Der Fachkräftemangel, steigende Fluktuation und die Herausforderung, kulturell passende Talente zu finden – all das zwingt Unternehmen, ihre Recruitingprozesse kritisch zu hinterfragen. Immer häufiger fällt dabei ein Begriff: Persönlichkeitsanalysen. Doch was genau bringen diese Verfahren? Wie funktionieren sie? Und wo liegen ihre Chancen und Grenzen?
Im Gespräch mit Alexander R. Petsch im HRM Hacks Podcast gibt Markus Brand, Gründer des Instituts für Persönlichkeit, spannende Einblicke in die Praxis. Seit über 20 Jahren begleitet er Unternehmen beim Einsatz von Persönlichkeitsanalysen – und zeigt, wie Daten statt Bauchgefühl zu besseren Entscheidungen führen.
1. Der Wandel im Recruiting: Von Sympathie zu Struktur
Viele Auswahlprozesse beruhen noch immer auf Bauchgefühl, sympathischem Auftreten oder einer überzeugenden Selbstpräsentation. Doch: „Die besten Bewerbungen sagen oft nichts über die tatsächliche Passung zur Rolle oder zum Team aus“, warnt Markus Brand.
Persönlichkeitsanalysen bieten hier eine datenbasierte Ergänzung, die über Soft Skills, Werte und Arbeitsmotive Aufschluss gibt – also über genau jene Faktoren, die über langfristige Zufriedenheit und Leistung entscheiden.
2. Warum Persönlichkeitsanalysen sinnvoll sind – unter Bedingungen
Markus Brand macht deutlich: Eine Persönlichkeitsanalyse ist kein Allheilmittel. Ihr Einsatz im Recruiting ist dann sinnvoll, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:
✅ Das richtige Tool: Wissenschaftlich fundiert, validiert und auf den beruflichen Kontext ausgelegt
✅ Der richtige Zeitpunkt: Nicht zu früh im Prozess – ideal nach dem ersten Gespräch, wenn bereits Vertrauen besteht
✅ Die richtige Haltung: Keine Einzelfallentscheidung auf Basis eines Testergebnisses – sondern ein Mosaikstein im Gesamtbild
„Es geht immer um die Wahrscheinlichkeit, die Wahrheit über den Bewerber zu erfahren“, so Brand. Deshalb sei ein vertrauensvoller Rahmen entscheidend – vor allem, damit Kandidaten nicht versuchen, ein „gewünschtes“ Profil zu fälschen.
3. Praxisbeispiel: Warum bei einem Versicherer plötzlich die Ängstlichen die Besten waren
Ein eindrückliches Beispiel liefert Markus Brand aus der Zusammenarbeit mit einer großen Versicherung. Die Herausforderung: hohe Fluktuation im Außendienst, viele Fehleinstellungen trotz klarer Jobprofile.
Statt auf Bauchgefühl zu setzen, analysierte das Team die Persönlichkeitsprofile von 30 erfolgreichen Außendienstlern. Überraschendes Ergebnis:
🟠 Die Besten waren nicht besonders extrovertiert oder stressresistent.
🟠 Stattdessen zeigten sie hohe Werte bei emotionaler Labilität, Ordnung und Sicherheitsbedürfnis.
Was paradox klingt, war bei genauerer Betrachtung logisch:
- Die Ängstlicheren waren fleißiger, weil sie sich Sorgen machten, ihre Ziele nicht zu erreichen
- Sie blieben dem Unternehmen treuer – aus Angst vor dem Risiko eines Jobwechsels
- Sie standen ehrlich hinter dem Produkt (Versicherungen = Sicherheit)
Brand: „Sie liebten Sicherheit – und genau das verkauften sie auch. Das ist Persönlichkeitspassung auf Produkt- und Unternehmensebene.“
4. Das Zwiebelmodell: Was Persönlichkeitsanalysen messen können
Markus Brand unterscheidet in seinen Analysen vier Ebenen, die wie Schichten einer Zwiebel aufgebaut sind:
🧅 1. Motive – Der Kern
Unveränderbar und biologisch verankert. Warum handeln Menschen, wie sie handeln? Zentrale Motive wie Macht, Ordnung, Familie, Neugier oder Sicherheit bestimmen langfristige Motivation. Grundlage z. B. beim Reiss Motivation Profile®.
