China entwickelt sich seit 2015 in eine grundlegend andere Richtung als seit Beginn seiner Reformen. Denn Peking leitete eine neue Strategie der technologischen Aufwertung ein, die nun mit der Initiative „Made in China 2025“ einen strategischen Rahmen erhalten hat. Das Reich der Mitte soll nicht länger niedrigqualitativer Beschaffungs- oder Absatzmarkt technologisch zweitrangiger Produkte bleiben. Der Plan lautet: Nur wenn Hightech-Beiträge von internationalen Partnern in China eingebracht werden, dürfen diese den schier endlosen Markt bedienen. Gleichzeitig rollt Peking mit dem Einkaufswagen um die Welt und stapelt darin die innovativsten und technologisch bewährtesten Unternehmen des Westens.

 

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Foto von Studio Republic

Diese „Grand Strategy“ zeigt aber auch Schwächen. Die größte Unwägbarkeit von „Made in China 2025“ liegt in einer Ressource die auch mit der größten Finanzkraft nicht direkt zu kaufen ist – der humanen. China läuft aufgrund der nun ausgelaufenen Ein-Kind-Politik und eines Bildungssystems, das nur punktuell Exzellenz hervorbringt, auf einen Engpass von Fach- und Führungskräften zu. Dieser Mangel kann ein Show-Stopper für Unternehmen in China werden, zumal sein Weg von einem technologisch unterlegenen Lieferanten zu einem Partner auf Augenhöhe neue Unternehmensfunktionen und Formen der Zusammenarbeit benötigt. Hochqualifizierte Führungskräfte müssen technologisch versierte Mitarbeiter zu Hochleistungen bewegen können, um ein „Fail in China 2025“ abzuwenden.

Fallbeispiel: Aufbau einer
Vertriebsorganisation in China 

Der europäische Sportartikelproduzent Schneeweiß (Name geändert) beschloss, die Chance der Olympischen Spiele 2022 in China zu nutzen und ab 2017 auf dem chinesischen Markt über Verkaufslokale und via E-Commerce aktiv zu werden. Zielsetzung war eine signifikante Umsatzsteigerung über das Verleihgeschäft in Chinas Skigebieten, über physische Shops sowie Verkauf über TMall, Taobao, WeChat und die eigene Homepage. Schneeweiß hatte die Grundsatzentscheidung getroffen, einen chinesischen Partner für den Vertriebsaufbau einzusetzen – eine Vorgehensweise, die auch die chinesischen Regierungsinstitutionen unterstützen. Wie kann dieses Vorhaben gelingen – und welche Aspekte entscheiden über den Erfolg?

1. Vertrauen und Gelingen

Wenn ein chinesischer Partner das Geschäft aufbauen soll, besteht meist neben der Barriere der unterschiedlichen Landeskulturen zusätzlich eine kritische „Vertrauensschwelle“ zwischen zwei Organisationen. Die Mitarbeiter auf beiden Seiten benötigen umfangreiche Fähigkeiten im Risikomanagement, gepaart mit hoher methodischer und menschlicher Kompetenz, um die Partner der anderen Seite überzeugen und führen zu können – sowie das nötige Vertrauen im Gegenüber zu erzeugen. Die meisten chinesischen Mitarbeiter respektieren Autorität und Hierarchie. Das heißt aber keineswegs, dass sie ihren Vorgesetzten blind glauben und vertrauen. Tatsächlich und historisch geprägt gibt es in China wenig Überzeugung, dass man sich auf die Aussagen der Mächtigen verlassen kann. Diese lebenslange Erfahrung überträgt sich ins Berufliche. Vorgesetzte müssen sich Vertrauen nachhaltig erarbeiten – unabhängig davon, aus welchem Land sie kommen. Als Ausländer ist das besonders mühsam. Der Vertrauensaufbau erfordert eine besonders umsichtige soziale Interaktion – und die entscheidenden Kooperationspunkte stehen zwischen den Zeilen der Verträge. Gut gemeinte Organisationslayouts, vorgeschriebene Prozesse und klar definierte Rollenbeschreibungen sind ihr Papier nicht wert, wenn die gewidmete Vermittlung an die Beteiligten unterbleibt. Und das braucht Zeit.

