KONSEQUENZEN

Bereits in der Entscheidung Kommission/Deutschland vom 14.4.2005 (C-341/02) klärte der EuGH die grundsätzliche Frage, wann Vergütungsbestandteile auf den Mindestlohn anrechenbar sind. Grundlage der Entscheidung ist das bereits erwähnte Kriterium der funktionalen Äquivalenz. Erstmals hat er aber nun dazu Stellung genommen, ob Vergütungsbestandteile auf einen Mindestlohn anrechenbar sein können, wenn das Unternehmen sie außerhalb des Zeitraums zahlt, für den sie die Leistung der Arbeitnehmer entgelten sollen. Zwar hat der EuGH die grundsätzliche Anrechnungsmöglichkeit solcher Sonderzahlungen bejaht. Dennoch ist Vorsicht geboten. Denn in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall leistete die Arbeitgeberin die Einmalzahlungen jeweils zu Beginn des Bezugszeitraums. Derartige Vorabzahlungen sind nach der Entscheidung auf den Mindestlohn anrechenbar, sofern die Arbeitgeberin sie für die Normalleistung des Mitarbeiters zahlt.

Von aktuellem Interesse ist die Entscheidung, weil sie auf die parallele Problematik bei dem seit dem 1.1.2015 geltenden Mindestlohn übertragbar ist. Der Mindestlohn nach §§ 1, 20 MiLoG stellt einen Mindestentgeltsatz nach § 2 Nr. 1 AEntG dar, so dass die (europarechtliche) Rechtsprechung zu Mindestentgeltsätzen auch im Bereich des MiLoG zu beachten ist.

Die europarechtliche Rechtsprechung zur Anrechnung von Vergütungsbestandteilen auf den Mindestlohn führt dazu, dass jede Arbeitgeberleistung, die ein „Mehr“ an Arbeit oder eine „höherwertige“ Arbeit entlohnt, nicht auf den Mindestlohn anrechenbar ist (z. B. Überstundenzuschläge, Akkordprämien, Qualitätsprämien etc.). Auch bleiben Zusatzvergütungen außer Betracht, die voraussetzen, dass der Arbeitnehmer

>> zu besonderen Zeiten (z. B. Zulagen/Zuschläge für Sonn- und
     Feiertagsarbeit, Nachtzuschläge etc.) oder

>> unter besonderen Bedingungen (z. B. Schmutzzulage) arbeitet.

Etwas Anderes kann sich allerdings dann ergeben, wenn es sich dabei eben um die vertraglich geschuldete Normalleistung handelt. Denkbar ist, dass durch geschickte Vertragsgestaltung bestimmte Zulagen und Zuschläge mindestlohnrelevant „gemacht werden“ können. Dies könnte durch Konkretisierung der vertraglich geschuldeten Normalleistung im Vertragstext selbst erfolgen. Wenn nämlich bspw. die Arbeit unter erhöhter Belastung durch Staub, Schmutz etc. als Normalleistung vertraglich festgehalten worden ist, dann spricht einiges dafür, dass eine Schmutzzulage auf den Mindestlohn anrechenbar ist. Inwieweit die Gerichte solche Vertragsgestaltungen akzeptieren, wird zu den spannenden Fragen der nächsten Zeit gehören.

Bei Einmalzahlungen ist insbesondere zu beachten, dass aufgrund der in § 2 MiLoG enthaltenen Fälligkeitsregelung Vergütungsbestandteile nur dann auf den Mindestlohn anrechenbar

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sind, wenn das Unternehmen sie jeweils zu dem für den Mindestlohn maßgeblichen Fälligkeitsdatum tatsächlich und unwiderruflich auszahlt. Eine Vorab-Zahlung einer Einmalzahlung wäre mindestlohnrelevant. Eine nachträgliche Zahlung z. B. von Weihnachtsgeld bleibt dagegen nur im Zahlungsmonat und u. U. im Vormonat berücksichtigungsfähig.

