Neben Ihrer vielseitigen wissenschaftlichen Arbeit sind Sie auch Science Fiction Autor. Brauchen Sie viel Phantasie für Ihre Romane?
Wenn ich von Labor zu Labor reise und nur die Entwicklung skizziere, die dort tatsächlich stattfindet, glaubt das schon niemand mehr. Diese Szenarien noch um fünf Jahre weiter gedacht sind bereits Science Fiction. Aber es ist keineswegs abwegig, dass es wirklich so kommen könnte. Manche Dinge, die ich vor zwanzig Jahren geschrieben habe und die damals vielleicht absurd erschienen, sind ganz normal geworden. Und das wird wieder passieren.

group of people doing jump shot photography
Foto von Husna Miskandar

Welche Geräte werden die Menschen zukünftig für die Informationsgewinnung einsetzen?
Es gibt viele Alternativen, wie die Geräte der Zukunft aussehen könnten. Beispielsweise existiert bereits der Prototyp einer Brille, die drahtlos mit einem kleinen Computer in Verbindung steht. Der Computer liefert die Bilder und spielt sie über Spiegelchen in der Brille direkt in die Pupille ein. Die neuste Technik erlaubt es auch, einen dreidimensionale Eindruck zu erzeugen, wenn das Bild auf beide Augen trifft und stereoskopisch etwas versetzt eingeblendet wird. Diese Technik wird es ermöglichen, Menschen, die sich an einem anderen Ort befinden, leibhaftig vor sich zu sehen. Die Interaktion wird dadurch insgesamt direkter sein und nicht mehr so isoliert wie heute. Die Zeit, in der alles getippt wird oder gar geschrieben, ist meiner Ansicht nach eine Zwischenzeit. Sie dauert an, solange die Bandbreite der Kanäle noch gering ist.

Wir werden also Ihrer Ansicht nach nicht mehr Schreiben?
Zumindest das Schreiben mit der Hand halte ich für überflüssig. Das ist eine sinnlose Beschäftigung von jungen Menschen. Dass wir noch Blockbuchstaben schreiben können, um im Notfall eine Notiz zu hinterlassen, ist durchaus angebracht. Aber einen längeren Text in Schreibschrift zu schreiben, das gibt es in zwanzig Jahren garantiert nicht mehr. Die Handschrift wird durch die Tastatur oder durch Spracherkennung ersetzt. Schreibschrift zu unterrichten hat nur dann noch einen Sinn, wenn das die beste Methode ist, die Hand-Augen-Koordination zu trainieren. Ich glaube aber, dass das Jonglieren mit drei Bällen hier mindestens genauso gut wäre.

Welche Auswirkungen haben diese technischen Möglichkeiten auf unser Lernen?
Bildungsexperten reden immer wieder darüber, wie man am Besten mit neuen Medien lernt. Das wahre Problem übersehen sie dabei. Die Frage müsste lauten: „Was unterrichten wir zukünftig und wann?“ Weil wir auf unseren Handys, die immer mehr die Funktion von Computern übernehmen, Mengen von Information jederzeit griffbereit haben werden, ist es wirklich fragwürdig, in der Schule und Hochschule noch Fakten zu lernen.

Und was sollen wir dann zukünftig lernen?
Wenn ein Medizinstudent den Reuter auswendig lernt, außerdem ein Buch über Toxikologie und Pharmazie und vielleicht noch zwei Weitere, ist der theoretische Teil der Ausbildung bereits abgedeckt. Solche Grundlagenbücher enthalten viele Details, die die Studenten ohnehin wieder vergessen und später im gegebenen Fall nachschlagen. Außerdem müssen Mediziner, wenn sie ein Medikament verordnen, auch wissen, was die richtige Dosis ist und welche Medikamente negative Wechselwirkungen auslösen können. Und warum soll das jemand lernen? Es reicht zu wissen, dass es ein Mittel für bestimmte Beschwerden existiert. Und wenn der Arzt das in ein solches Gerät eingibt wie die eben beschriebene Brille, dann erhält er eine Vorschlagsliste an Medikamenten für den vorliegenden Fall. Und das gilt natürlich für andere Studiengänge genauso.

