Peter Gloor forscht am Center for Collective Intelligence des MIT (Boston) über Schwarmintelligenz und kollaborative Innovationsnetzwerke und ist Honorarprofessor an der Universität Köln sowie der Jilin University, Changchun, China. Vor 2002 war er in leitenden Positionen bei Deloitte Consulting, PricewaterhouseCoopers und der UBS tätig. Er promovierte in Informatik an der Universität Zürich und war Postdoc am MIT Laboratory for Computer Science. Seine beiden neuesten Bücher sind «Swarm Leadership» und «Sociometrics». Im Interview mit dem Weiterbildungsexperten Daniel Stoller-Schai spricht er über Lerninnovationen und künstliche Intelligenz.

Lieber Peter, du bist seit vielen Jahren mit innovativen Themen unterwegs, über die wir später noch sprechen werden. Wir starten aber mit einer ganz allgemeinen Frage: Was ist für dich «Learning Innovation»?
Innovation endet ja nie und ich nehme an, deine Frage zielt darauf ab, was sind die Innovationen im Bereich Lernen in den letzten 10 Jahren und da stelle ich ganz grundsätzlich fest: es gibt eigentlich nichts Neues. Gute Ideen waren immer schon da; wir können zu Aristoteles und Plato zurückgehen – den sokratischen Dialog hat Plato erfunden, als er Sokrates transkribiert hat und für mich sind z. B. auch die Montessori-Prinzipien etwas, was wir noch lange nicht vollumfänglich umgesetzt haben. Aus meiner Sicht, müsste sich jede Schweizer Grundschule umstrukturieren in diese Richtung. Es gibt auch Erfolgsmessungen dazu: Marc Zuckerberg Larry Page, Sergey Brin etc. alle sind in eine Montessori-Schule gegangen – das bedeutet schon was. Kreativität ist ja mein Thema, das ich seit langer Zeit studiere und ich beobachte auch meine Kinder und dass sie heute noch kreativ sind, ist nicht der Verdienst des Schweizer Schulsystems.
Die Zukunft des Lernens besteht darin, alles zur Verfügung stellen und dann den Lernenden die Hilfestellungen zu leisten, um das alles möglichst sinnvoll zu verwenden. Es gibt einige Leute, die haben das Talent, hervorragend zu erklären, und warum soll man so etwas nicht allen in Form von Aufzeichnungen – wie bei der Khan-Academy – zur Verfügung stellen und die Lehrperson hilft dann individuell, dies möglichst sinnvoll einzusetzen. Auf der technologischen Seite können also Video Learning und MOOCs eingesetzt werden und auf der didaktischen Seite sind es die Ansätze von Maria Montessori oder Prof. Dr. Sugata Mitra mit dem Prinzip der «Minimally Invasive Education», der ja auch schon Speaker an der Swiss eLearning Conference war.
Solche Ansätze haben wir noch lange nicht ausgereizt. Ein weiterer Punkt: ich beschäftige mich sehr mit der Kindersterblichkeit in den USA und da spielen Early Childhood Traumas eine wichtige Rolle. Die Kindersterblichkeit ist so niedrig, wie fast in keinem anderen entwickelten Land – wenn man aber die Menschen in den Innerstädten betrachtet, dann ist die Kindersterblichkeit dort in etwa so schlimm wie in Malawi und Ruanda. Der Grund liegt in der mangelnden Unterstützung. Es gab von Obama eine grosse Initiative, die «Infant Mortality CoIIN» (Collaborative Improvement and Innovation Networks) – das war «by the way» mein grösster Erfolg als Erfinder von COINs – und das Ziel war es, während den ersten drei Jahre eines Kindes möglichst viel Hilfestellungen zu leisten.
Die Forschung zeigt, dass positive Unterstützung in dieser Phase die Grundlage legt für die nächsten 70 – 80 Jahre. Dies sind ganz einfache Dinge – du kennst vielleicht den «30 Million Word Gap»: erfolgreiche Kinder haben in ihren ersten drei Lebensjahren 30 Millionen mehr Worte gehört, als Kinder, die eben nicht erfolgreich waren. Die letzteren Kinder waren mehrheitlich aus einem Inner-City-Milieu. Es kommt hinzu, dass bei den 30 Millionen Worten, die die erfolgreichen Kinder mehr gehört haben, jeweils 6 positive Worte auf nur 1 negatives oder kritisches Wort gekommen sind. Um das zu erreichen, braucht man kein High-Tech. High-Tech kann man brauchen, um das Wissen dazu zu verbreiten und das ist das, was wir mit dieser Infant Mortality CoIIN machen. Wir editieren dazu auch entsprechende Wikipedia-Seiten – so quasi als «Grassroot-Movement» – um das Bewusstsein für Frühkind-Erziehung zu stärken und das Vermeiden von traumatischen Schockerlebnissen zu verhindern.
Nach dieser umfassenden Betrachtung der Grundlagen von Lerninnovation würde es mich interessieren, was für dich die Herausforderungen und Ziele – oder Strategien – im Bereich Lernen und Arbeiten in Betrieben sind. Wohin geht da die Richtung in Bezug auf neue Lernformen und -formate?
Wir arbeiten viel in der Finanzindustrie und mit Hightech-Firmen und da sehen wir, dass vermehrt Augmented Reality Technologien – und da kommt auch unser «Happimeter» zum Einsatz – in der Ausbildung eingesetzt werden. Zum einen in der Flugzeugindustrie bei Reparaturarbeiten, wo das Manual schon in der Brille eingeblendet wird – das ist unterdessen eigentlich schon Standard; zum anderen aber auch im Bereich Storytelling, wo wir versuchen, Wissensvermittlung mit Emotionen zu verknüpfen. Mit dem «Happimeter» und anderen Tools messen wir Emotionen und versuchen, den Lernenden ihre Emotionen aufzuzeigen, um so den Wissenserwerb und das Speichern und Behalten von Wissen zu optimieren.
