Herausforderungen angesichts
der Zukunftsvision Industrie 4.0
Einige zentrale Herausforderungen in den Bereichen Arbeitsorganisation
und Personalmanagement zeichnen sich schon heute ab:
1. Industrie 4.0 als Verantwortung des Top-Managements
Der technologische Wandel ist einer der großen Treiber der Arbeitswelt, weshalb technologische Änderungen auch in strategische Überlegungen einfließen sollten.
2. Security als zentrale Anforderung
Durch die starke Vernetzung der Produktionsanlagen, auch über Organisationsgrenzen hinweg, steigt die Anforderung, Sicherheit umfassend zu denken. Im Jahr 2014 wurde zum Beispiel erstmals ein deutsches Stahlwerk durch einen Cyber-Angriff lahmgelegt. Das Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Offenheit für unternehmensübergreifende Netzwerke und den gleichzeitig wachsenden Sicherheitsanforderungen gilt es auszutarieren.
3. Neue Marktteilnehmer
Da eine vollständig vernetzte Produktion neue Regeln und Marktmechanismen mit sich bringt, ist davon auszugehen, dass sich neue Marktteilnehmer um angestammte Märkte bemühen. Was bedeutet es zum Beispiel für Automobilhersteller, wenn ein globaler Internetkonzern versucht, voll vernetzte, autonome Fahrzeuge zu produzieren?
4. Personal und Organisation
In dem Maße, wie sich ein Szenario durchsetzt, das menschliche Arbeit nicht zu eliminieren versucht, sondern aktiv nutzt und in Richtung einer Spezialisierung geht, stellen die neuen technologischen Möglichkeiten das Personal und die Organisation vor große Herausforderungen:
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Die Qualifikationsniveaus dürften sich eher erhöhen und es wären neue Qualifikationen gefordert. Wenn Maschinen einfache Routineaufgaben übernehmen, braucht die Wirtschaft mehr qualifizierte Menschen, die diese Maschinen konstruieren, bauen, programmieren und warten.
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Durch die stärkere betriebliche und überbetriebliche Vernetzung würden die Abstimmungsbedarfe und Interaktionsmöglichkeiten erweitert. Die Notwendigkeit einer besseren Zusammenarbeit über Hierarchien, Abteilungs- und Betriebsgrenzen hinweg wäre die Folge.
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Eine erweiterte Zusammenarbeit würde von gleichmäßiger verteilten Qualifikationen profitieren. Nur das würde eine gemeinsame Sprache und eine bessere Verständigung ermöglichen.
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Die vollständige Vernetzung würde eine Kombination aus zentraler und dezentraler Koordination erfordern, da es für zentrale Instanzen allein kaum möglich wäre, die Komplexität des Gesamtsystems zu beherrschen.
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Planungsprozesse müssten in höherem Maße auf die Erfahrungen und das Know-how der Mitarbeiter zurückgreifen und zugleich systematischer, integrativer und transparenter erfolgen. Beteiligung und Mitgestaltung der Arbeitnehmer wären in einem solchen Paradigma noch wichtiger als heute. Wohin die Reise geht, ist offen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Arbeitnehmer zukünftig flexibler, dezentraler und kollaborativer arbeiten.
Neue technologische Anwendungen
Im Kern ist Industrie 4.0 eine neue Stufe des technologischen Wandels. Will man wissen, wie neue Technologien die Arbeitswelt verändern könnten, so ist zunächst die Frage zu klären, welche arbeitsrelevanten Anwendungen, Tools und Möglichkeiten dieser Wandel mit sich bringt. Eine abschließende Aufzählung der neuen technischen Möglichkeiten ist hier natürlich nicht möglich. Industrie-4.0-Technologien halten aber schon heute Einzug in Fabriken:
1. Erweiterte Mensch-Roboter-Zusammenarbeit
Leichtbauroboter verlassen ihre Käfige und könnten künftig mit Menschen unmittelbar interagieren. Die Sicherheit des Personals würde dabei durch neuartige Sensoren und Programme genauso hoch sein wie bisher. Die Bedienung würde noch erheblich leichter.
