Dr. Schiemann, fast jeder versteht etwas anderes unter Talent. Wie definieren Sie den Begriff?

Für mich ist Talent ziemlich breit gefächert und umfasst alles, was Menschen in das Unternehmen hineinbringen – Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Erfahrungen, Einstellungen und Verhalten. Es kann Mitarbeiter, Teilzeitangestellte, Vertragspartner oder sogar outgesourctes Talent umfassen. Talent ähnelt einem Stausee. Wir geben Talent in das Becken des Stausees und der Pegel der Kapazität steigt an. Umgekehrt kann es auch vorkommen, dass Unternehmen Talent reduzieren, wenn sie die Fähigkeiten und Qualitäten der Mitarbeiter nicht weiterentwickelt haben oder ihre Beschäftigten nicht effektiv zusammen arbeiten.

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Foto von Proxyclick Visitor Management System

Veranstaltungstipp

Keynote-Vortrag von Dr. William A. Schiemann auf der Messe Zukunft Personal:
„The ACE Advantage. How Smart Companies Unleash Talent for Optimal Performance“ (auf Englisch),
im Anschluss Public Interview
Mittwoch, 26. September, 9.30 bis 11.00 Uhr, Koelnmesse, Halle 11.2, Forum 1

Expert Series, Vortrag von Thomas Belker:
“Improving talent at OBI. A best practice case using the ACE model“
Mittwoch, 26. September, 12.00 bis 12.45 Uhr, Halle 11.2, Forum 2

Weitere Informationen: www.zukunft-personal.de

Sie denken also nicht an eine bestimmte Ebene in der Unternehmenshierarchie?


Führungskräfte und Manager spielen eine entscheidende Rolle, weil sie ihr eigenes Talent wirksam einsetzen müssen und gleichzeitig dafür verantwortlich sind, das gesamte Talent, das sie managen, zu optimieren.


Kommt dem Talentmanagement heutzutage innerhalb der Unternehmen mehr Bedeutung zu als früher? Und wenn ja, was könnte der Grund dafür sein?

Auf jeden Fall! Talentmanagement kommt heute eine größere Bedeutung zu, weil sich ein so  großer Teil der Arbeit  in den Dienstleistungssektor verschoben hat. Talent ist der wichtigste Hebel, um erfolgreich Produkte und Dienstleistungen herzustellen und auszuliefern. Selbst in der Werksproduktion steuert Talent die automatischen Prozesse. Die Komplexität der geforderten Fähigkeiten ist größer geworden. Das Metrus Institut hat viele Senior Leader befragt: Selbst die, die aus kapitalintensiven Firmen kommen, sagen, dass mehr als 90 Prozent ihrer Aktivposten Menschen sind. Das Thema Talent hält CEOs nachts wach.

Ist es heute schwieriger einen Mitarbeiter zu ersetzen?

Talent zu ersetzen, ist nicht das Hauptproblem. Der Knackpunkt ist, dass die Kompetenzen unausgewogen verteilt sind. Einige Fähigkeiten bringen nur ganze wenige Arbeitnehmer mit. Auf der anderen Seite finden viele ungelernte Arbeiter, Produktionsarbeiter oder frühere Montagebandarbeiter keinen Job mehr, weil diese Arbeitsplätze verschwinden.

Weltweit kommt es zu einer immer größeren Diversität der Fertigkeiten – und diese sind nicht immer am richtigen Platz.  Das hat damit zu tun, wie mobil Mitarbeiter sind und was es kostet, sie von einem Ort zum anderen zu bringen. Außerdem haben wir nicht genügend Leute in einigen zunehmend gefragten Bereichen wie IT oder Ingenieurwesen. Sehen Sie sich die Öl-Konzerne an: Sie suchen weltweit nach Chemietechnikern und Biologen. Aber sogar im Handwerk ist eine gewisse Knappheit spürbar – in den USA ist es zum Beispiel schwer, Elektriker oder Schweißer zu finden. Dieser Mangel hat sich daraus entwickelt, dass in den vergangenen 20 Jahren zu viele Studenten auf eine höhere Büroposition aus waren. Nun hält das die Weiterentwicklung der Unternehmen auf.

Vor allem für Führungskräfte sagen Experten einen heftigen Wettbewerb um Talente voraus. Wie werden Unternehmen für diese Zielgruppe attraktiv? 

Employer Branding kann ein effektives Modell sein, aber es kann auch ins Auge gehen. Google zum Beispiel erhält jeden Tag bis zu 10.000 E-Mails von Leuten, die für das Unternehmen arbeiten wollen. Aber wenn man nur die Besten und Schlausten anlockt, wie kann man diese Mitarbeiter auf Dauer motivieren? Hat das Unternehmen genügend Herausforderungen anzubieten, damit es für diese Superstars die ganze Zeit aufregend bleibt? Das ist eines der Probleme, die dabei auftauchen.

