, geringfügig und gewohnheitsmäßig erfolgen und mit der Gesamthandlungstendenz in einem inneren Zusammenhang stehen (BSGE 91, 293; BSG, Urteil vom 4. Juli 2013 – B 2 U 12/12 R in: Sozialgerichtsbarkeit (SGb) 2014, 392, 394). Damit ist mit dem Urteil des 3. Senats des Hessischen Landessozialgerichts auch der Gang zurück zum Hoftor, um es zu schließen, um dann zur Arbeit weiterzufahren, auch wenn hier untergeordnet privatwirtschaftliche Interessen mitschwingen sollten, eindeutig mit versichert. (2, 4)


Hinweise zur Rechtslage

183306    HES · Hessisches Landessozialgericht    3. Senat    Urteil    Format     HTM, PDF, RTF, XML

1. Instanz    Sozialgericht Frankfurt      S 23 U 108/14      27.04.2015 
2. Instanz    Hessisches Landessozialgericht      L 3 U 108/15      02.02.2016 
3. Instanz               
Sachgebiet    Unfallversicherung 

§ 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII)

(1) Kraft Gesetzes sind versichert
1. Beschäftigte, (…)

§ 7 SGB VII
(1) Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.

§ 8 SGB VII
(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz (…) begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). (…)

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden
unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit, (…)

Quellen:
(1) https://lsg-darmstadt-justiz.hessen.de/irj/LSG_Darmstadt_Internet?rid=HMdJ_15/LSG_Darmstadt_Internet/sub/a34/a340b4b9-a5f2-451d-0648-712ae8bad548,,,11111111-2222-3333-4444-100000005003%26overview=true.htm

(2) https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=183306

(Hintergrund) https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=3%20U%20108/15

(3) http://www.iww.de/quellenmaterial/id/185960

(4) http://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/lexsoft/default/hessenrecht_lareda.html#docid:7499142