BAG, Urteil vom 12.07.2007, 2 AZR 716/06

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Foto von Sarah Shaffer

Im vorliegenden Fall des Bundesarbeitsgerichts hatte ein Behinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 (einem Schwerbehinderten nicht gleichgestellt) erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgewiesen. So war er ab März 2002 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Im Rahmen eines Personalgesprächs im November 2002 konnte er keine Angaben darüber machen, wie sich die Arbeitsunfähigkeit in Zukunft entwickeln werde. Eine weitere Anfrage des Arbeitgebers zum Stand der Krankheit im Oktober 2004 beantwortete er nicht. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zum 30.04.2005, nachdem er den Betriebsrat angehört und dieser der Kündigung zugestimmt hatte. Hiergegen wandte sich der Arbeitnehmer, indem er eine Kündigungsschutzklage erhob.

Neben anderen Gründen berief er sich insbesondere darauf, dass die Kündigung schon deshalb unwirksam sei, weil der Arbeitgeber nicht das nach § 84 Abs. 2 SGB IX vorgeschriebene betriebliche Eingliederungsmanagement durchgeführt habe. Unter anderem warf er dem Unternehmen vor, es hätte den vorhandenen Arbeitsplatz umgestalten können.

Worum geht es beim betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 84 Absatz 2 SGB IX konkret?

Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, muss der Arbeitgeber klären, ob und wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann. Dazu muss er sich mit der zuständigen Interessenvertretung (Betriebsrat) und – bei schwerbehinderten Arbeitnehmern – zusätzlich mit der Schwerbehindertenvertretung (soweit diese existiert) austauschen. Darüber hinaus ist der Arbeitgeber verpflichtet, im Rahmen dieses Eingliederungsmanagements zu prüfen, mit welchen Leistungen oder Hilfen von seiner Seite einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Im Bedarfsfall sollen Unternehmen auch den Werks- oder Betriebsarzt hinzuziehen. Der betroffene Arbeitnehmer ist vor Beginn des betrieblichen Eingliederungsmanagements auf die damit verbunden Ziele sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.

Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, soll der Arbeitgeber die örtlichen gemeinsamen Servicestellen (Agentur für Arbeit) oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzuziehen. Sobald feststeht, welche Leistungen und Hilfen erforderlich sind, hält das Gesetz die Unternehmen dazu an, diese auch unverzüglich zu beantragen und zu erbringen.

Insgesamt handelt es sich also um sehr weitgehende Pflichten für den Arbeitgeber. Allerdings gibt es bisher in der Rechtsprechung und im Schrifttum kein Einvernehmen darüber, wie weit dieses Eingliederungsmanagement des Arbeitgebers gehen und welche Schritte dieser konkret in den einzelnen Fällen unternehmen muss. Fest steht nur so viel: Das übliche Wiedereingliederungsgespräch nach der Rückkehr eines Arbeitnehmers aus einer längeren Arbeitsunfähigkeitsphase reicht nicht aus.

Einige Instanzgerichte vertreten – wie die aktuelle arbeitsgerichtliche Praxis zeigt – die Meinung, dass ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX die Voraussetzung dafür sei, überhaupt eine krankheitsbedingte Kündigung auszusprechen. Diese Auffassung hätte zur Folge, dass Unternehmen krankheitsbedingte Kündigungen nur mit erheblichen Verzögerungen und finanziellen Aufwendungen aussprechen könnten. Problematisch ist daran auch, dass viele Unternehmen nichts von der genannten Vorschrift und der Verpflichtung, ein solches Eingliederungsmanagement durchzuführen, wissen. Andere nehmen die entsprechende Verpflichtung bisher nicht wirklich ernst.

Krankheitsbedingte Kündigungen waren somit bisher mit einem erheblichen zusätzlichen Risiko behaftet. Dies hat sich allerdings durch die vorliegende Entscheidung des BAG geändert:

So hat das BAG nunmehr klargestellt, dass die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Absatz 2 SGB IX keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine personenbedingte Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen ist. Das heißt: Führt ein Arbeitgeber kein betriebliches Eingliederungsmanagements durch, ist die krankheitsbedingte Kündigung nicht automatisch unwirksam.

Doch andererseits, das betont das BAG, ist die Vorschrift eines betriebliches Eingliederungsmanagements kein „bloßer Programmsatz ohne praktische Relevanz“: Die Frage, ob und möglicherweise auch welche Maßnahmen der Arbeitgeber im Rahmen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements durchgeführt hat, muss im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geprüft werden. Führt der Arbeitgeber kein Eingliederungsmanagement durch, kann dies deshalb Folgen für die Darlegungs- und Beweislast haben. Der Arbeitgeber könnte beispielsweise verpflichtet sein, darzulegen, welche betrieblichen Auswirkungen die Fehlzeiten des Arbeitnehmers für ihn haben. Er muss dann auch beweisen, dass keine Alternativen, also der Krankheit angemessene Einsatzmöglichkeiten, bestehen.

Nachteilig in der Entschiedung sind für Arbeitgeber auch Hinweise des Bundesarbeitsgerichts, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht nur für Schwerbehinderte und den schwerbehinderten gleichgestellte behinderte Arbeitnehmer vorgeschrieben ist. Vielmehr soll die Vorschrift auf alle Beschäftigten im Betrieb anwendbar sein, die entsprechende Krankheitszeiten aufweisen.

Insgesamt zeigt die Entscheidung, dass das Bundesarbeitsgericht sehr hohe Anforderungen an ein betriebliches Eingliederungsmanagement stellt. Die Betriebe sind daher gut beraten, wenn sie generell für Fälle, in denen Erkrankungen den 6-Wochen-Zeitraum überschreiten, ein betriebliches Eingliederungsmanagement implementieren. Dabei ist es nicht mit mehrmaligen Rückfragen bezüglich der Zukunftsprognose getan. Erforderlich ist vielmehr ein mit erheblichem bürokratischem und finanziellem Aufwand verbundener Versuch der Arbeitgeber, aktiv etwas zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation des Mitarbeiters zu tun. Besonders wichtig ist dabei, dass der Arbeitgeber alle Bemühungen im Zusammenhang mit einem vorliegenden Fall, also beispielsweise die Befragung, die Vorschläge, die Prüfung alternativer Beschäftigungen, ordnungsgemäß und vollständig dokumentiert. Nur so können Unternehmen in einem Kündigungsschutzprozesses ihre Anstrengungen ordnungsgemäß vortragen und belegen.

Weitere Informationen: www.edk.de