Ziel des Screenings war es, die Führungsqualität der „Future Leaders“ des Unternehmens zu identifizieren. Doch wodurch zeichnen sich die Führungskräfte der Zukunft aus? Entscheidend sind weniger deren nachweisbare Qualifikationen als vielmehr ihre Kompetenz. Genauer gesagt, ihre Leadershipkompetenz. Denn Führungskräfte sind immer stärker gefordert, mit komplexen und dynamischen Unternehmensprozessen kompetent umzugehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sie in der Lage sind, selbstorganisiert zu handeln und im sozialen Kontext zu lernen. Während sich Qualifikationen mit formalen Tests oder standardisierten Leistungsnachweisen überprüfen lassen, sind Kompetenzen nicht unmittelbar messbar. Es ist lediglich möglich, auf dem indirekten Wege vom Verhalten eines Menschen auf dessen Kompetenzen zu schließen – also über Zuschreibungen (Attributionen) eines Beobachters. Damit lassen sich Kompetenzen nur sinnvoll ermitteln, wenn die Kandidaten in einer möglichst realitätsnahen Situation agieren und dabei von mehreren qualifizierten Personen beobachtet werden.

MacBook Pro on table beside white iMac and Magic Mouse
Foto von Domenico Loia

Für die SEN-Verantwortlichen war es daher wichtig, ein Verfahren zu finden, das Führungskompetenzen fair und valide in einem realitätsnahen Kontext misst. Dieses Verfahren sollte der Personalauswahl und -entwicklung ebenso dienen wie der strategischen Nachfolgeplanung. Weiters sollte es dazu beitragen, ein einheitliches Führungsverständnis im Unternehmen zu entwickeln.

Die Siemens Enterprise Communications entschied sich aus eben diesen Gründen bewusst gegen ein herkömmliches Assessment- Center. Denn die Übungen eines AC bilden zwar Sequenzen des Unternehmensalltags ab, werden aber der Komplexität und Dynamik des Wirtschaftsgeschehens meist nicht gerecht. Daher fiel die Wahl auf ein Instrument, das die Realität lebensnah simuliert: das Development-Center „Future Mind“ des Beratungsunternehmens Transformation Consulting Group GmbH.

Ablauf

Am 1. September 2008 begann das erste von insgesamt 13 weltweit durchgeführten Development-Centern in München mit einem Warming-up-Abend. Die Berater der TCG und die HR-Verantwortlichen von Siemens Enterprise Communications informierten die rund 30 Teilnehmer über die Methodik, Systematik und vor allem die Beobachtungskriterien des Auswahl- und Entwicklungsverfahrens. Außerdem vereinbarten sie mit den Anwesenden Arbeitsregeln für die Dauer des Development-Centers. Um 19.30 Uhr erfolgte die Firmengründung der „Future Mind PLC – Division Germany“. Die Berater und HR-Verantwortlichen begrüßten die Mitarbeiter im neuen Unternehmen – und stellten den Geschäftsauftrag, den Marktfokus und die Unternehmensstruktur vor (Abbildung 1).

In den kommenden zwei Tagen arbeiteten die Teilnehmer des Development-Centers für die deutsche Tochtergesellschaft der Future Mind PLC mit Hauptsitz in London. Das neu gegründete Unternehmen sollte im ersten Schritt den gesamten deutschsprachigen Raum und in einem zweiten Schritt die Märkte in Europa, dem Nahen Osten und Afrika erschließen.

Ihre Aufgabe bestand darin, gemeinsam mit der Geschäftsführung – zwei erfahrene Trainer – das Unternehmen innerhalb von den zweieinhalb Tagen aufzubauen und erste Produkte zu entwickeln. Die Teilnehmer sollten eine Organisationsstruktur mit den Funktionsbereichen Personal, Marketing, Vertrieb, Produktion und Controlling implementieren und mit Managern besetzen. Außerdem wurden vier Competence-Center installiert. Anschließend ging es darum, konkurrenzfähige Beratungsprodukte zu erarbeiten. Dabei sollte es sich nicht um Fantasieprodukte handeln, sondern um reale, marktfähige Dienstleistungen.

Holding „Future Mind PLC“ London

Abbildung 1: Struktur der „Future Mind PLC“

Am kommenden Morgen um 8 Uhr früh präsentierten die Teams erste Arbeitsergebnisse im Plenum. Das neu rekrutierte Management stellte sich vor und verteilte Aufgabenstellungen zur Produktentwicklung an die Competence- Center. Die erste Phase der Arbeit war geprägt von grundsätzlichen Überlegungen zu Strategie und Governance, Vertrieb & Marketing, Prozessoptimierung und Change- Management. Mit fortschreitender Entwicklung des Unternehmens wurden die Ideen jedoch konkreter, die Abteilungsleiter führten erste Produktkalkulationen durch, setzten Designideen um und legten Preise fest. Zu Beginn des zweiten Tages stand eine Restrukturierung an, um die Organisation und Zusammensetzung der Teams sowie des Managements zu optimieren. Im Verlauf des Tages arbeiteten die Teilnehmer weiter an ihren Produktideen mit dem klaren Zielkunden SEN. So entwickelte ein Team Vorschläge, die dazu beitrugen, die Komplexität der Genehmigungsprozesse zu reduzieren. Ein weiteres machte sich Gedanken über die Verzahnung des Vertriebs mit den nachgelagerten Service-Einheiten. Am Abend präsentierten sie die Ergebnisse einem Mitglied der SEN-Geschäftsführung, der die vorgestellten Konzepte bewerten und gegebenenfalls über ihren Kauf entscheiden musste.

