Was viele Menschen heute erleben, ist das Gegenteil einer Welt, die durch klare Strukturen und Prozesse, Regeln und Rollen, Ziele und Erwartungen geprägt ist, in der jeder wissen kann, was von ihm erwartet wird. Die Sicherheit zu wissen, wann etwas richtig oder falsch ist und wann ich erfolgreich oder gescheitert bin, geht vielerorts verloren. Die Grundlagen der Entscheidungen, die heute nach bester Überzeugung getroffen werden, können aufgrund der dynamischen Veränderungen schon morgen obsolet sein. Wie gehen wir mit diesen Veränderungen um?

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Foto von Product School

Das amerikanische Militär hat volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Situationen mit dem Akronym VUCA umschrieben. Heute ist dieser Begriff in aller Munde und beschreibt die Realität vieler Unternehmen weltweit. Alles verändert sich und niemand kann genau sagen, wohin. Oft sind die Einflussfaktoren nicht überschaubar und es lassen sich keine eindeutigen Schlüsse ziehen.

Wenn es zutrifft, dass wir in einer VUCA-Welt leben und arbeiten, die Geschäftsmodelle, Handeln und Prozesse von Unternehmen nachhaltig verändert, dann brauchen wir auch neue Strategien, Tools und Herangehensweisen. Unter dem Stichwort „Agilität“ werden Führungsmethoden und Werkzeuge zusammengefasst, die diesen Veränderungen gerecht werden sollen. Eines der Grundprinzipien aller agilen Methoden ist „try hard, fail fast and learn“. Versuch, Irrtum oder Scheitern und Lernen. Fehler zu machen ist in den agilen Denkwelten nicht nur erlaubt, sondern explizit erwünscht, da Irrtümer die Grundlage für menschliches (und künstliches) Lernen sind.

Damit stehen agile Methoden im Widerspruch zum Perfektionsanspruch des tayloristischen Systems und den Erfolgsvorstellungen, die unsere Gesellschaft immer noch prägen. Dabei wäre ein Umdenken dringend erforderlich, wie meine Geschichte zeigt.

(M)eine Geschichte

Ich bin gescheitert! Meine Lebensvorstellung war lange Zeit, ein erfolgreicher Unternehmer zu sein – mit Kunden rund um die Welt, innovativen Produkten und Dienstleistungen, engagierten und motivierten Mitarbeitern und einer erfolgreichen Strategie, mein Unternehmen zu entwickeln und schrittweise zu einem der führenden Anbieter meiner Branche in Europa zu positionieren. Das hat auch viele Jahre gut funktioniert. Das Unternehmen wuchs zweistellig, wir gewannen neue Kunden, erschlossen weitere Märkte und konnten uns gegen Wettbewerber erfolgreich durchsetzen. Dann kam der Januar 2009 und unsere Verkäufe fielen plötzlich um circa 50 Prozent unter die des Vorjahres - und blieben dort. Wir restrukturierten, senkten Kosten, entließen Mitarbeiter, begannen mit Kurzarbeit. Am Ende mussten wir doch Insolvenz anmelden. Das war das Ende einer 41-jährigen Unternehmensgeschichte, einer einmaligen Firmenkultur, meiner Identität als erfolgreicher Unternehmer.

Für mich war das damals eine traumatische Erfahrung, die so überhaupt nicht in mein Selbstbild passte und dazu führte, dass ich mich zunächst einmal komplett verloren fühlte. Alles, was mich selbst ausgemacht hatte, war weg. Positiv formuliert hatte ich nun 360 Grad Möglichkeiten, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Realistisch war ich wohl eher „lost in space“. Ich wusste nicht mehr, wohin.

