Wie funktioniert selbstgesteuertes und arbeitsintegriertes Lernen? Über die Frage spricht Peter Dehnbostel, Professor für Berufliche Weiterbildung und Betriebliches Bildungsmanagement an der TU Dortmund sowie den Universitäten Odenburg und Erlangen-Nürnberg, mit Daniel Stoller-Schai, Weiterbildungsexperte und Head Advisory Board der LEARNING INNOVATION Conference.

Peter Dehnbostel Arbeiten und Lernen integrieren
Prof. Peter Dehnbostel

Sehr geehrter Hr. Prof. Dr. Dehnbostel, wir möchten von Ihnen als Wissenschaftler und Experte für betriebliche Weiterbildung und betriebliches Bildungsmanagement gerne wissen, was Sie unter «Learning Innovation» verstehen?

Der Begriff «Learning Innovation» ist für mich mit einer bereits in den 1970er-/1980er-Jahren einsetzenden betrieblichen Entwicklung verbunden: Neue Arbeits- und Organisationskonzepte kamen auf und gingen mit der Ablösung der herkömmlichen Industriegesellschaft einher. Die zugleich mit dem Einsatz von Mikroelektronik, neuen Technologien und digitalen Medien erfolgende Digitalisierung der Arbeit nimmt seitdem stetig zu. Unter dem Label «Industrie 4.0» und «Arbeit 4.0» dominiert sie als digitale Transformation in den letzten Jahren die Entwicklung der Wirtschafts- und Arbeitswelt.

In Debatten über die Stärke anstehender Innovationen wurde zwischen inkrementellen und radikalen Innovationen unterschieden. Die Innovationsforschung verband die betrieblichen Umbrüche aufgrund der sich abzeichnenden Digitalisierung von vornherein mit einer grundlegenden Einbeziehung des Lernens in und bei der Arbeit. Neue Lernformate und -optionen wie «Renaissance des Lernens in der Arbeit», «Lernen im Prozess der Arbeit», «organisationales Lernen», «selbstgesteuertes Lernen», «informelles Lernen» und «E-Learning» zeigen dies an. Organisationstheoretisch und -praktisch entstanden im Rahmen innovativer Restrukturierungen neue Unternehmens- und Arbeitskonzepte wie «Lernendes Unternehmen», «Lean Production», «Fraktale Fabrik» und «Total Quality Management». In diesen Konzepten kommen Lernen und innovative Restrukturierungen von Arbeits- und Organisationskonzepten zur Synthese. «Learning Innovation» kennzeichnet genau diesen Ansatz der die Arbeitswelt epochal verändernden Arbeits- und Organisationsentwicklung.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung hat sich diese Entwicklung nicht nur bestätigt, sondern die auch als «Smart Factory» und als «Internet der Dinge und Dienste» bezeichnete neue industrielle Entwicklungsstufe forciert den Prozess des Learning Innovation. Mit der Digitalisierung der Arbeitswelt wird der Prozess-, Reflexions- und Lerncharakter betrieblicher Arbeit zur Normalität. Hier liegt auch der gravierende Unterschied zur Arbeitswelt in der Moderne, in der taylorisierte und repetitive Arbeitsprozesse unter explizitem Ausschluss von Ungewissheits-, Selbststeuerungs- und Lernsituationen geplant und angeordnet wurden. Digitale Arbeit bietet gewachsene Lernmöglichkeiten, sie fordert arbeitsintegriertes Lernen. Arbeiten und Lernen werden – grösstenteils als informelles Lernen – unmittelbar im Arbeitsprozess verbunden. Lernen in der Arbeit mit digitalen Medien und digitalen Technologien wird zu einem konstitutiven Bestandteil digitalisierter Arbeit.

Diese Zusammenführung von Arbeiten und Lernen ist sicherlich ein Meilenstein in der Geschichte neuzeitlicher Qualifizierung und betrieblicher Bildung. Damit ist aber nicht per se eine erhöhte Effektivität und Effizienz der Arbeit verbunden, nicht per se sind damit Lernhürden und -hemmnisse in der Arbeit beseitigt. Denn informelles Lernen in der Arbeit unterliegt der Logik von Arbeitsprozessen und ist zumeist abhängig, erfahrungsverengt, zufällig und beliebig. Von daher ist die Arbeit gezielt lern- und kompetenzförderlich zu gestalten, im Rahmen der betrieblichen Bildungsarbeit sind Arbeiten und Lernen gezielt zusammen zu bringen.

Sie nennen als ein Charakteristikum der digitalisierten Arbeit die gewachsenen Lernmöglichkeiten und fordern ein arbeitsintegriertes Lernen. Können Sie das an einem konkreten Beispiel ausführen?

