Problempunkt

Die Arbeitnehmerin war seit 1996, d. h. seit ihrem 18. Lebensjahr, beschäftigt. Im Dezember 2006 kündigte ihr der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 31.1.2007. Die Arbeitnehmerin erhob Kündigungsschutzklage. Sie machte geltend, bei zehnjähriger Betriebszugehörigkeit müsse der Arbeitgeber nach § 622 Abs. 2 Nr. 4 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) eine viermonatige Kündigungsfrist einhalten. Soweit nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Betriebszugehörigkeitszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist unberücksichtigt blieben, liege eine Altersdiskriminierung vor.

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Foto von Austin Distel

Im Berufungsverfahren stellte das LAG Düsseldorf fest, dass die Umsetzungsfrist für die RL 2000/78/EG vom 27.11.2000 zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung abgelaufen war. Das Gericht ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung:

  • Fraglich sei, ob die unmittelbare Altersdiskriminierung anhand des Primärrechts der Union oder der RL 2000/78/EG zu beurteilen sei.
  • Da § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich sei, sei weiter fraglich, ob die nationalen Gerichte stets zuvor den EuGH um Vorabentscheidung über die Unvereinbarkeit der Vorschrift mit dem Unionsrecht ersuchen müssen, bevor sie diese in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unangewendet lassen können.

Entscheidung

Der EuGH bejahte die erste Frage. Das Verbot der Altersdiskriminierung ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, den die RL 2000/78/EG konkretisiert (vgl. EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04, „Mangold“, AuA 2/06, S. 115 f.). Die Auslegung des Verbots ergab, dass es einer Regelung wie § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB entgegensteht. Da die Frist zur Umsetzung der Richtlinie bereits abgelaufen war, bevor der Arbeitgeber die Kündigung aussprach, fällt § 622 Abs. 2 BGB auch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

Die deutsche Vorschrift benachteiligt Arbeitnehmer, die ihre Beschäftigung vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aufgenommen haben. Da diese Zeiten bei der stufenweisen Verlängerung der Kündigungsfristen nicht mitzählen, werden jüngere gegenüber älteren Arbeitnehmern bei gleicher Beschäftigungsdauer ungünstiger behandelt. Betroffen sind junge Menschen, die ohne oder nach nur kurzer Berufsausbildung früh eine Arbeitstätigkeit aufnehmen, nicht aber die, die nach langer Ausbildung später in den Beruf eintreten.

Diese Ungleichbehandlung stellt eine Benachteiligung dar, die das in der RL 2000/78/EG konkretisierte Verbot der Altersdiskriminierung untersagt. Zwar verfolgt der deutsche Gesetzgeber mit der Vorschrift legitime Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt. Er will Arbeitgebern eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität verschaffen, indem sie jüngere Arbeitnehmer leichter entlassen können. Ihnen sei eine größere berufliche und persönliche Mobilität zuzumuten. Die hierzu eingesetzten Mittel sind aber nicht angemessen und erforderlich, weil § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB für alle Arbeitnehmer gilt, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind.

Auf die zweite Frage antwortete der EuGH, dass es dem nationalen Gericht obliegt, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Altersdiskriminierung sicherzustellen. Dazu gehört, dass sie entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lassen, unabhängig davon, ob sie von ihrer Befugnis Gebrauch machen, den EuGH im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung dieses Verbots zu ersuchen.

Eine Richtlinie kann zwar nicht den Einzelnen verpflichten. Sie verpflichtet jedoch die Mitgliedstaaten, das in ihr vorgesehene Ziel zu erreichen. Das bedeutet, dass sämtliche Träger öffentlicher Gewalt alle geeigneten Maßnahmen zu treffen haben. Daher muss ein nationales Gericht, wenn es das innerstaatliche Recht anwendet, dieses i. S. d. Richtlinie auslegen.

§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist allerdings eindeutig und folglich keiner der RL 2000/78/EG konformen Auslegung zugänglich. Das nationale Gericht darf die Vorschrift deshalb wegen des Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung nicht anwenden.

Zwar kann das vorlegende Gericht nach deutschem Recht eine nationale Bestimmung grundsätzlich nur außer Acht lassen, wenn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sie zuvor für verfassungswidrig erklärt hat. Dennoch darf es eine Vorschrift, die es für unionsrechtswidrig hält, von sich aus unangewendet lassen. Es muss zuvor auch nicht den EuGH um Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts ersuchen. Nur so lässt sich die volle Wirksamkeit des Verbots der Altersdiskriminierung gewährleisten. Auch der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebietet dies. Die Gerichte sind frei darin, ob sie den EuGH anrufen, unabhängig davon, unter welchen Bedingungen sie nach innerstaatlichem Recht eine nationale Bestimmung, die sie für verfassungswidrig halten, unangewendet lassen können.

Konsequenzen

Es ist nicht überraschend, dass der EuGH § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB für europarechtswidrig hält. Erstaunlich ist jedoch, dass er von den Arbeitsgerichten verlangt, deutsches Recht nicht anzuwenden, wenn dieses gegen europäisches (Primär-) Recht verstößt. Dies gilt unabhängig davon, ob das Gericht die entsprechende Rechtsfrage dem EuGH vorab zur Entscheidung vorgelegt oder das BVerfG die Bestimmung für verfassungswidrig erklärt hat. Das deutsche Rechtssystem erkennt zwar allein dem BVerfG eine Normverwerfungskompetenz zu. Für die Frage, ob eine innerstaatliche Vorschrift des einfachen Rechts mit Unionsrecht unvereinbar ist, verneinte das höchste deutsche Gericht aber grundsätzlich seine Zuständigkeit (BVerfG, Urt. v.16.3.2004 – 1 BvR 1778/01). Jedes Arbeitsgericht darf nun selbst entscheiden, ob es eine deutsche Rechtsnorm wegen eines etwaigen Europarechtsverstoßes nicht anwenden will. Es kann so zu divergierenden Urteilen kommen, womit ein Verlust an Rechtssicherheit einhergeht.

Praxistipp

Bei der Berechnung gesetzlicher Kündigungsfristen sind jetzt auch Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr zu berücksichtigen. Das bestätigte das LAG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 17.2.2010 (12 Sa 1311/07) im Anschluss an die Entscheidung des EuGH. Dies gilt grundsätzlich für alle Kündigungen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist der RL 2000/78/EG am 2.12.2006 erfolgt sind. Vertrauensschutz ist nur in Ausnahmefällen zu gewähren, etwa wenn ein Gericht über einen Sachverhalt entscheidet, der vor Veröffentlichung der EuGH-Entscheidung am 19.1.2010 bereits abgeschlossen war, weil der Betreffende die zu kurze Kündigungsfrist hingenommen hatte (Verwirkung, § 242 BGB). Das Urteil des EuGH wird sich auch auf entsprechende Regelungen in Tarifverträgen niederschlagen.

Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht – 5/10