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Foto von Parker Byrd

Mit Standardwissen und -prozessen werden wir nicht die komplexen Probleme lösen, die uns eine Wirtschaftswelt bringt, die zunehmend unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig ist. Denn komplex und kompliziert ist eben nicht das gleiche.

Für ein kompliziertes Problem gibt es bereits eine Lösung, die Expertinnen und Experten kennen. Das Ausfüllen einer Steuererklärung ist beispielsweise für den Laien kompliziert. Deshalb suchen viele die Unterstützung eines Experten, der über das entsprechende Fachwissen verfügt – einen Steuerberater.

Bei komplexen Problemen handelt es sich hingegen meist um neuartige Herausforderungen, deren Lösungen noch nicht bekannt sind – Stichwort VUCA. Dazu zählen jegliche Arten von Prognosen wie die Entwicklung der Quartalszahlen. Es gibt eine Reihe von Variablen, ein oder mehrere Vorhersagemodelle und im Idealfall noch so etwas wie Eintrittswahrscheinlichkeiten. Dies ist oftmals unbefriedigend, weil wir den wichtigsten Faktor außer Acht lassen: den Menschen. Dieser kann mehr als nur rationale Modelle erarbeiten und überprüfen. Wie Menschen sich selbst in Richtung Zukunft öffnen können, beschreibt Otto Scharmer in der Theorie U mit Blick auf die „four Levels of listening“, die vier Ebenen des Zuhörens und Wahrnehmens.

Warum ist Zuhören wichtig?

Zuhören ist die Voraussetzung für Erkenntnis. Wenn wir im „Weghör-Modus“ unterwegs sind, erkennen wir wichtige Veränderungen nicht – und sind nicht in der Lage, uns auf die Herausforderungen der Zukunft einstellen. Das Verharren im Weghör-Modus kann unterschiedliche Gründe haben, wie zum Beispiel: 

  • Wir sind überzeugt, ohnehin alles zu wissen und brauchen daher die Einschätzung von Expertinnen und Experten nicht.
  • Wenn etwas schief geht, ist es für uns wichtiger, einen Schuldigen zu finden als der Ursachen auf den Grund zu gehen.
  • Wir wollen einfach nicht wahrhaben, dass etwas nicht rund läuft oder wir etwas nicht wissen.

Abschließende Betrachtungen

Wenn wir die aktuelle Personalentwicklung und damit auch den Aus- und Weiterbildungsmarkt betrachten, stehen nach wie vor Diplome und Zertifikate im Mittelpunkt. Diese testgetriebene Logik bleibt somit auf Ebene 2 hängen: „Jede/r kann und darf das machen, wofür er/sie einen Nachweis erbringen kann.“ In diesem System sind die Handlungsspielräume von Lehrenden UND von Lernenden eingeschränkt. Die Lehrenden beziehungsweise Bildungs- und Trainingsinstitute müssen ihre Angebote so konzipieren, dass diese am Ende mit einem Zertifikat abschließen. Auch aus Teilnehmerperspektive bleibt dieser im Fokus. Dabei bleibt es sekundär, ob der Zertifikats-Erwerb aus Eigeninteresse oder vom Arbeitgeber intendiert wurde.


Was kann die Personalentwicklung von der Theorie U lernen?

Logik der Wissensvermittlung: Bislang war die zentrale Logik, dass Menschen etwas wissen, wenn sie es nachweisen können. Dies wird sehr oft durch schriftliche Tests abgeprüft, also durch Gedächtnisübungen in mehr oder minder großem Ausmaß. Es stellt sich die Frage, ob diese Logik noch zeitgemäß ist. Möglicherweise wäre sinnvoll von einem „Ich habe so-und-so-viel (auswendig) gelernt“ zu einem „Ich habe mich so-und-so-viele Stunden mit diesem Thema und dieser Fragestellung beschäftigt“ zu kommen. 