Dazu zwei Beispiele: Berufsbiografisch habe ich in der Ausbildung bei Siemens an herkömmlichen Werkzeugmaschinen gearbeitet. In den 1990er-Jahren habe ich dann CNC-Werkzeugmaschinen kennengelernt. Der zuvor über die herkömmlichen Sinne des Sehens, Hörens, Riechens und Tastens erfahrbare Arbeitsprozess verschwand ebenso hinter dem Bildschirm wie die manuelle Steuerung und die Qualitätskontrolle. Stattdessen haben wir nun eine fachlich durch Programmier-, Steuerungs- und Systemkenntnisse gekennzeichnete digitale CNC-Arbeit, die in ihrer Anwendung mit immer neuen Lernprozessen verbunden ist.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Polarisierungsthese in der Debatte über Entwicklung digitaler Arbeit. In der Branche des E-Commerce gilt die Kommissionierung in Logistikzentren als deutlicher Ausdruck der Polarisierung, also des Aufkommens einfacher, nicht lernhaltiger Arbeit in hochentwickelten digitalen Prozessen. Betrachtet man die derzeitigen Amazon Logistikzentren scheint dieses zuzutreffen – mit Bezug darauf ist auch von der «Amazonisierung der Industriearbeit» die Rede. Wirft man aber einen Blick auf die Kommissionsarbeit des im November 2018 in Köln errichteten «Food Fulfillment Center 2.0» der REWE-Group, dann ergibt sich ein anderes Bild. Hier bleiben nach Abbau aller manuellen Kommissionierungstätigkeiten nur noch lernhaltige digitale Steuerungs- und Controllingarbeiten übrig.

Zurück zu Ihrer Frage: Meine Aussage besteht zusammengefasst darin, dass digitale Arbeit arbeitsintegriertes Lernen fordert bzw. nach sich zieht. Lernen, zumeist informelles Lernen, ist generell Bestandteil digitaler Arbeit.

Vielen Dank für diese Ausführungen. Was sind für Sie vor diesem Hintergrund die Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?

Diese komplexe Frage ist am besten mit differenziertem Bezug auf die Makro-, die Meso- und die Mikroebene zu beantworten. Auf der Makroebene sind die auf Lernen und Arbeiten gerichteten Ziele und Strategien im Kontext von nationalen und internationalen Regelungen, Vereinbarungen und Programmen verortet. Das geht von nationalen Gesetzen wie dem Berufsbildungsgesetz in der Schweiz über nationale Validierungsstellen und Regelungen zur Einordnung betrieblich erworbener Kompetenzen in Qualifikationsrahmen bis hin zur Beteiligung an internationalen Organisationen wie der ILO und UNESCO.

Die Mesoebene der Organisation vermittelt zwischen den übergeordneten Strukturen zum Lernen und Arbeiten der Makroebene und den betrieblichen Handlungen und Kompetenzentwicklungen der Mikroebene. Ihr liegen übergreifende Konzepte wie das betriebliche Bildungsmanagement und die betriebliche Bildungsarbeit einschliesslich der Berufs- und Weiterbildung sowie der Personal- und Organisationsentwicklung zugrunde. Langfristige strategische Ziele der betrieblichen Bildung und Qualifizierung sind hier ebenso fixiert wie normative Festlegungen, etwa zur Unternehmenskultur und zum Kompetenzbegriff. Die strategische, organisationale und operative Ausrichtung von Lernen und Arbeiten wird hierüber gerahmt, das Verhältnis von Lernen und Arbeiten zueinander abgesteckt.

Auf der Mikroebene sind die konkreten betrieblichen Qualifizierungs- und Berufsbildungsmassnahmen im Rahmen der betrieblichen Bildungsarbeit angesiedelt. Dabei geht es um die Gesamtheit aller auf Individuen, Gruppen und die Organisation bezogenen Lern- und Qualifizierungsprozesse, die unmittelbar im Betrieb stattfinden oder von diesem durchgeführt, veranlasst oder verantwortet werden. Zur Mikroebene zählen der Einsatz von Personalentwicklungsinstrumenten wie Coaching, Qualifizierungsbedarfsanalysen und Validierungsverfahren ebenso wie Aus- und Weiterbildungsmassnahmen sowie die Durchsetzung innovativer Führungskonzepte. Die Beteiligung an staatlich, privatwirtschaftlich oder über Stiftungen finanzierten Programmen und Projekten zur Zukunft von Arbeiten und Lernen in der digitalen Arbeitswelt verzahnt die Massnahmen und Instrumente besonders im Hinblick auf die Makroebene und bettet sie in Konzepte der Mesoebene ein. Den Programmen und Projekten kommt eine wichtige Innovations- und Transformationsfunktion zu.