Stillstand bei Kilometer 30

Hinzu kamen Gefühle wie Angst, Schuld und Zweifel. Was sollte aus mir werden? Was würde ich tun? Wer würde einen Geschäftsführer mit Insolvenzerfahrung einstellen? Wie sollte ich mit der gefühlten Stigmatisierung umgehen? Was für einen Wert hatte ich noch? Und da die Suche nach dem Schuldigen, nach einigen Ausflügen über die Finanzkrise, die Banken, die Politik und überhaupt immer wieder zu mir führte, war klar, dass es nur einen Schuldigen geben kann – mich. Verantwortlich für die vielen falschen oder nicht getroffenen Entscheidungen, die, irgendwie und irgendwann, vielleicht zu der Krise und der Insolvenz beigetragen haben. Und daraus sich ableitend der Zweifel, wer ich bin, was ich kann, was ich will und was ich brauche.

Hinzu kam, dass ich als Ausdauersportler gewohnt bin, längere Belastungsphasen durchzustehen. Das geht schon irgendwann vorüber. Im Bild des Marathons war ich halt irgendwo bei Kilometer 30 und spätestens bei Kilometer 36 würde sich die Befreiung wieder einstellen. Nur dass Kilometer 36 nicht so schnell kam, wie ich es erhofft hatte. Diese Ausdauer-Illusion förderte leider auch meine Überzeugung, dass ich dieses Erlebnis alleine verarbeiten könnte und keine Hilfe durch einen Coach oder Therapeuten benötigen würde.

So kam es zu vier schwierigen und wenig produktiven Jahren, in denen ich einerseits an der Vergangenheit festhielt, dadurch diese aber nicht verarbeitete und somit nicht bereit für eine neue – andere – Zukunft war. Bis zum Jahr 2015.

Wendepunkt

Das Jahr 2015 brachte den Wendepunkt durch zwei Erlebnisse: Ich wurde auf eine Konferenz der EU-Kommission in Brüssel zum Thema Second Chance eingeladen, um über mein unternehmerisches Scheitern zu berichten. Wenige Monate später sprach ich das erste Mal auf einer sogenannten „FuckUp-Night“ in Stuttgart. Das Besondere an beiden Erfahrungen: Es gab Menschen, die an meiner Geschichte, an meinen Reflexionen und Erkenntnissen interessiert waren und Respekt dafür äußerten, dass ich über diese Erfahrung berichtete. Sollte meine Insolvenz, mein Scheitern doch für etwas gut sein und einen Sinn haben? Ich fing an, das Phänomen „Scheitern“ anhand meiner Erfahrung zu reflektieren, das Erlebte mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abzugleichen und darüber nachzudenken, welche allgemeingültigen Erkenntnisse sich ableiten ließen. Dabei stieß ich auf fünf Gründe für das Scheitern von Menschen.

Warum scheitern Menschen?

  • Menschen scheitern, weil sie die falschen Ziele und Projekte verfolgen, weil sie anderen, ihrem Chef, ihren Kollegen oder der Familie etwas beweisen wollen, hinter dem sie nicht wirklich stehen. Sie scheitern, weil sie Ziele verfolgen, die nicht wirklich ihre eigenen sind, oder weil sie einen Schein aufrechterhalten.
  • Menschen scheitern, weil sie sich überschätzen, weil sie ihre Kompetenzen, ihre Ressourcen, ihre Stärken und Erfahrungen falsch bewerten und nicht rechtzeitig erkennen, dass sie dabei sind, sich zu übernehmen.
  • Menschen scheiten, weil sie an sich zweifeln. Weil sie sich immer wieder infrage stellen, fällt es ihnen schwer, sich zu fokussieren und die Energie zu bündeln, die für herausfordernde Projekte notwendig ist.
  • Menschen scheitern, weil sie keine Entscheidungen treffen, Angst haben, sich festzulegen und auf der Suche nach einer immer besseren Lösung sind – ohne zu erkennen, dass der erste Schritt einer Reise eine beherzte Entscheidung braucht.
  • Menschen scheitern, weil es unvorhersehbare Zufälle gibt, Ereignisse, mit denen wir nicht rechnen oder von denen wir glauben, dass es sie gar nicht geben könne. Das war zum Beispiel für mich ein Markteinbruch von 50 Prozent für meine Branche oder die Erfahrung, dass eine Bank lieber 95 Prozent ihrer Forderungen abschreibt, als einer positiven Restrukturierung eine Chance zu geben.