Rolle der Lehrenden: Auf Ebene 2 kann sich der Lehrende auf das Lehren von Fachwissen konzentrieren, damit die Lernenden am Schluss eine Prüfung zur Zertifizierung bestehen. Im Übergang zu Ebene 3 wandelt sich die Rolle der Lehrenden allerdings hin zum Moderator und Facilitator. Auf dem Weg zum Presencing (Ebene 4) wird der Lehrende zum Prozessgestalter und Geburtshelfer, der die Lernenden dabei unterstützt, die Stimme der Furcht zu überwinden.

Rolle der Lernenden: Auch diese Rolle ändert sich. Die Lernenden wandeln sich von passiven Zuhörern (Ebene 1), Wissenswiedergebern (Ebene 2), aktiven Fragestellern (Ebene 3) hin zu schöpferischen Gestaltern (Ebene 4).

Beziehungsgestaltung: Für die Öffnung des Fühlens (Sensing) braucht es einerseits soziale Kompetenzen auf Individualebene, allen voran das Beherrschen von aktivem Zuhören und Ich-Botschaften. Anderseits benötigen wir auch auf Team- und Organisationsebene eine Vertrauenskultur, in der ein Dialog auf Augenhöhe entstehen kann. Dazu ist partizipative Sicherheit (bzw. psychological safety) erforderlich. Das bedeutet, dass alle Beteiligten darauf vertrauen können, alles sagen zu dürfen, ohne dabei in eine Verteidigungsposition gedrängt oder gar ausgelacht zu werden. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können wir die Stimme der Furcht überwinden und unseren Willen öffnen. Im Presencing ändert sich der Fokus der Aufmerksamkeit, es wird meist etwas stiller und wir können (gemeinsam) sämtliche Bedenken hinter uns lassen. Dies ermöglicht, alte Denkmuster los zu lassen, Neues kommen und entstehen zu lassen.


Webtipp:

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter: https://www.eudaimonic.at/Blog/theorie-u-in-der-praxis-personalentwicklung

 

Literaturtipp:
Essentials der Theory U: Grundprinzipien und Anwendungen. Von Otto Scharmer.Carl Auer Verlag 2019.

Die vier Ebenen des Zuhörens

Scharmer unterschiedet vier Ebenen des Zuhörens. Jede Ebene öffnet unseren Blick noch ein wenig mehr für zunehmend komplexe Aufgaben.


1. Downloading: Gewohnte Entscheidungen

Die erste Ebene des Zuhörens eignet sich gut für wiederkehrende Prozesse und Routinen mit bekannter, wenig variierender Komplexität, die sich gut in Checklisten, Anleitungen oder ähnlichem zusammenfassen lassen. In diesem Modus reproduzieren wir alte Muster. Auf dem Weg auf die zweite Ebene müssen wir die Einstellung „Das haben wir immer schon so gemacht“ überwinden.

2. Seeing: Öffnung des Denkens

Auf dieser Ebene setzen wir uns sachlich über Daten und Fakten auseinander, wir öffnen unser logisches Denken, nehmen Differenzen wahr, hinterfragen neue und alte Muster. Diese Art des Zuhörens konzentriert sich auf die Unterschiede und Widersprüche zum Gewohnten. Auf dem Weg zur nächsten Ebene ist es allerdings wichtig, nicht in Zynismus zu verfallen („Das funktioniert bei uns sicher nicht, daher brauchen wir gar nicht weitermachen“).

3. Sensing: Öffnung des Fühlens

Das Zuhören in der dritten Ebene setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus. Auf dieser Ebene sind wir in der Lage, uns in andere hineinzuversetzen, ihre Perspektive einzunehmen. „In den Schuhen des Anderen gehen“ oder „mit den Augen des Anderen sehen“ sind passende Bilder dazu. Um die nächste Ebene zu erreichen, ist es wichtig, Furcht zu überwinden. „Eigentlich wollte ich immer schon ein Buch schreiben, aber mich nimmt ja kein Verlag“, ist ein Beispiel für eine Haltung, die von einer solchen Furcht getrieben ist. Das „eigentlich-aber“ ist eine sehr mächtige Wortkombination, die uns vor Enttäuschungen und Fehlschlägen schützt, aber sie schützt uns auch vor möglichen Erfolgserlebnissen.

