Urteil vom 19. Januar 2010, Rechtssache: C-555/07

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Foto von Ant Rozetsky

Sachverhalt: Die Arbeitnehmerin war seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr beim Arbeitgeber beschäftigt. Dieser entließ sie im Alter von 28 Jahren unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat. Das Unternehmen berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren, obwohl die Mitarbeiterin seit zehn Jahren beim Unternehmen beschäftigt war. Wie in § 622 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vorgesehen, hatte es die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt. Die Arbeitnehmerin klagte gegen dieses Vorgehen und machte geltend, dass diese Regelung eine europarechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Die Kündigungsfrist hätte, so die Klägerin, vier Monate betragen müssen, was einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren entspreche.

Entscheidung: Der EuGH gab der klagenden Arbeitnehmerin Recht. Er erklärte die seit langem umstrittene Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB für rechtswidrig, da sie eine verbotene Diskriminierung wegen des Alters enthalte. Außerdem wies der EuGH die deutschen Arbeitsgerichte an, die Vorschrift in einschlägigen Rechtsstreitigkeiten unangewendet zu lassen.

Konsequenzen für die Praxis: Für die Praxis bedeutet dies zum einen, dass bei der Berechnung von Kündigungsfristen Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres mit einzubeziehen sind. Das Urteil dürfte zum anderen Auswirkungen auf tarifvertragliche Regelungen wie beispielsweise Kündigungsausschlüsse haben, die an die Beschäftigungsdauer anknüpfen. Auch das finanzielle Volumen von Sozialplänen kann sich erhöhen, da sich die Höhe der Sozialplanabfindung in der Regel unter anderem nach der Beschäftigungsdauer richtet. Daneben ist nicht auszuschließen, dass bereits gekündigte Arbeitnehmer nachträglich eine längere Kündigungsfrist einklagen, zumal sie vermutlich mit Sperrfristen von der Arbeitsagentur beim Arbeitslosengeld rechnen müssen, wenn sie das nicht tun. Derartige Klagen sind nicht verfristet, da die dreiwöchige Klagefrist bei Kündigungsschutzklagen hier nicht anwendbar ist.

Entwarnung kann jedoch bei der Wirksamkeit der Kündigung gegeben werden. Eine gemäß § 622 Abs. 2 S. 2 BGB falsch berechnete Kündigungsfrist hat keine Auswirkung auf die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung. Vielmehr gilt automatisch die richtige Kündigungsfrist. Auch eine Betriebsratsanhörung, in der eine falsche Kündigungsfrist genannt wird, führt nicht zur Unwirksamkeit der Anhörung.

Praxistipp: Die Entscheidung geht weit über die Kündigungsfristenproblematik hinaus und unterstreicht, wie sensibel der EuGH bei Altersdiskriminierungen reagiert. Es ist daher dringend zu empfehlen, bei Sachverhalten, die im Hinblick auf eine Altersdiskriminierung kritisch sein könnten, höchste Vorsicht walten zu lassen.

Weitere Informationen: www.beitenburkhardt.com