In einer VUCA-Welt ist es schwierig, die Konsequenzen eines neuen Projekts vollständig abzusehen und zu prüfen, ob die eigenen Fähigkeiten oder Ressourcen ausreichen. Es gibt keine Sicherheit, dass der Zweifel nicht doch berechtigt ist beziehungsweise eine Entscheidung sich am Ende als richtig oder falsch herausstellt. Und es gibt keine Sicherheit, dass nicht zufällige Ereignisse, technische Innovationen, disruptive Geschäftsmodelle oder politische Verwerfungen zu unvorhersehbaren Konsequenzen für ein Projekt führen.

Niemand scheitert gerne. Und doch gibt es keine Garantie dafür, nicht zu scheitern. Wenn das der Fall ist, dann stellt sich die Frage, warum Führungskräfte, Unternehmenskulturen und unsere Gesellschaft im Allgemeinen sich so schwer damit tun, Scheitern als etwas vollkommen Normales zu akzeptieren. In der Industrialisierung und im Taylorismus war Scheitern eine Störung des auf Leistung und Erfolg ausgerichteten Systems. In der digitalen Welt sind Fehler, Irrtümer und Scheitern die Voraussetzung für schnelle und wichtige Lernerfahrungen. Erfahrungen, die dabei helfen, dass sich der Einzelne, die Unternehmen und die Gesellschaft erfolgreich an eine sich schnell verändernde Umwelt anpassen können.

Erkenntnisse für Unternehmen

Einer der Lösungsansätze wird mit dem Begriff „Fehlerkultur“ umschrieben. Danach brauchen Unternehmen eine Kultur, in der es möglich ist, zu scheitern, ohne dass dies zu personellen Konsequenzen führt. Eine Kultur, in der Mitarbeiter zu Fehlern stehen können, ohne dass sie Angst um ihre Karriere oder ihr Ansehen haben müssen. Lässt sich das in Unternehmen etablieren, die für Qualität, Zuverlässigkeit, Pflichterfüllung, Fehlerfreiheit und Perfektion bekannt sind?

Ich glaube, dass sich die Zukunft vieler Unternehmen nicht nur in der Qualität ihrer Produkte zeigen wird, sondern in ihrer Fähigkeit, schnell zu lernen und sich Veränderungen laufend anpassen zu können. Kurz: Sie müssen agiler werden. Den Umgang mit Fehlern zu verbessern ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Der Begriff Fehlerkultur greift jedoch meines Erachtens zu kurz und er ist verwirrend. Es geht ja nicht darum, mutwillig Fehler zu machen und unkalkulierbare Risiken einzugehen. Unternehmen leben davon, dass sie am Ende wirtschaftlich erfolgreich sind. Hierfür ist aber immer weniger Perfektion gefragt, sondern eine Kultur, in der Fehler, Irrtümer und Scheitern als das betrachtet werden, was sie sind: vollkommen normal und eine Voraussetzung, zu lernen und sich erfolgreich anzupassen.

Aus dem Scheitern lernen

Die erste Voraussetzung für ein Lernen aus Fehlern ist es, das Scheitern anzuerkennen und nicht schönzureden oder verbergen zu wollen. So können Führungskräfte beispielsweise in ihren wöchentlichen oder monatlichen Meetings auch über gescheiterte Projekte sprechen. Wenn alle Beteiligten dies tun, dann wird Scheitern normal und die Energie konzentriert sich auf Lösungen beziehungsweise Lernen und nicht auf das Vertuschen von Fehlern.