Garry Ridge, CEO der WD-40 Company, sagte einmal: „Wir sind vielleicht nicht in der Lage sein, unsere A-Player an das Unternehmen zu binden, aber warum sollte es nicht möglich sein, aus den Menschen, die wir einstellen, A-Player zu machen?“ Seine Philosophie besteht darin, darüber nachzudenken, wen wir einstellen. Die Mitarbeiter sollten zur Unternehmenskultur passen – dann kann man sie auch zu Höchstleistungen in der Performance bekommen.

In Europa haben die meisten Unternehmen schon eine Art Talentmanagement eingeführt. Was ist anders oder neu an Ihrem Modell?

Mit dem ACE-Modell wollten wir uns auf die Hauptfaktoren konzentrieren, die hinter der Talentoptimierung stecken. Als wir mit den Recherchen dafür begonnen haben, wussten wir, dass es nicht nur auf Engagement ankommt. Man kann hohes Engagement in Abteilungen vorfinden, aber gleichzeitig eine geringe gemeinsame Ausrichtung der Mitarbeiter. Wenn die Mitarbeiter nicht an den Sachen arbeiten, die am wichtigsten sind, dann sind die Prioritäten falsch gesetzt. Oder die Menschen haben die falschen Fähigkeiten.

Sehr viele der Unternehmen, die wir befragt haben – in den USA und auch anderswo – sind mit den Kompetenten der Fachkräfte, die sie eingestellt haben, zufrieden. Doch sie bemerken langsam, dass sie damit nicht unbedingt Arbeitskräfte an Bord haben, die zu ihnen passen oder die sehr engagiert sind. Denken Sie zum Beispiel an jemanden in einem Dienstleistungsunternehmen, der nicht sonderlich serviceorientiert ist. Manchmal hat die fehlende Passung auch damit zu tun, dass jemand beispielsweise gern alleine arbeitet, doch das Arbeitsumfeld Teamgeist verlangt.

Aber es gibt doch durchaus Instrumente, um Mitarbeiter auf die Unternehmensziele auszurichten, wie etwa Performance Management.

Ja, oft setzen Unternehmen klare Ziele. Doch sie konzentrieren sich so darauf, dass die Mitarbeiter die Unternehmensausrichtung verinnerlichen sollen und dahingehend ihre Leistungen verbessern müssen, dass sie deren Engagement zerstören. Leistungsfeedback und Mitarbeitermotivation sind ganz sensible Prozesse. Wenn die drei Bereiche – Alignment (gemeinsame Ausrichtung), Capabilities (Kompetenzen) und Engagement – nicht als Einheit funktionieren, ist das Gleichgewicht gestört. Wenn die A-Dimension stark ist, erreichen Unternehmen eine gute Performance und beste finanzielle Ergebnisse. Wenn die C-Dimension stark ist, wirkt sich dies positiv auf die Kundenzufriedenheit und die Kundenbindung aus. Und wenn die E-Dimension stark ist, neigen die Mitarbeiter zu großem Einsatzwillen und lassen sich leichter an den Betrieb binden. Aber alle drei Bereiche zusammen führen zum Leistungsoptimum. 

Sollten die Unternehmen wirklich mit allen drei Elementen zur gleichen Zeit anfangen?

Sie sollten zumindest an alle drei denken, wenn sie Talentmanagementsysteme entwickeln. Typischerweise haben Unternehmen einen ACE-Bereich, der am schwächsten ist – und sich auch negativ auf die anderen auswirken kann. Wenn zum Beispiel das Alignment zu schwach ist, arbeiten die Mitarbeiter unter Umständen wirklich hart, aber nicht an den wirklich wichtigen Dingen. Wenn sie dann von ihren Vorgesetzten nicht die entsprechende Anerkennung für ihre harte Arbeit bekommen, kann das ihr Engagement beeinträchtigen. Viele Teams versuchen in dieser Situation schneller zu arbeiten und reduzieren die Zeit, die sie sich für die Weiterentwicklung der Kompetenzen nehmen.

Die drei Faktoren beeinflussen sich also gegenseitig, auch wenn sie von verschiedenen Dingen abhängen. Deshalb rate ich Unternehmen, dass sie immer mit schwächsten Glied beginnen sollen. Das hilft oft, alle drei ACE-Bereiche zu stärken.

Wie können Unternehmen herausfinden, wo ihr Schwachpunkt ist?