Wenn ein Mitarbeiter nach neun Monaten überraschend kündigt oder von heute auf morgen wortlos wegbleibt, ist offensichtlich, dass er kein Vertrauen aufbauen konnte. Doch viel subtiler und damit gefährlicher ist verdeckt gelebtes Misstrauen. Hinderliche Nebengeschäfte, fehlender Einsatz, Qualitätsmängel und Ineffizienz sind direkte Folgen, die sich nicht alleine durch operatives Streamlining lösen lassen. Probleme und Fehler, beruflich oder privat, sind nicht statusfördernd und Chinesen gestehen sie meist nur Freunden ein. Es ist nicht üblich, sie nach außen zu tragen. Wer kein Vertrauen genießt und nicht weiß, was los ist, erlebt deshalb täglich neue Überraschungen. Vertrauen entsteht nicht nur in China durch Verantwortung, Erfolge, gemeinsames Erleben und ernsthaft vermittelte Wachstumschancen für jeden Mitarbeiter. In China lautet der Normalzustand jedoch „Misstrauen“, wohingegen im Westen der Vertrauensgrundsatz nicht nur im Straßenverkehr gilt, sondern meist auch ins Geschäftsleben wirkt.

Besonders diese vier Aspekte helfen im Vertrauensaufbau:

► Kompetenz ist auch in China die härteste Währung. Persönliches Wissen, Studien, Zertifikate verleihen einen respektablen Status.

► Erfahrung und Erfolge zeigen, dass Sie etwas richtig machen, von dem andere lernen können. Daher interessieren sich potenzielle chinesische Partner meist für Kennzahlen von Firmen oder für deren Positionierung auf internationalen Ranglisten der besten Unternehmen. Geizen Sie nicht mit Erfolgsgeschichten.

► Guanxi und die Einbettung in Netzwerke zeigen, dass gut mit Ihnen zu arbeiten ist – wobei hierbei auch besonders positive menschliche Attitüden zählen.

► Wichtig werden Sie für Partner, wenn Sie in deren symbolischer Währung handeln können. Sobald Sie etwas haben oder können, das gesucht ist, treten chinesische Unternehmen gerne in einen Austausch mit Ihnen.

Vor diesem Hintergrund setzte Schneeweiß mit seinem Partner ein Mitarbeitercurriculum auf. Das Unternehmen veranstaltete mit seinem Partner Teambuilding-Events in China und Europa, legte Regeln der Zusammenarbeit fest und gab Führungskräften Raum für ihre Entfaltung: Beide Seiten brachten Grundregeln der Geschäftsgestaltung ein und konsolidierten sie in einem Top-Management-Workshop zu einer Charta. Die nachfolgenden Seminare zur Führungskräfteentwicklung legten das Schwergewicht auf die individuelle Ausgestaltung der Führungspraxis, da vor allem die Teams auf chinesischer Seite sehr inhomogen in Wissen und Erfahrung waren und ein „europäischer Führungsstil“ schnell zu Dysbalancen geführt hätte. Parallel baute Schneeweiß basierend auf der gemeinsamen Charta ein quantitatives Management- und Controllingsystem auf, das durch klare Ziel- und Prozessvorgaben definierte, wann die Kooperation erfolgreich laufen würde und wie alle Beteiligten bei Abweichungen Lösungen finden konnten.

Ein weiterer wichtiger Schritt war das Etablieren eines Feedbackprozesses, der auf Wertschätzung basierte. Denn die Konfliktfähigkeit kennt in China zwei Extreme: Traditionell gehen Chinesen einer offenen Ansprache von Unvereinbarkeiten aus dem Weg, um die Harmonie nicht zu gefährden. Tatsächlich sehen wir jedoch oft das andere Extrem, nämlich pseudo-westliches Verhalten, wenn Führungskräfte den Mitarbeitern offensiv-aggressiv ihre Anforderungen entgegenwerfen – in dem Irrglauben, „um Eisen zu schmieden, muss man selbst hart sein“.

Die Vorgabe bei Schneeweiß lautete, dass die Führungskräfte mindestens drei positive Feedbacks je negativem Feedback geben mussten (Ausnahmen mussten sie berichten). Sie waren aufgefordert, die Grundprinzipien der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) zu beachten und nach dem „Go and See“-Ansatz ihre Informationen durch Beobachten am Ort des Geschehens zu gewinnen. „Sandwichfeedback“ – also das positive Verpacken von Kritik durch Pseudo-Lob – wurde abgeschafft.

Schon in einem halben Jahr etablierte sich auf diese Weise eine extrem positive Organisationskultur, getragen durch die Vorbildwirkung aller Führungskräfte.

2. Team und Matrix

Schneeweiß beschloss eine joint-venture-ähnliche Verzahnung, die eine enge Zusammenarbeit in Matrixform erfordert, jedoch noch Firmengrenzen aufweist, die situationsspezifisch niedergerissen oder aufgebaut werden müssen. Ein Problem bestand darin, dass die chinesischen Kollegen wenig Kompetenz in der methodisch sauberen Vermittlung ihrer Vorschläge und Sichtweisen hatten. Die Standpunkte der europäischen Seite bauten stark auf Fakten, Analysen und jahrelange Erfahrungen. Die chinesische Seite verfügte über Letzteres nicht und hatte Ersteres noch nicht im Kompetenzrepertoir.