Eng damit verbunden ist die zweite Voraussetzung: Wenn Unternehmen aus Fehlern lernen wollen, müssen sie ihre Mitarbeiter ermutigen, darüber zu reden. Das Gespräch war schon immer die beste Therapie – und geteiltes Leid ist halbes Leid. Der Volksmund hat die positive Wirkung des Redens erfasst. Dieses Sichöffnen geht aber mit dem Risiko der persönlichen emotionalen Verletzbarkeit einher: dem Risiko, dass Kollegen diese Offenheit ausnutzen oder dass Führungskräfte ihre Macht demonstrieren wollen. Eine positive Fehlerkultur in Unternehmen setzt daher Angstfreiheit voraus – oder das Gefühl der psychosozialen Sicherheit, wie es die Harvard-Professorin Amy Edmondson formuliert hat. Google hat auf seiner Suche nach den Erfolgsfaktoren erfolgreicher Teams bestätigt, dass eben diese psychosoziale Sicherheit der wichtigste Faktor für den Erfolg von Teams ist.

Neben dem Anerkennen des Scheiterns und dem Gespräch darüber gibt es eine weitere – dritte – Voraussetzung. Um über etwas sprechen zu können, müssen wir es zunächst zu einem gewissen Grad reflektieren. Oft führt allerdings auch ein Gespräch zu einer Vertiefung dieser Reflexion. Erst wenn wir das Erlebte durchdacht haben, können wir aus der eigenen Erfahrung allgemeingültige Erkenntnisse ableiten und damit anderen die Möglichkeit geben, gemeinsam zu lernen. FuckUp-Afternoons in Unternehmen sind eine Möglichkeit, dies zu organisieren. Anfangs sind es oft nur Einzelne, die den Mut haben, ihre Erfahrungen zu teilen. Sobald aber Kollegen und Führungskräfte den Nutzen erkannt haben, steigt nach aller Erfahrung die Bereitschaft, zu einem gemeinsamen Lernen beizutragen – und Vertrauen entsteht.

Die vierte Voraussetzung für einen Lernerfolg aus Scheitern ist der Faktor Zeit. Forschungsergebnisse aus Deutschland und den USA legen nahe, dass der Lernerfolg aus einem gescheiterten Projekt umso größer ist, wenn den betroffenen Projektteilnehmern Zeit eingeräumt wird, diese Erfahrung zu verarbeiten, anstatt gleich wieder in ein neues Projekt einzusteigen.

Damit sind wir bei der fünften Voraussetzung: der Auseinandersetzung mit unseren Emotionen. Lernen gelingt umso besser, je mehr wir die Lerninhalte mit positiven Gedanken verbinden können. Dies steht zunächst in einem Widerspruch mit typischen Gefühlen, die mit der Erfahrung des Scheiterns einhergehen, wie Schuld, Scham, Angst, Zweifel, Wut, Frustration oder Hilflosigkeit. Verstehen wir diese als Hinweise unseres Unterbewussten für unsere persönliche Entwicklung, so ergibt sich die Chance, aus dem Scheitern persönlich zu lernen und daran zu wachsen. Dann könnte man in der Tat auch von einem erfolgreichen Scheitern sprechen.

In diesem Sinne geht es nicht nur um eine Fehlerkultur, sondern vielmehr um eine Vertrauenskultur in Unternehmen, in der wir aus Irrtümern lernen, Kraft für die persönliche Entwicklung ziehen, andere an dieser Erfahrung teilhaben lassen können.

Auflösung bei Kilometer 36

Mit meinen beiden Vorträgen im Jahr 2015 hat sich für mich die Wahrnehmung meiner Insolvenz verändert. Ich suchte mir eine Therapeutin, die mir half, meine Emotionen zu verstehen und zu verarbeiten. Parallel dazu entstand ein Beitrag im SWR-Fernsehen („Mein größter Fehler“). Firmen fragten mich für interne FuckUp-Events an. Am Ende entstand im Sommer 2018 ein Buch. Das Ende einer schwierigen Erfahrung und der Anfang von etwas Neuem.

 

Literaturtipp

FuckUp – Das Scheitern von heute sind die Erfolge von morgen. Von Bert Overlack. Wiley Verlag 2018.