Herr Schütt, IBM ist in verschiedener Hinsicht eine Art Vorreiter, was den Einsatz von Web 2.0 in Unternehmen betrifft. Warum spielt das „Mitmachweb“ für Sie eine so große Rolle?
Die klassische Idee vom Wissensmanagement besteht im Grunde darin, dass Mitarbeiter ihr Wissen in Datenbanken ablegen sollen. Doch die spannende Frage dabei ist: Wie kommt das Wissen in den Köpfen in die dafür vorgesehenen Systeme hinein? Viele Firmen experimentierten in der Vergangenheit mit Motivationsprogrammen. Wir bei der IBM haben schon früh in eine andere Richtung gedacht: Wir wollten uns dem langen Ende des Wissens annähern, das Anderson in seinem Buch „The Long Tail“ beschrieben hat. Anderson erläutert das Prinzip des „Long Tails“ mithilfe der Situation am Buchmarkt: Klassischerweise konzentriert sich der Buchhandel auf die großen Renner, da über die Mehrzahl der Bücher nur eine kleine Minderheit von Experten Auskunft geben kann. Doch Amazon hat dieses Expertenwissen angezapft, indem jeder eine Rezension schreiben kann. Die Folge: Zwei Drittel seines Umsatzes macht Amazon mit Büchern, die eine kleine Auflage haben. In Unternehmen ist die Ausgangssituation häufig ähnlich: Der größte Teil des Wissens ist in keiner Form dokumentiert. Wir haben uns aus dieser Überlegung heraus vor allem gefragt: Wie bekommen wir mehr Informationen des „Long Tails“ in unser Intranet? Denn Mainstream-Informationen hatten wir schon genug. Und genau das war der Punkt zu sagen: „Jetzt machen wir Web 2.0.“

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Foto von Saulo Mohana

Sie haben zum Beispiel ein Blogsystem zur Verfügung gestellt. Was steckt hinter den Blogs bei IBM?
Das unterscheidet sich stark von dem, was im öffentlichen, zumeist privaten Web 2.0 stattfindet. Eine deutsche Übersetzung für Blog ist Internettagebuch und genau das ist es im Firmenkontext eben nicht. Interne Blogs bestehen zu einem großen Teil aus Hinweisen und Tipps, wie man bestimmte Dinge macht. Wenn mehrere Kollegen mich anrufen und immer wieder die gleiche Frage stellen, schreibe ich die Antwort lieber in einen Blog rein als noch zehnmal angerufen zu werden. Außerdem ersetzen die Blogs unter anderem Newsletter, die eigentlich lauter Nachteile haben: Jeder Empfänger speichert die Mails ab und verbraucht damit Platten- und Bänderplatz. Die E-Mail-Newsletter sind auch nicht in einer Suchmaschine zu finden. Ein Blog ist gleichzeitig ein Archiv, weil die älteren Sachen automatisch unten stehen. Blogs werden nur einmal zentral gespeichert, sie lassen sich an die Suchmaschinen anhängen und die Anwender können Tags (Schlagworte) vergeben. Bei IBM nutzen inzwischen rund 40.000 Mitarbeiter die Möglichkeit, mit Blogs Arbeitsabläufe zu dokumentieren.

Welche Regeln geben Sie den Mitarbeitern für Blogs vor und wie kontrollieren Sie, ob sie sich daran halten?
Grundsätzlich gibt es fast keine Regeln. Wenn Mitarbeiter einen eigenen Blog eröffnen, müssen sie unsere Guidelines lesen und versichern, dass sie diese verstanden haben. Darin steht zum Beispiel, dass sie keine anderen Kollegen beleidigen dürfen. Grundsätzlich gibt es aber keine Vorgaben zu den Inhalten und der Kontrollprozess ist ganz anders als das früher üblich war, insbesondere wenn wir an das Wissensmanagement der 90er Jahre denken: Damals haben wir oft von Best-Practice-Prozessen gesprochen. Das hieß, jemand, der etwas veröffentlichen wollte, musste seine Idee einem Experten zuschicken, der das nach dem Vier-Augen-Prinzip überarbeitete und beurteilte. Das entsprach in etwa dem Brockhaus-Prinzip und lähmte die Motivation der Mitarbeiter. Deshalb dreht Web 2.0 das um: Es verschiebt das Prinzip Kontrolle von vorher auf nachher. Die Mitarbeiter können ihre Inhalte gleich ins System einstellen und im Log, also der mitgeschriebenen Tabelle der Veränderungen, können die Wissensmanager im Nachgang kontrollieren, was verändert wurde. Zusätzlich verlässt man sich auf die Intelligenz der Masse, also das Wikipedia-Prinzip. So erhalten Sie wesentlich mehr Information aus diesem „Long Tail“, da die Autoren viel weniger Aufwand und Gängelung im Vorfeld haben.