4. Presencing: Öffnung des Willens

Im Presencing agieren wir auf einem höheren Aufmerksamkeitslevel. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt in der gegenwärtigen sinnlichen Erfahrung, in der Reflexion während des Handelns. Dies ermöglicht uns tiefer an die Quelle der eigenen Identität „Wer möchte ich (wirklich) sein?“ (und nicht „Welche Rolle möchte ich spielen?“) und des eigenen Handelns, der eigenen Vision („Wofür mache ich das? Wo und wie möchte ich Nutzen und Sinn stiften?“).

Theorie U und die aktuelle Personalentwicklung

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Wie zukunftsfit sind unsere Aus- und Weiterbildungssysteme sowie die Konzepte der Personalentwicklung? In der Überblickstabelle sind

  • die vier Ebenen des Zuhörens,
  • die zentrale Logik der Ebene,
  • die Rolle der Lernenden (Schüler, Studierende, Teilnehmer, Coachees),
  • die Rolle der Lehrenden (also jene die für den Inhalt und die Prozessgestaltung verantwortlich sind, wie zum Beispiel Lehrer, Professoren oder Trainer und
  • die Beziehungsgestaltung dargestellt.

Die Begriffe in der Tabelle stammen im Original von Otto Scharmer, sie wurden von mir übersetzt und in den Kontext der Personalentwicklung übertragen.

 

Ebene 1: Downloading von Anleitungen und Standards

Auf der Downloading-Ebene sind Input und Autoritäten entscheidend. Damit ist gemeint, dass jeder Schüler einen Standard-Input lernen muss. Was zu diesem Standard gehört, geben Autoritäten wie Lehrer und Professoren vor. Die Kompetenz für die Vermittlung dieser Inhalte wird den Lehrerinnen und Lehrern zugeschrieben, die folglich im Mittelpunkt stehen:

„Der Lehrer weiß, was richtig ist.“


Ebene 2: Kompetenznachweis durch Zertifikate und Diplome

Die vorherrschende Logik auf der zweiten Ebene ist effizenz- und outputgetrieben. Der Nachweis von Wissen und Kompetenz erfolgt durch bestandene Tests. Wer ein standardisiertes Prozedere (zum Beispiel Curriculum, Studienordnung, Gesetzesbestimmungen oder Normierungen durch internationale Verbände) erfolgreich bewältigt, erhält eine Bestätigung in Form eines Zertifikats, Diplom, Eintrags in eine Liste oder ähnliches. Dieses Prozedere ist tauglich, um nachzuweisen, dass eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein bestimmtes Fachwissen verfügt:

„Das kann ich nachweisen!“

Jedoch bleibt bei den Zertifikaten offen, ob die Stimme des Zynismus („Das kommt in unseren Standards nicht vor, daher brauchen wir gar nicht weitermachen“) überwunden werden kann.