An einer Antwort auf diese Frage arbeiten wir seit den späten 90er Jahren. Ungefähr vor sieben Jahren ist uns klar geworden, dass die traditionellen Umfragen sich zumeist um Engagement drehen und weder die A- noch die C-Dimension messen. Umfragen haben sich oft auf eine Art Anspruchshaltung der Mitarbeiter konzentriert, nach dem Motto “Was macht das Unternehmen für mich?”. Schlaue Unternehmen nutzen Umfragen stattdessen als Möglichkeit, um die Beziehung Arbeitnehmer-Arbeitgeber beidseitig zu verbessern. Es gibt so viel, was wir mit den Augen des Mitarbeiters sehen können, wenn wir ihn einfach danach fragen: zum Beispiel gelebte Unternehmenswerte, Verbesserungsmöglichkeiten für Performance, Qualität oder Strategieumsetzung.

Auf diese Weise haben wir die ACE- Scorecard entwickelt. Für jeden Bereich gibt es eine Auswertung, mit deren Hilfe Führungskräfte auf einen Blick sehen können, welche Stärken und Schwächen sie haben und welche Profile andere Bereiche im Unternehmen auszeichnen. Diese Art Punkteskala erlaubt, ganz individuell darüber nachzudenken, wie Firmen ihre Führungskräfte mit verschiedenen Profilen am besten entwickeln können.

Offensichtlich hängt das ACE-Modell hauptsächlich von den Führungskräften ab. Wie stark ist der Einfluss von HR auf sie und wie können sie ihren Einfluss verstärken?

Die größte Herausforderung für HR besteht darin, Führungskräfte zur Anpassung und Veränderung zu bewegen. Es ist schwer, sich hinzustellen und zu sagen: „Ihre Art zu kommunizieren, erdrückt jedes Engagement“ oder „Sie zeigen Ihren Mitarbeitern keine Anerkennung und mindern damit deren Engagement“. Wenn andere Veränderung von ihnen einfordern, ist das sehr hart für höhere Führungskräfte. Deshalb ist es so wichtig, dass HR dabei seine Unterstützung anbietet. Zweifellos ist das Thema Coaching vor diesem Hintergrund heute so bedeutsam. Es ist inzwischen normal, zu sagen: „Wenn ich nicht effektiv arbeite, brauche ich einen Coach.“ Dies ist eine hervorragende Chance für Personalmanager. Wenn sie Coachs hinzuziehen, können sie Führungskräften helfen, ihre Schwächen einzugestehen. Man wird sie nicht um 180 Grad drehen können. Und Veränderung geht langsam voran, aber sie ist meistens möglich. 

Mit flexiblen und mobilen Arbeitsbedingungen ist die Arbeit der Führungskräfte heute schwieriger geworden. Wie können sie dieser Herausforderung entgegentreten?

Hier besteht der Clou darin, die richtigen Leute auszuwählen und sie in die Unternehmenskultur einzugliedern. Wenn das Performance Management gut ist, können Betriebe viel von ihrem Mikromanagement oder technischen Management weglassen. Eine Win-Win-Situation entsteht dadurch, dass Mitarbeiter, die zwischen 12 Uhr nachts und 2 Uhr morgens besonders produktiv sind, auch zu der Zeit arbeiten können. Wir müssen mehr die Werte und Ergebnisse messen und davon abkommen, Arbeitsaktivitäten oder Arbeitszeiten zu kontrollieren. 

Das impliziert eine neue Form von Freiheit, aber auch ein Gesundheitsrisiko für die Mitarbeiter, wenn sie rund um die Uhr erreichbar sind.

Da geht es – wie heutzutage bei vielen anderen Dingen – darum, das richtige Gleichgewicht zu finden. Wir leben in einer Arbeitswelt der ständigen Verfügbarkeit. Die Frage ist: Treiben die Führungskräfte damit Missbrauch? Vielleicht haben wir in einem Fall eine Führungskraft, die Mitarbeiter mit unmöglichen Forderungen regelrecht zu Sklaven macht. Aber innerhalb des gleichen Unternehmens kann es Führungskräfte geben, die zwar zu ausgefallenen Zeiten E-Mails versenden, wenn es dringend sein muss. Dieselbe Führungskraft lässt dann aber auch den Mitarbeitern mehr Flexibilität, wenn nichts Dringendes zu tun ist. Diese Führungskraft ist geschickt darin, die Bedürfnisse seiner Leute auf kluge Weise auszubalancieren. In Abteilungen, in denen das passiert, finden wir ein gutes ACE-Ergebnis.

Führungskräfte, die nach dem Motto “One size fits all” einheitsmäßig an ihre Arbeit herangehen, haben keine Zukunft.  Führungskräfte müssen anpassungsfähig sein und auf die Bedürfnisse ihrer Leute eingehen. Die Erwerbsbevölkerung kommt derzeit aus fünf Generationen. Vielleicht haben wir in einem Team einen Baby-Boomer und einen Millennial, die beide wirklich engagiert sind. Aber was ihr Engagement vorantreibt, kann sehr unterschiedlich sein.

Interview: Stefanie Hornung