PRAXISTIPP

Arbeitgebern, die nur durch Zahlung einer Einmalzahlung im Jahresdurchschnitt den Mindestlohn zahlen, bleibt daher nichts Anderes übrig, als diese in jedem Monat anteilig zur Auszahlung zu bringen. Will man bisher gezahlte Zulagen/Zuschläge in die Grundvergütung integrieren, sollte man eine einvernehmliche Lösung mit seinem Arbeitnehmer anstreben, da die Vergütungsumstrukturierung einseitig nur schwer durchsetzbar ist.

Foto: I-vista | pixelio.de Quelle:
Arbeit und Arbeitsrecht | Ausgabe 11 – 2015 | 
www.arbeit-und-arbeitsrecht.de

ENTSCHEIDUNG

Nach der Auslegung des BAG handelte es sich bei den beiden Einmalzahlungen jeweils um antizipierte Tariferhöhungen für den Zeitraum Juli bis Dezember 2007 und Januar bis März 2008. Auf der Grundlage dieser Auslegung entschied der EuGH, dass Einmalzahlungen auf den Mindestlohn anrechenbar sein können. Voraussetzung für eine Anrechnung von Einmalzahlungen ist, dass sie das Verhältnis zwischen der vertraglich vereinbarten Leistung des Arbeitnehmers (Normalleistung) auf der einen und der ihm hierfür erbrachten Gegenleistung auf der anderen Seite nicht verändern. Einmalzahlung und Grundlohn müssen daher funktional gleichwertig sein (Grundsatz der funktionalen Äquivalenz). Vereinfacht: Entlohnt ein Unternehmen die vertraglich vereinbarte Normalleistung seines Mitarbeiters sowohl mit dem Grundlohn als auch mit Einmalzahlungen, sind diese auf den Mindestlohn anrechenbar. Etwas Anderes gilt dann, wenn mit den weiteren Vergütungsbestandteilen in das vertragliche Äquivalenzgefüge eingegriffen wird. Dies ist dann der Fall, wenn damit nicht die vertraglich geschuldete Normaltätigkeit abgegolten wird, sondern eine „Mehrleistung“.

Für die Frage der Anrechenbarkeit ist es nach Auffassung des EuGH dagegen grundsätzlich unerheblich, ob die Zahlungen innerhalb oder außerhalb des Zeitraums erfolgen, für den sie die Leistung der betreffenden Beschäftigten entgelten sollen. Vermögenswirksame Leistungen sollen dagegen nicht auf den Mindestlohn anrechenbar sein. Sie unterscheiden sich vom Lohn im eigentlichen Sinne, da sie der Verwirklichung eines sozialpolitischen Ziels dienen.

PROBLEMPUNKT

Der Kläger war als Gebäudereiniger tätig. Zum 1.7.2007 wurde die Branche der Gebäudereinigung in das AEntG aufgenommen. Bis Ende Februar 2008 bestand für diesen Bereich ein für allgemein verbindlich erklärter Lohntarifvertrag, ab 1.3.2008 galt der TV Mindestlohn Gebäudereinigung. Das Unternehmen zahlte dem Kläger eine Stundenvergütung, die unterhalb des Stundenlohns dieser beiden Tarifverträge lag. Im Rahmen von Tarifvertragsverhandlungen verpflichtete es sich aber für den Zeitraum zwischen dem 1.7.2007 und dem 31.3.2008 zur Zahlung von zwei Pauschalbeträgen.

Es zahlte mit dem Entgelt für August 2007 600 Euro und mit dem Entgelt für Januar 2008 weitere 150 Euro. Zudem gewährte die Arbeitgeberin vermögenswirksame Leistungen. Unter Berücksichtigung dieser Sonderzahlungen lag der Stundenlohn über der tariflichen (Mindest-)Vergütung. Der Kläger war der Auffassung, diese Zahlungen seien nicht auf den Mindestlohn anrechenbar und machte Differenzlohnvergütung geltend.