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Foto von Jesus Kiteque
Bundesarbeitsgericht vom 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09

Sachverhalt: Barbara Emme war seit April 1977 bei einer Einzelhandelskette als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt gewesen. Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons Frau Emme zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Zehn Tage später reichte sie die beiden Bons für einen privaten Einkauf bei einer kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren.

Im Prozess hat die daraufhin fristlos, hilfsweise fristgemäß Gekündigte bestritten, die Bons an sich genommen zu haben. Sie verwies vielmehr darauf, dass sie sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht habe. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein.

Die Entscheidung des Gerichts: Die Kündigung ist unwirksam, meint das BAG. Der Vertragsverstoß sei zwar schwerwiegend. Er berühre den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und habe damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen sei das Unternehmen besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden.

Dagegen könne das Prozessverhalten von Frau Emme nicht zu ihren Lasten gehen. Es lasse keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfe sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich würden die zu Gunsten der Arbeitnehmerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte überwiegen, da eine Kündigung mit schwerwiegenden Einbußen für sie verbunden sei.

Für die Arbeitnehmerin spreche insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung, durch die sie sich ein großes Vertrauenskapital erworben habe. Dieses Vertrauen habe durch den in vielerlei Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden können. Bei der Abwägung sei auch die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung des Unternehmens zu berücksichtigen gewesen. Eine Abmahnung als milderes Mittel wäre gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Konsequenzen für die Praxis:

Es handelt es sich um ein Urteil in einem atypischen Einzelfall. Die Bedeutung, die aufgrund der knappen Pressemitteilung noch nicht endgültig beurteilt werden kann, wird aufgrund der Politisierung durch und in den Medien überschätzt. Der Entscheidung ist nämlich insbesondere auch zu entnehmen, dass das BAG seine ständige Rechtsprechung beibehalten hat:

  • Zum einen gibt es auch weiterhin keine sogenannten "absoluten Kündigungsgründe", also Gründe, die per se und losgelöst von den Umständen des Einzelfalles, eine Kündigung rechtfertigen.
  • Allerdings steht auch wie bislang fest, dass eine vorsätzliche Straftat gegen den Arbeitgeber, insbesondere bei Verletzung seines Eigentums, eine schwerwiegende Vertragspflichtverletzung darstellt. Das kann ein wichtiger Grund dafür sein, dass eine außerordentliche und fristlose Kündigung berechtigt ist.
  • Auch hat das BAG der – aus Sicht der Autoren – nicht sinnvollen Idee eine Abfuhr erteilt, im Arbeitsrecht solle eine Bagatellgrenze gelten, unterhalb derer Verfehlungen kündigungsrechtlich irrelevant sein sollen. Wie bisher spielt der Umfang des Schadens für den Arbeitgeber lediglich für die Interessenabwägung eine Rolle. Aufgrund der knappen Pressemitteilung des BAG ist es derzeit noch unsicher, ob Arbeitgeber beim Diebstahl geringwertiger Sachen zukünftig stets vor einer Kündigung eine Abmahnung erteilen müssen.

Die bisherige Rechtsprechung ging davon aus, dass eine Abmahnung bei Straftaten gegen den Arbeitgeber grundsätzlich nicht erforderlich ist, da jedem Arbeitnehmer klar sei, dass der Arbeitgeber keine Straftaten hinnehmen wird, sondern diese zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen. Lediglich in atypischen Ausnahmefällen galt etwas anderes.

So etwa, wenn der Arbeitgeber in der Vergangenheit den Mitarbeitern in gewissem Umfang erlaubte, bestimmte Dinge (zum Beispiel Essensreste) mitzunehmen oder wenn unklar war, ob er dies erlaubt hatte oder einfach wissentlich duldete. Aufgrund dieser besonderen Umstände konnten die Arbeitnehmer nicht mit einer Kündigung rechnen. In Fällen wie dem vorliegenden sowie in allen anderen typischen Diebstahlsfällen ist das jedoch nicht so. Es bleibt also abzuwarten, ob die in der Pressemitteilung erwähnten Umstände (s.o.) das Urteil "Emmely" auch in dieser Hinsicht zu einem atypischen Fall machen. Möglicherweise hat das BAG lediglich aus diesen Gründen eine Abmahnung als milderes Mittel angesehen. Alles andere würde dazu führen, dass ein "Freifahrschein" für einen ersten Diebstahl besteht.

Praxistipp:

Solange unklar ist, ob Arbeitgeber geringwertige Diebstähle künftig zuerst abmahnen müssen, sollten sie vermehrt "antizipierte Abmahnungen" einsetzen, die gegebenenfalls sofort zur Kündigung berechtigen. Antizipierte Abmahnungen sind Verhaltensanweisungen, die präventiv auf die Konsequenzen arbeitsrechtlicher Verstöße hinweisen und so eine Abmahnung vorwegnehmen. Dafür sollten sie die Anweisungen im Betrieb aushängen und jedem Mitarbeiter zum Gegenzeichnen vorlegen.

Damit stellen Unternehmen klar, dass sie Straftaten gegen das Vermögen des Arbeitgebers, insbesondere Unterschlagung und Diebstahl, – auch geringwertiger Sachen – keinesfalls akzeptieren, sondern mit einer außerordentlichen und fristlosen Kündigung ahnden. Arbeitgeber sollten dabei auf eine möglichst klare und gleichzeitig detaillierte Formulierung achten, die gegebenenfalls den betrieblichen Umständen Rechnung trägt. Ein solches Vorgehen stellt ein nicht zu unterschätzendes Argument für Arbeitgeber dar, da die Gerichte im Falle des Falles kaum darauf verweisen könnten, dass eine (in diesem Fall nochmalige) Abmahnung erforderlich gewesen sei.