2. Fernwartung und -steuerung
Durch die vollständige Vernetzung von Anlagen erhöht sich das Automatisierungsniveau und es entstehen neue Möglichkeiten der Interaktion mit dem Bedienpersonal. Mobile Endgeräte (Tablets, Smartphones) halten in der Produktion Einzug, Maschinen und Prozesse lassen sich orts- und zeitunabhängiger steuern.
3. Digitale Personalkoordination und Leistungssteuerung
Cyberphysische Systeme ermöglichen die technische Steuerung von Leistungsprozessen und Humanressourcen. Wenn zum Beispiel an einer Anlage aufgrund eines neuen Auftrags eine Zusatzschicht anfällt, könnten Unternehmen die benötigten Personalressourcen in Echtzeit koordinieren. Wenn Personen kurzfristig ausfallen, informiert das System automatisch geeignetes Personal.
4. Virtuelle Realitäten
Durch neue Möglichkeiten der Aufbereitung und Darstellung digitaler Daten können Unternehmen reale Objekte mittels Augmented Reality um zusätzliche Informationen anreichern und geplante Prozesse und Designs über Virtual Reality simulieren. Dies schafft neue Assistenzsysteme und erweiterte Möglichkeiten für Training on the Job und E-Learning.
5. Querschnitts-Tools
Daneben gibt es eine Vielzahl neuer Technologien, welche als Sensoren und Aktoren in allen arbeitsrelevanten Bereichen eine Rolle spielen können: Datenhandschuhe, Datenbrillen und andere smarte Kleidungsstücke bis hin zu Exoskeletten mit denen sich ergonomische Verbesserungen erreichen lassen.
Die zentralen Akteure
Um Industrie 4.0 gibt es seit geraumer Zeit einen regelrechten Hype. Wer eine Recherche zu Industrie 4.0 in gängigen Suchmaschinen durchführt, stellt rasch fest, dass einige zentrale Gruppierungen das Thema medial und inhaltlich bestimmen und treiben. Anlagenbauer und Hersteller von Industrie 4.0-Technologien stellen eine Gruppierung dar. Organisiert in Verbänden und im Verbund mit Beratern propagieren sie die Möglichkeiten ihrer neuen Technologien und versprechen Wirtschaftlichkeitsverbesserungen.
Ebenfalls sehr aktiv sind Universitäten und Forschungseinrichtungen, welche vornehmlich technische Forschung im Bereich der Produktion betreiben. Und schließlich haben politische Akteure Industrie-4.0 auf ihre Agenda gesetzt und versuchen die sich entfaltende Dynamik mitzugestalten. Gerade die erste und die zweite industrielle Revolution brachten große soziale Umwälzungen mit sich. Und auch aktuell schürt der Begriff „Revolution” Ängste und Hoffnungen – nicht zuletzt aufgrund möglicher Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Fundierte empirische Untersuchungen oder gar gesicherte Befunde liegen bislang nicht vor. Wohin sich die Arbeitswelt durch den technologischen Wandel mit einer Industrie-4.0-Vision insgesamt entwickelt, ist derzeit nicht vorhersagbar.
Mögliche Entwicklungspfade
Noch ist ungewiss, ob und wie die Anwenderbetriebe die Vision umsetzen werden. In der Diskussion befinden sich jedoch zwei konträre Entwicklungspfade, ein Spezialisierungsszenario und ein Automatisierungsszenario.
Dem Spezialisierungsszenario zufolge dienen die neuen Technologien vor allem zur Aufbereitung von Informationen und zur Entscheidungsunterstützung. Die vernetzten Objekte liefern Informationen für von Menschen zu treffende Entscheidungen. Auch in diesem Szenario erhöht sich das Automatisierungsniveau. Die Veränderungen machen Arbeitserfahrungen, Qualifikationen und Handlungskompetenzen gleichwohl nicht obsolet. Die Arbeitnehmer sind weiterhin wichtig für die Nutzung und die Optimierung von cyberphysischen Produktionssystemen.