Ich kann mich erinnern, dass ich damals im Gymnasium zu Beginn einen Semesterkurs Lerntechnik besucht habe – auf Anraten meines Vaters; von mir aus hätte ich das wohl nicht gemacht. Wenn ich heute sehe, wie viele neue Lern- und Wissensquellen in Unternehmen zur Verfügung stehen (innerbetriebliche Kurse und Lerninhalte; Lernmöglichkeiten zu jeder Zeit und an jedem Ort), frage ich mich, ob es auf der Mikroebene nicht eine zentrale Aufgabe ist, die Selbst-Lernkultur der Mitarbeitenden zu fördern und zu unterstützen, damit ein effektives Lernen im Prozess der Arbeit stattfindet. Wie sehen Sie das? Braucht es da konkrete didaktische und methodische Unterstützung oder ergibt sich das von selber?

Sie haben vollkommen recht, das selbstgesteuerte Lernen und die Fähigkeit dazu sind in digitalisierten Arbeitsprozessen notwendig und unerlässlich. Selbstgesteuertes Lernen ist ebenso wie das E-Learning und das organisationale Lernen systematisch in der Arbeit zu verankern. Diese Lernkonzepte sind mit der Mesoebene verbunden, sie sind Teil der Learning Innovation und beziehen sich auf einzelne Mitarbeiter/innen und auf Gruppen. Deren Lernkultur ist natürlich für die Stärke und Wirkung des Lernens wichtig, sie hängt aber wesentlich von der übergeordneten betrieblichen Lernkultur und der betrieblichen Unternehmenskultur ab. Sie sind im Zusammenhang zu sehen und in der betrieblichen Personalentwicklung zu fördern.

Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?

Um im Drei-Ebenen-Bild zu bleiben: Auf der Mikroebene, der operativen Ebene, geht es um die Implementierung von Lernkonzepten und Methoden. Dabei steht an erster Stelle das E-Learning mit bestimmten Varianten und Formen wie WBT, Blended Learning, Webinare, Wikis und Game Based Learning – um nur wenige zu nennen. E-Learning-Formen sind branchen- und betriebsspezifisch auszuwählen, methodisch zu fundieren und umzusetzen. Zusätzlich zu Lernkonzepten sind Lernbegleitungen in den Blick zu nehmen. Lernbegleitungen in der Arbeit werden zunehmend notwendig. Sie können von Learning Professionals, von Coaches, Aus- und Weiterbildnern, Mentoren oder sonstigem Bildungspersonal vorgenommen werden.

Eine weitere unmittelbar anstehende Umsetzungsebene sind Arbeiten und Lernen verbindende Lernorganisationsformen wie Communities of Practice, Online-Communities, Lerninseln und Lernfabriken. Diese Lernorganisationsformen sind gleichfalls mit den Anforderungen restrukturierter Organisationen und der Digitalisierung aufgekommen. Sie verbinden Arbeiten und Lernen systematisch und schaffen neue Lernräume inmitten der Arbeit. Ihnen kommt für die Verbindung von der physischen mit der virtuellen Arbeitswelt, für die «Mixed» oder «Augmented Reality» eine herausragende Bedeutung zu.

In der betrieblichen Praxis sind diese drei Lernformen – Lernkonzepte, Lernbegleitungsformen und Lernorganisationsformen – sicherlich nur in Ausnahmefällen mit übergeordneten Konzept- und Ordnungsbestimmungen der Meso- und Makroebene verzahnt. Mit einer konzeptionell ausgewiesenen betrieblichen Bildungsarbeit und einem Bildungsmanagement stehen wir erst am Anfang der Entwicklung. Für das Gros der Klein- und Mittelbetriebe wird eine strukturierte und wissenschaftlich abgesicherte Steuerung und Gestaltung der Learning Innovation ohnehin nur über eine professionelle Beratung und Begleitung von aussen erfolgen können. Zwingend not-wendig ist aber, dass Lerninnovationen in die real stattfindende, mehr oder weniger profilierte, Personal- und Organisationsentwicklung eines jeden Betriebes einfliessen.

Was fordert Sie aktuell heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Meine Arbeitsschwerpunkte bestehen in der betriebliche Bildungsarbeit und der betrieblichen Weiterbildung. Dabei sind Forschung und Entwicklung im Sinne einer Verwendungs- und Anwendungsforschung systematisch verbunden. Die Begleitung betrieblicher Modellvorhaben ist für mich ein wesentliches Arbeitsfeld. Hier verändern sich mit der Digitalisierung die Kontexte von Lernen und Arbeiten in Theorie und Praxis grundlegend. Die angesprochenen Lernformen sind ein Beispiel dafür, zugleich ein Beispiel dafür, wie die Praxis der Theorie vorauseilt. Wir stehen mit den Learning Innovation am Anfang einer epochalen Entwicklung, die für die Arbeits- und Lebenswelt nicht weniger prägend sein wird als die ersten beiden industriellen Revolutionen.

Sehr geehrter Hr. Dehnbostel, vielen Dank für diese ausführlichen Ausführungen auf das Thema «Learning Innovation» aus einer wissenschaftlichen und universitären Perspektive.

Interview: Daniel Stoller-Schai

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband "10 Jahre Learning Innovation Conference - 22 Interviews". Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.
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