🧅 2. Werte – Die zweite Schicht
Was ist mir wichtig im Leben? Werte wie Ehrlichkeit, Status, Innovation oder Nachhaltigkeit beeinflussen Entscheidungen – können sich jedoch im Laufe des Lebens ändern. Relevanz v. a. für kulturelle Passung im Unternehmen.
🧅 3. Verhaltensstile – Die dritte Schicht
Wie agiere ich im Alltag? Bin ich extrovertiert, introvertiert, rational oder emotional? Diese Dimensionen werden oft durch Modelle wie DiSG®, MBTI® oder Big Five abgebildet. Nützlich, aber begrenzt aussagekräftig im Recruiting.
🧅 4. Wirkung – Die äußere Schale
Wie wirke ich auf andere? Kleidung, Auftreten, Körpersprache. Schnell veränderbar, oft trügerisch – daher für Auswahlentscheidungen nur eingeschränkt brauchbar.
5. Alpha- und Beta-Fehler: Die wahren Recruiting-Kosten
Persönlichkeitsanalysen helfen auch, zwei teure Fehler zu vermeiden:
❌ Alpha-Fehler: Die falsche Person wird eingestellt – trotz guter Tests und Gespräche.
❌ Beta-Fehler: Die richtige Person wird abgelehnt, weil ihr Profil nicht ins Bild passt.
Gerade der Beta-Fehler wird oft übersehen: „Jemand passt perfekt, aber wird aussortiert, weil er nicht dem Idealbild entspricht – und geht zur Konkurrenz. Das ist ein nicht wiedergutzumachender Verlust“, so Brand.
6. Best Practices für den Einsatz im Recruiting
Damit Persönlichkeitsanalysen ihr volles Potenzial entfalten, empfiehlt Markus Brand:
✅ Spätere Integration: Nach dem ersten Gespräch, wenn gegenseitiges Interesse und Vertrauen vorhanden sind
✅ Kombination mit anderen Methoden: z. B. strukturierte Interviews, Arbeitsproben oder Assessment Center
✅ Einbindung in strategische Talententwicklung: Nicht nur zur Auswahl, sondern auch zur Entwicklung bestehender Mitarbeitender
✅ Klare Kommunikation: Transparenz gegenüber Kandidaten – wozu wird getestet, was passiert mit den Daten?
7. Tools und Technologien: Zwischen Mensch und Maschine
Persönlichkeitsanalysen sind heute digitalisiert, KI-gestützt und skalierbar. Brand verweist auf innovative Tools wie PodLM oder NotebookLM, mit denen sich Testergebnisse automatisiert auswerten lassen – inklusive KI-gestützter „Dialoge“, die das Profil lebendig erklären.
Kosten: Je nach Verfahren liegen die Analysepreise zwischen 80 € und 250 €, hinzu kommen Beratung, Rückmeldung und ggf. Lizenzen. Doch Brand warnt vor Sparsamkeit: „Recruitingfehler kosten Zehntausende – da sind 100 € gut investiert.“
8. Persönlichkeitsanalysen für Azubis – ein unterschätzter Hebel
Ein besonders spannendes Anwendungsfeld sieht Brand im Azubi-Recruiting. Denn: Bei jungen Menschen fehlen oft harte Referenzen – hier bieten Persönlichkeitsprofile wertvolle Hinweise auf Motivation, Belastbarkeit und Teamorientierung.
Erfolgsbeispiel: Die erwähnte Versicherung reduzierte ihre Abbrecherquote bei Azubis drastisch, nachdem sie Persönlichkeitsprofile zur Auswahl heranzog.
Fazit: Kein Ersatz, aber ein Gamechanger im Recruiting
Persönlichkeitsanalysen sind kein Wundermittel. Aber sie bieten einen datenbasierten, validen Blick hinter die Kulisse – und helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Besonders in Kombination mit klassischen Methoden erhöhen sie die Trefferquote, fördern die Mitarbeiterbindung und stärken die Teamperformance.
Wer Recruiting strategisch denkt, sollte nicht auf Glück oder Sympathie setzen – sondern auf Passung, Transparenz und Persönlichkeit. Oder wie Markus Brand sagt:
„Ein Fool mit einem Tool ist immer noch ein Fool. Wer Persönlichkeitsanalysen einsetzen will, braucht Know-how, Reflexion – und den Mut, auch mal gegen das Bauchgefühl zu entscheiden.“