Nach dieser Auftaktveranstaltung fanden in den kommenden fünf Monaten zwölf weitere Development-Center in Deutschland, USA und Brasilien statt. Insgesamt 318 Kandidaten aus Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika nahmen an den Screenings teil.

Abbildung 2: Ablauf des Development-Centers „Future Mind“

Bewertung

Bewertet wurden sie von jeweils vier Beobachtern pro Development-Center, darunter je zwei Experten der TCG und zwei Führungskräfte von Siemens Enterprise Communications. Sie sammelten während der Simulationen 240 Beobachtungsmomente pro Teilnehmer, die sie anschließend diskutierten und auswerteten. In einem strukturierten Feedbackprozess erhielten alle Teilnehmer einen individuellen Bericht mit einem anschließenden halbstündigen persönlichen Feedbackgespräch mit den TCG-Experten. Bei ihren Beobachtungen orientierten sich die Berater an einem Scoringmodell, das eine metrische Skalierung mit qualitativen Beschreibungen kombiniert. Das Bewertungsschema definierte Siemens Enterprise Communications vorab gemeinsam mit der Transformation Consulting Group GmbH. Es beschreibt fünf Hauptkriterien (Akzente setzen, Umsetzungsfähigkeit, Führung, Ergebnisorientierung und Persönlichkeit) mit jeweils vier Kompetenzen. Daraus ergeben sich insgesamt 20 Führungskompetenzen, die sich in fünf Reifegradstufen unterteilen lassen (Abbildung 3).

Abbildung 3: Auszug aus den Führungskompetenzen von Siemens Enterprise Communications

Die Reifegrade:

  • operativ/fachspezialisiert: handelt fokussiert auf seine eigene Aufgabe (fachorientiert)
  • improvisiert/intuitiv: handelt auf Basis seines Expertenwissens in gegebenen Strukturen und Prozessen
  • routiniert/stabilisierend: gibt Strukturen/ Prozesse vor und fördert so die Zusammenarbeit
  • optimierend/veränderungsorientiert: hinterfragt Strukturen und passt diese an die Rahmenbedingungen vorausschauend an
  • reflektierend/entwicklungsorientiert: hinterfragt die Gründe, die zu den Strukturen führen, und motiviert andere zur Veränderung dieser Strukturen

Abbildung 4: Ergebnisse eines Kandidaten

Abbildung 4 zeigt exemplarisch die Zusammenfassung der Punktzahl, die ein Kandidat im Development-Center erreicht hat. Von maximal 500 zu vergebenden Punkten erzielte der Teilnehmer 63,8 Prozent oder 319 Punkte. In den Dimensionen „Akzente setzen“ und „Persönlichkeit“ zeigt er den höchsten Reifegrad. Das Scoringmodell (Abbildung 5) zeigt die Abweichungen eines Ist-Profils vom Soll-Kompetenz-Profil einer bestimmten Funktion.

Abbildung 5: Beispiel für ein Scoringmodell

Ergebnisse

Insgesamt ermittelte das Unternehmen in den Development-Centern mehr als 76.000 Einzelwerte, die es in verschiedenen Clustern auswertete. So ließen sich beispielsweise Vergleiche zwischen den Führungskompetenzen von Teilnehmern aus verschiedenen Ländern ziehen. In den Development-Centern zeigte sich, auf welche Führungsressourcen das Unternehmen in Zukunft zurückgreifen kann. Die Ergebnisse können jetzt als Basis für ein gezieltes Weiterbildungsprogramm für die „Future Leader“ der Siemens Enterprise Communications GmbH herangezogen werden, das sowohl individuelle-, regionale-, funktions- als auch hierarchiebezogene Anforderungen berücksichtigt.

Literaturtipps

Handbuch Kompetenzmessung: Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen pädagogischen und psychologischen Praxis.

Von John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel. Schaeffer- Poeschel 2003.

Assessment Methods in Recruitment, Selection and Performance.

Von Robert Edenborough. Kogan Page 2005. Interne Auswahlverfahren durch Development Center. Von Gerhard Graf et al., in: Personal Entwickeln. Das aktuelle Nachschlagewerk für Praktiker. Deutscher Wirtschaftsdienst 2008.

Assessment Center: Bestandsaufnahme und Kritik.

Von Ain Kompa, Hampp Mering 2004.

Schlüsselqualifikationen im Management,

manager magazin 4/2001.

Assessment Center: Training für Führungskräfte.

Von Christian Püttjer und Uwe Schnierda, Campus 2006.

Quelle: personal manager 3/2009