Ebene 3: Im Zentrum stehen die Fragen der Lerndenden

Auf der dritten Ebene des empathischen Zuhörens stehen die Fragen der Lernenden im Mittelpunkt. Dazu ist ein gewisses Maß an Fachwissen und Kompetenzen (Know-how) in einem Themenbereich notwendig, um inhaltlich am Dialog teilnehmen zu können. Dies müssen die Lernenden aber nicht durch ein Zertifikat nachweisen. Auf dieser Ebene verliert die Konkurrenzlogik an Bedeutung und es ist nicht mehr wichtig, eine Diskussion zu gewinnen. Zunehmend werden die sozialen und kommunikativen Kompetenzen wichtiger, um einen Dialog auf Augenhöhe führen zu können. Dazu zählen zum Beispiel aktives Zuhören und Antworten in Form von Ich-Botschaften. Auch die Rolle des Trainers (beziehungsweise des Vortragenden) wandelt sich hin zum Moderator und Faciliator. Neues Wissen entsteht durch einen empathischen Dialog und wechselseitiges Feedback. Die Dialogteilnehmerinnen und -teilnehmer müssen jedoch dazu bereit sein, ihre Einstellungen in Frage zu stellen und ihre eigenen Standpunkte zu verlassen. Es geht also darum, die Stimme des Zynismus („Das ist eine nette Anregung, aber es funktioniert ja eh nicht“) zu überwinden.

Wie gut ein Austausch auf der dritten Ebene funktioniert, hängt von den kommunikativen Kompetenzen des schwächsten Mitglieds und dessen Bereitschaft ab, sich auf einen empathischen Dialog einzulassen. Oftmals sind hier vorgegeben Dialogformate wie die Kollegiale Fallberatung sehr hilfreich.

„Das habe ich / haben wir gelernt.“

Auf dem Weg zur vierten Ebene gilt es, Ängste zu überwinden, die Scharmer als „Stimme der Furcht“ (Voice of fear) beschreibt. Wichtige Voraussetzungen dafür sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung sowie kommunikative Kompetenzen (zum Beispiel Ich-Botschaften) und ein gewisses Maß an Disziplin beziehungsweise Zurückhaltung. So versucht man, die Gedanken fokussiert zu kommunizieren und Monologe zu vermeiden. Auf Gruppenebene ist ein hohes Maß an Vertrauen und an partizipativer Sicherheit (psychological safety) unbedingte Voraussetzung. Weiters ist das räumliche Setting nicht zu unterschätzen – immerhin gilt es ja auch einen Raum des schöpferischen Gestaltens zu schaffen.


Ebene 4: Presencing – Learning from the emerging future

Die vierte Ebene des Lernens ist durch ein sehr tiefgehendes Level an Achtsamkeit gekennzeichnet. Scharmer bezeichnet dies als „Presencing“, was bedeutet, die Quelle des eigenen Denkens und Handelns aufzuspüren. Presencing ist ein Kunstwort und setzt sich aus den Silben Presence (Gegenwart) und Sensing (Hinspüren) zusammen. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt in der gegenwärtigen sinnlichen Erfahrung, in der Reflexion während des Handelns. Auf der vierten Ebene geht es um mehr als fachliches Wissen (Ebene 2) und die empathisch-kritische Auseinandersetzung damit (Ebene 3), sondern um gemeinsames Entstehen-lassen von zukünftigen Projekten. Vor allem gilt es, die Kompetenz zu entwickeln (und auch anwenden zu können), sich gemeinsam mit anderen auf die folgenden beiden Kernfragen einzulassen und dabei Neues entstehen (emergieren) zu lassen:


Werte und Identität: Was macht mich aus?

Visionen und Sinn: Wozu machen wir das? Wofür und für wen möchten wir Nutzen stiften?


Auf Ebene 4 ändern sich die Rollen der Beteiligten. Dabei mutiert der „Lehrende“ vom Prozessgestalter, Moderator, Expeditionsleiter bis hin zum Geburtshelfer, der die Teilnehmenden dabei unterstützt ins Senscing (Ebene 3) und später ins Presencing (Ebene 4) vorzudringen. Nach dem Überwinden der Stimme der Furcht erschaffen alle Beteiligten („Lehrende“ und „Lernende“) eine wert- und sinnorientierte Vision als Grundlage für zukünftiges Prototyping und Performing sowie zukünftiges Handeln.

„Wir waren wie in einer anderen Welt, und haben diese Idee in die (unsere) Welt gebracht!“