Oft endeten Versuche der Chinesen, Probleme darzustellen, in einem Belächeln der Europäer, weil die östlichen Meinungen oft ohne logisch korrekte Analysen erfolgten (tatsächlich ist Logik in China ein Fremdwort: luóji). Die Konsequenz: Sie konnten das globale Netzwerk kaum in Bewegung bringen und ihre Schnittstellen in der Matrix nicht ausreichend überzeugen und bewegen, sodass chinaspezifisches Wissen kaum seinen Eingang in die internationale Strategie fand.

Der Mangel an guten Führungskräften in China führt zudem häufig zu einer raschen Beförderung von guten Mitarbeitern auf Schlüsselstellen. Wenn diese neuen Jungen ihre internationalen Partner überzeugen wollen, mangelt es oft an Seniorität und Wissen, wie man sich den Platz am Verhandlungstisch verdient und sichert.

Nachdem Schneeweiß ernste Probleme in der Entscheidungsfindung bekam, legte das Management klare Regeln der Zusammenarbeit und des Informationsflusses fest – und betonte eine Eigenverantwortung der Einzelnen, die eine kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsweise einforderte. Die Zusammenarbeit in virtuellen Teams benötigte eine deutlichere Führung, die vorbildhaft Feedback einfordert, Regeln entwickelt und befolgt sowie Freiheit und Vertrauen schenkt.

3. Führung und Fachkompetenz
Lernen hat in China einen hohen Stellenwert und ist als Pflicht und Lebenszweck tief in der Kultur verankert. Von klein auf lernen Chinesen unter viel Druck große Wissensmengen – und viele glauben, dass man alles lernen kann. Deshalb bewerben sie sich gerne auch mal für Jobs, für die ihnen die Voraussetzungen noch weitgehend fehlen. Das Bestehende und Anerkannte muss in China perfekt beherrscht werden, für Eigeninitiative und Originalität gibt es keine Punkte. Selbstverständlich können auch chinesische Mitarbeiter eine Unternehmenskultur entwickeln, die Verantwortung und Eigeninitiative groß schreibt. Aber das dauert und bedeutet eine neue Herausforderung für die Führungskräfte. Kontinuität in der Führung ist dabei wichtig und sie verträgt sich schlecht mit befristeten Entsendungsverträgen von Expats.

Führungskräfte benötigen eine kontinuierliche Begleitung, um lernen zu können, wie sie mit Menschen des anderen Kulturkreises interagieren können. Bei Schneeweiß gewährleistete dies eine schlanke Inhouse-Leadership Academy, die Führungskräfte unter anderem ermutigte, den Blick von rein technischen Aspekten hin auf Zwischenmenschliches zu lenken – eine bis dato recht unbekannte Sichtweise in beiden Unternehmen. Aus Kontrolle und Ansage wurden Delegation und Inspiration. Dabei zeigten zahlreiche quantitative und qualitative Messpunkte Erfolge.

Die Prinzipien der Academy waren:

► Fokus auf individuelle Fähigkeiten – für optimale Entwicklungspfade,

► Rollen-Zentrierung – zur Lösung aktueller Probleme,

► Mentoring – zur menschlichen und technischen Informationsweitergabe,

► Lernreisen zum Joint-Venture-Partner – für internationale Optimierung,

► Steuerung der Inanspruchnahme der Academyleistungen durch die Führungs-kraft – für maximale Akzeptanz,

► klare Integration in die Corporate- und funktionalen Strategien – für maximale Wirkung und gegen Reibungsverluste,

► volle Aufmerksamkeit durch das Top-Management – für Feedback in beide Richtungen und genau eine Unternehmenskultur über Europa und China.

4. Agilität und Wirkung
Flexibilität ist selbstverständlich in China, lebensnotwendig und allgegenwärtig. Wenn man einen europaerfahrenen Chinesen nach seiner größten Erkenntnis hier befragt, klingt das häufig so: Die Deutschen planen lange und sind dann extrem prozesstreu, die Chinesen fangen sofort an und ändern oft, wenn es nicht funktioniert. Diese Flexibilität und der Wunsch nach Geschwindigkeit sind Stärken, die ein Unternehmen nutzen und schätzen sollte – aber natürlich auch bei allen Planungen berücksichtigen muss. Ohne Flexibilität, Führungsdisziplin und Konsequenz ist nirgendwo ein gutes Team möglich, ganz sicher aber nicht in China. Um Organisationen in China agil zu führen, sind zuerst die „Hausaufgaben“ zu machen – nämlich Ansagen durch Vertrauen ersetzen (und Qualität sicherstellen), Unternehmenswerte in individuelles Verhalten übergehen lassen und die organisatorischen Rahmenbedingungen für diese Selbstwirksamkeit schaffen. China kann sehr wohl innovative Produkte schnell entwickeln, Organisationen einfach strukturieren, lokale Vorteile nutzen und alternative Taktiken (wie Guanxi und Guerilla-Marketing) zur Zielerreichung einsetzen. Wenn Unternehmen eng führen, um operative Regeln zu vermitteln, und gleichzeitig ermutigen, chinesische Fähigkeiten auszuspielen, können sie agiles Handeln zuerst in kleinen Inselbereichen ermöglichen und dann sukzessive auf die gesamte Organisation ausweiten.