Werden die Lernenden in Bezug auf ihre Emotionen kompetenter, wenn sie den «Happimeter» einsetzen?
Ich würde das bejahen. Ich bezeichne dies als «Heisenberg-Prinzip»: Wenn du dir dessen bewusst bist, wie ich reagiere und wie ich auf andere reagiere, dann hilft mir dies, emotional kompetenter zu werden. Ich habe das selber festgestellt und versuche dieses Wissen auch vorsichtig weiterzugeben; also ich teile anderen mit, ob sie mich glücklich oder unglücklich machen.
Ein anderes Stichwort, das aktuell den Bildungsdiskurs prägt, ist die Zunahme der Künstlichen Intelligenz. Wie sieht da der Forschungsstand am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge USA)?
Wir wenden dies ganz intensiv an. Alles, was ich im Bereich COINs, Happimeter, Social Network Analysis etc. mache, ist AI (Artificial Intelligence). Auch das ist eigentlich nichts Neues: die massgebenden Algorithmen für Deep Learning haben Rummelhart, McCarthy und Minsky schon in den 60-70er-Jahren entwickelt. Es gab Eliza, einen Chat-Bot, der von Joseph Weizenbaum entwickelt wurde; der grosse Unterschied: die Computer sind generell viel schneller geworden und können mehr speichern und damit schlägt man mittlerweile das menschliche Gehirn – zumindest für einfache Aufgaben.
Wenn eigentlich schon alles da ist und wir auch über die entsprechende Rechenpower verfügen, dann stellt sich die Frage, was Betriebe und Organisationen konkret tun müssen, um Lerninnovationen zu fördern?
Ganz provokativ: Ein «Anti-Trump» werden :-) Er ist für mich in drei Dingen das Gegenprogramm zu innovativem Lernen: es braucht Compassion (Mitgefühl), Curiosity (Neugier) und Humility (Bescheidenheit). Das sind für mich die drei wichtigsten Werte. Wenn diese nicht vorhanden ist, dann wird Lernen nicht gefördert – wenn ein Unternehmen diese drei Werte lebt, dann funktioniert’s. Ich lese aktuell gerade die Biographie von Jack Ma, dem Gründer von Alibaba; er versucht genau diese drei Werte zu leben und hat damit eines der grössten chinesischen Unternehmen aufgebaut.
Das sind drei komplett untechnische Werte …
Ja, das sind absolut untechnische Werte, aber – und nun kommen wir wieder zum Happimeter – mit ihm kann man sie unterstützen. Diese Geräte können auf der Basis von Körpersignalen Korrelationen feststellen: «Wenn ich dir mehr in die Augen schaue, vertraue ich dir mehr».
Wenn ich so einen Happimeter einsetze und weiß, wie er funktioniert, besteht dann nicht die Gefahr, dass ich ihn auch missbrauchen könnte?
Tja, da stellt sich die Frage: was ist Manipulation, was ist Missbrauch? Wenn ich versuche, Menschen in Bezug auf die drei genannten Werte menschlicher zu machen, dann habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich sie in diese Richtung «manipuliere». Unsere Software gibt dir eigentlich nur einen virtuellen Spiegel deines Kommunikationsverhaltens.
Gut, damit kommen wir zur abschliessenden Frage. Was fordert dich aktuell heraus – in Bezug auf das Thema «Lernen» und mit was willst du dich in den nächsten Jahren beschäftigen?
Für mich ist es vor allem das Thema «Kommunikation». Ein Mensch in Isolation gibt es nicht. Mich beschäftigt darum die Frage: Wie kann ich Kommunikation so gestalten, dass es uns allen besser geht? Das betrifft zum einen den Zusammenhang zwischen Wissensvermittlung und Emotionen und zum anderen zwischen Emotionen und Kommunikation. Wenn du in eine Physikstunde gehst und da werden dir Formeln an den Kopf geworfen, dann ist das verschwendete Zeit. Wenn du das aber irgendwie mit dir persönlich emotional verknüpfen kannst, dann findet ein ganz anderer Lernprozess statt.
Ein anderes Gebiet, das mich interessiert, ist die sog. «Interspecies-Communication». In meiner Familie waren und sind wir alle pferde- und hundebegeistert und wir bauen im Moment «Augmented-Reality-Glasses», die dein Gesicht auswerten und dich dann kennzeichnen («labeln») in Bezug auf deine Emotionen. Das gleiche versuchen wir nun mit dem Gesichtsausdruck und der Körpersprache von Tieren – damit kannst du dann quasi die «Gedanken» des Tieres lesen und verstehen.
Stehen dahinter auch kommerzielle Interessen?
Das hat ein sehr großes kommerzielles Interesse. Wenn du dies in eine Augmented-Reality-Brille integrieren kannst, dann hilft dies zum Beispiel jedem Autisten und wird so zu einem echten Trainingsgerät.
Vielen Dank für diesen breiten Fächer an Themen, die wir hier entfalten konnten. Ich wünsche Dir viel Erfolg mit all deinen Projekten und Forschungsinteressen.
Interview: Daniel Stoller-Schai, Head Advisory Board LEARNING INNOVATION Conference
Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband "10 Jahre Learning Innovation Conference - 22 Interviews". Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.
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