Bedeutet das auch, dass wir kaum noch lesen werden?
Die Informationsmengen verdoppeln sich derzeit in weniger als einem Jahr. Das Lesen von großen Informationsmengen wird deshalb weitgehend verschwinden, einfach weil die Menschen nicht die Zeit dazu haben. Einen Goethe, der einen wirklich guten Überblick über alle Gebiete gehabt hat, gibt es heute nicht mehr. Professoren, Forscher oder Wissens-Arbeiter in Unternehmen werden sich in einem kleinen Bereich gut auskennen. In allen anderen Bereichen müssen sie Experten zu Rate ziehen, die in 10 Minuten erklären können, was das wirklich Wichtige eines Themas ist. Heute leben wir in einem Zeitalter der kompletten Arbeitsteilung. An der Einrichtung dieses Zimmers, in dem wir gerade sitzen, haben wahrscheinlich 10.000 verschiedene Spezialisten gearbeitet. Was wir nun erleben, ist der Einstieg der Arbeitsteilung in den Wissensbereich.

Was meinen Sie damit genau?
Wir sind zunehmend auf das Wissen von Wissensmaschinen angewiesen. Angenommen jemand steigt in Frankfurt in einen Flieger nach Toronto und hat keine Ahnung, wie dieser Jumbo gebaut ist und könnte ihn auch nicht fliegen. Trotzdem hat dieser Mensch innerhalb von acht Stunden seinen Standort geändert. Ich glaube, es wird solche Maschinen auch im Wissensbereich geben. Diese Programme, von denen ich leider noch nicht sagen kann, wie sie aussehen werden – denn sonst wäre ich Millionär – werden wir verwenden, ohne zu wissen, wie sie funktionieren. Und dadurch gewinnen wir einen ganz neuen Blickwinkel auf die Welt.

Apropos neuer Blickwinkel auf die Welt: Der Juraprofessor Lawrence Lessing hat in Second Life einen Hörsaal eröffnet, in dem er seine Vorlesungen hält. Sind virtuelle Welten die Unterrichtsräume der Zukunft?
Ich halte virtuelle Welten eher für einen Zeitvertreib. Ob jemand seine Zeit in Second Life verbringt oder sie etwa beim Fußballschauen totschlägt – das läuft für mich auf das Gleiche hinaus. Andererseits sehe ich keinen Grund, warum ich dort nicht auch einmal Kurse abhalten sollte. Doch der Hype ist nicht gerechtfertigt. Die Zeitungen und Medien überschlagen sich zu dem Thema und behaupten, dass dort schon 2,5 bis 3 Millionen Menschen mitmachen. Wir aber haben uns eingehackt: Es sind nur 10 Prozent davon, also ein paar Hunderttausend. Linden Lab, die Firma, die Second Life betreibt, zählt völlig willkürlich. Wenn einmal jemand die Seite aufruft, gilt er schon als aktives Mitglied. Mitmachen heißt für mich aber, dass jemand sich regelmäßig dort aufhält. Obwohl die Zahlen also viel kleiner sind als allgemein angenommen, sind sie durchaus substanziell. Ich glaube, dass virtuelle Welten in irgendeiner Form zukünftig von großer Bedeutung sein werden. Neben Second Life gibt es jedoch bestimmt 20 ähnliche Produkte.

Ist das Thema Web 2.0 auch ein Hype oder verändert es tatsächlich unsere Aneignung von Wissen?
Für mich ist es wie gesagt zweitrangig, in welcher Form sich die Menschen Wissen aneignen. Das E-Learning in der traditionellen Form, bei dem sich jemand Antworten auf seine Fragen herunterladen kann und dazu ein gewisses Coaching bekommt – das wird überschätzt seit fast 40 Jahren. Die ersten Versuche wurden in den 60er Jahren in den Vereinigten Staaten am System PLATO durchgeführt und schon damals hat die Methode nicht den erwarteten Erfolg gebracht. Und das gilt bis heute. Auf der anderen Seite hat natürlich das Web 2.0, das sicherlich ein Schlagwort ist, schon einen positiven Effekt: die Kollaboration. Wir werden als Menschen einfach nicht in der Lage sein, alles, was wir wissen sollten und müssten, selbst zu erarbeiten. Wir werden auf das Wissen von anderen Menschen angewiesen sein.

Wie können wir gewährleisten, dass wir immer die richtigen Menschen fragen können?
Ich glaube, dass es Netzwerke sind, die uns Menschen zusammenbringen. Wir sind im Grunde ein großer Ameisenhaufen. Mir ist bewusst, dass diese Sichtweise vereinfacht und deshalb angreifbar ist. Doch wir können ohne andere Menschen nicht überleben und deshalb bin ich überzeugt, dass die Menschen keine Individuen mehr sind. Die Einzellebewesen sind meiner Meinung nach schon längst ersetzt worden durch ein Wesen mit dem Namen Menschheit.

Interview: Stefanie Hornung

Informationen zur XPERTEN-Reihe, in der auch die Romanen von Hermann Maurer erscheinen, finden Sie hier.