5. Personal und Wachstum
Der weltgereiste Auslandsentsandte, der die Bequemlichkeiten des Expat-Lebens genießt und dank seines überlegenen Wissens seine Aufgaben quasi nebenbei erledigt, hat schon lange ausgedient. Echtes Interesse am Wohl von Unternehmern und Mitarbeitern sowie eine positive Einstellung zu China und seinen Menschen sind Grundvoraussetzungen für die Arbeit in diesem Land und Kulturkreis. Eine kolonialistische Haltung auf Basis irgendeiner gefühlten Kulturüberlegenheit, aber auch eine distanzierte Söldnereinstellung führen nie zum Erfolg. Gebraucht wird eine starke Führung mit Herz und Verstand. Es gibt eine recht überschaubare Gruppe von europäischen Führungskräften, die diesen Anforderungen gerecht wird. Diese Leute halten sich oft schon seit vielen Jahren im Land auf und haben sich auch intensiv mit Kultur und Sprache befasst. Ganz selten sind sie allerdings extern rekrutierbar.

Die besten Unternehmen Europas haben bereits entdeckt, dass gute Führungskräfte nicht unbedingt Europäer sein müssen. Es gibt seit der Jahrhundertwende jedes Jahr viele tausend chinesische Studenten, die in Europa – und hier vor allem an technischen Hochschulen – studieren. Nach rund zehn Jahren in Europa (durch rund fünf Jahre Studium und einige Jahre Berufserfahrung) sind sie in ihrem Denken stark von hiesigen Erfahrungen geprägt und im besten Sinne bikulturell. Wenn sie nach China zurückkehren und dort einige Jahre erfolgreich gearbeitet haben, sind die Begabten unter ihnen ideale Führungskräfte für europäische KMU: kompetent, ergebnisorientiert, prozessverbessernd und international erfahren.

Die Firma Schneeweiß setzte drei Führungskräfte dieser Leistungsklasse an die Schlüsselstellen ihrer China-Repräsentanz (Geschäftsführung, Marketingleitung und Logistikleitung), um den Vertriebspartner optimal zu steuern. Sie kennen China von klein auf, verstehen sich im Umgang mit Behörden, Kunden und Partnern und kombinieren diese Expertise mit erstklassiger Industrieerfahrung aus Europa. Das oft angesprochene Problem hoher Mitarbeiterfluktuation trifft auf diese Gruppe nicht zu: Sobald belastbare Beziehungen zu den Entscheidungsträgern und ein internes Netzwerk zu den Kollegen bestehen, sind die Hürden für einen Firmenwechsel in der Regel recht hoch.

Politisch scheint China nun auch an Europa näher heranzurücken und wirtschaftlich ergeben sich entlang der neuen Seidenstraßeninitiative umfassende Geschäftsmöglichkeiten in China und in Drittländern. Bei steigender Komplexität der Supply Chains und der internationalen Projekte kann ein Schritt zurück auf eine neue Betrachtung der menschlichen Interaktionen und nötigen Interventionen Gold wert sein. Doch auch der massive Zugewinn an Leistungsfähigkeit durch eine Unternehmenskultur des Gelingens ist diesen Blick wert. Der Wechsel von einer Kultur von Zuckerbrot und Peitsche, die jeglichen motivierten Mitarbeiterbeitrag (früher besonders in chinesischen Staatsbetrieben) sauber ausradierte, schreitet gut voran, benötigt doch viel Arbeit. Tatsächlich sehen wir mehr und mehr multinationale Unternehmen in China, deren Investitionen deswegen gelingen, weil Führungskräfte sehr gezielt ausgewählt und entwickelt werden. Dadurch entstehen Organisationen, deren Mitarbeiter zu ihrer ursprünglichen Motivation zurückfinden, großartige Innovations- und Qualitätsbeiträge einbringen und stolz auf ihren Arbeitgeber sind.

Checkliste


Was sollte das HR-Management bei der Zusammenarbeit mit Partnern in China beachten?
Lesen Sie dazu die Checkliste unseres Autors.

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Quelle: personal manager - Zeitschrift für Human Resources | Ausgabe 3 Mai/ Juni 2017