Im Automatisierungsszenario bereitet die Technologie ebenfalls die Information in Echtzeit auf und verteilt diese. Die Kontroll- und Steuerungsaufgaben werden in diesem Szenario jedoch vorwiegend technisch gelöst. Die Systeme lenken die Arbeitnehmer, welche nun vorrangig ausführende Tätigkeiten erledigen. In diesem Szenario ist zudem von einem erheblichen Beschäftigungsabbau auszugehen, der sich allenfalls durch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle kompensieren lässt.
Wie Unternehmen die Vision von Industrie 4.0 letztlich umsetzen, hängt von vielen Faktoren ab. Schon heute ist jedoch klar, dass Industrie 4.0 nicht nur den Produktionsprozess, sondern die gesamte Organisation und somit auch die Personalpolitik betreffen wird. Der Hype um Industrie 4.0 gibt Anlass, über Arbeit und Arbeitsorganisation neu nachzudenken. Maschinen nehmen uns voraussichtlich viel Arbeit ab, sicherlich jedoch nicht die Aufgabe, das Zusammenwirken von Technik, Organisation und menschlicher Arbeit auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene zu gestalten.
Die Vision von Industrie 4.0
Nach Ansicht verschiedener Akteure erleben wir derzeit die vierte industrielle Revolution. Nach Dampf- und Wasserkraft (erste Revolution), Massenproduktion auf der Basis elektrischer Energie (zweite Revolution) und Mikroelektronik, Computerisierung (dritte Revolution) sollen es nun cyberphysische Systeme sein, die der Fertigung materieller Güter einen vierten Produktivitätsschub verleihen. Noch handelt es sich um eine Zukunftsvision, denn angekommen sind diese cyberphysischen Systeme in ihrer vollen Ausprägung noch nicht. Cyberphysische Systeme sollen Netzwerke aus Menschen, Maschinen und Produkten sein, welche informationstechnologisch verknüpft sind. Steuerung und Kommunikation erfolgen mittels Sensoren von der reellen zur virtuellen und mittels Aktoren von der virtuellen zur reellen Welt.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz spricht man von Industrie 4.0. Der angelsächsische und internationale Raum vermeidet den Begriff „Revolution” und verwendet schlicht Advanced Manufacturing, Intelligent Manufacturing, Smart Production oder ähnliche Begriffe. Letztlich geht es um dasselbe, nämlich um eine Anwendung des Internet-of-Things-Gedankens – alles ist vernetzt – auf industrielle Fertigungsprozesse. Fertigung soll sich dadurch zu einem unternehmensübergreifenden Netzwerk aus Objekten, Maschinen und Menschen entwickeln. Wertschöpfungsketten verändern sich zu interaktiven, selbststeuernden Wertschöpfungsnetzwerken. Die Werkstücke selbst bleiben über den gesamten Produktlebenszyklus, also auch noch beim Kunden, Teil des cyberphysischen Systems und liefern Daten. Ihr Fahrzeug könnte demnach in Zukunft selbst wissen, wann eine Rückrufaktion durch den Hersteller stattfindet oder schlicht eine Wartung eines spezifischen Bauteils erforderlich ist. Ihre elektrische Zahnbürste informiert Sie über Ihr Mobiltelefon, dass Sie ihren Zahnarzt kontaktieren sollten. Oder Mitarbeiter koordinieren untereinander über eine App, wer einen zusätzlichen Produktionsauftrag übernimmt. Hersteller sammeln Daten über den Betrieb ihrer Produkte und erfahren so, wann sie zum Beispiel eine Rückrufaktion starten müssen. Big-Data-Anwendungen eröffnen neue Analysemöglichkeiten.
Quelle: personal manager – Zeitschrift für Human Resources |
Ausgabe 6 – 2015 | www.personal-manager.at
Foto: Mario Heinemann | pixelio.de