Neben Blogs setzen Sie auch viele Wikis bei IBM ein. Wie verwenden Sie dieses Instrument?
Etwa zwei Drittel aller IBMler, das sind etwa 200.000 Mitarbeiter, nutzen unser zentrales Wikisystem. Wir haben ungefähr 12.000 Wikis und pro Tag greifen bis zu 56.000 Mitarbeiter auf die Seiten zu. Ein Wiki macht aus meiner Sicht viel Sinn, wenn Unternehmen komplexe Dokumente erstellen wollen, an denen viele Mitarbeiter mitschreiben. Wir bekommen bei der IBM manchmal bis zu 200 Fragen von einem Kunden zu irgendeinem Produktset. Die Aufgabe, eine solche Anfrage zu beantworten, teilen wir normalerweise unter einer ganzen Reihe von Personen auf. Früher lief das über klassische Textverarbeitung. In einem Dokument haben sich die Mitarbeiter bestimmte Kapitel zugewiesen. Einer hat meistens nicht rechtzeitig geliefert und keiner hatte wirklich den Überblick, wo das Dokument steht – also ein ziemliches Chaos. Wenn Sie das in einem Wiki machen, sehen Sie immer den aktuellen Stand von allen Mitarbeitern und Sie können sich direkt darauf beziehen. Ein Wiki eignet sich auch für ein Unternehmensglossar, in das die Mitarbeiter verifizierte Fakten eintragen, die sich nicht mehr ändern. Grundsätzlich bietet ein Wiki auch die Möglichkeit, es einfach als eine Art weißes Blatt Papier zu verwenden und damit zu machen, was man möchte. Aber das halte ich für ziemlich gefährlich.

Warum gefährlich?
Hintergrund ist einfach der: Ich kenne einige Unternehmen, die nutzen Wikis auf diese Weise als zentrale Teamablage oder Ersatz für ein Dokumentenmanagementsystem. Sie schreiben lange Texte hinein mit ganz wilden Verlinkungen. Am Anfang sieht das auch super aus – griffig und pragmatisch. Aber in vier oder fünf Jahren werden viele Firmen so lauter Datenfriedhöfe haben, die an manchen Stellen noch aktuell sind und an anderen nicht mehr. Das können Unternehmen dann kaum noch managen.

Wie können Unternehmen diese Probleme vermeiden?
Viele wissen nicht, wie sie die einzelnen Services im Web 2.0 am besten nutzen. Was bedeutet für mich ein Blog, was ein Wiki und was schreibe ich wo rein? Das klarzustellen, ist ein Thema der Governance. Wer ein Wiki aufbauen möchte, sollte sich eine ganze Reihe von Fragen stellen. Zum Beispiel: Ist vielleicht ein Teamkalender die bessere Lösung, weil ich den dann auch mit dem Mailprogramm synchronisieren kann? Was soll eigentlich das Thema des Wikis sein? Und wer darf an welchen Dokumenten mitschreiben? Außerdem ist es in Wikis schwieriger als in Blogs, Tags auf einzelne Inhalte zu setzen, wenn die Texte sehr lang sind. Damit ist eine differenzierte Suche häufig nicht mehr möglich. Unternehmen sollten sich bewusst sein, dass man in einem Blog viel besser sieht, welche Beiträge aktuell sind. Alle Services bieten Vor- und Nachteile, je nachdem für was Unternehmen sie einsetzen möchten. Deshalb finde ich persönlich eine Kombination aus verschiedenen Services am sinnvollsten, die zusammen in einer Art Ökosystem eine neue Lösung ergeben.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Ein sehr spannendes Ökosystem bei IBM sind die Bluepages. Sie enthalten als Kerndaten die Personalinformationen der Mitarbeiter. Hinzu kommt ein klassischer Ansatz der „Gelben Seiten“ mit persönlichen Profilen, in die die Mitarbeiter entweder über Freitextfelder oder Multiple Choice zusätzliche Dinge, wie zum Beispiel die Projekterfahrung, eintragen können. Das Problem bei solchen „Gelben Seiten“ ist meistens, dass die Mitarbeiter einmal etwas eintragen, wenn das Ganze neu ist und es danach ziemlich schleifen lassen, weil zu wenig passiert. Da sind wir genau im Zentrum dieses Gedankens des Ökosystems: Die Bluepages sind mit über fünfzig anderen Anwendungen verheiratet. Wenn ich zum Beispiel mit anderen zusammen einen Blog oder ein Wiki zu einem bestimmten Thema betreibe, trägt das System automatisch in mein Profil in den Bluepages ein, dass ich in dieser Community aktiv bin. Außerdem ist es in den Bluepages möglich, sich gegenseitig zu taggen.

Können Sie das etwas genauer erklären?
Als Mitarbeiter kann ich sagen, dieser Kollege ist ein Fachmann für xy. Er selbst kann sich auch taggen und sagen, ich bin aber auch noch in z und k Experte. Diese Tags oder Schlagworte benutzen wir wiederum in unserer Suchmaschine. Wenn also jemand in unserer Suchmaschine sucht, bekommt er nicht nur die klassischen Suchergebnisse im Sinne von Google angezeigt, sondern zusätzlich Suchergebnisse: zum einen Dokumente, die mit Tags versehen wurden, die nahe an dem Suchbegriff liegen, und zum anderen Dokumente, die man selbst getaggt und somit schon gelesen hat. Außerdem liefert unsere Suchmaschine Personen aus den Bluepages, deren Tags zu dem Suchbegriff passen. Das heißt, dass die IBMler mithilfe des Taggings Referenzen zwischen den Dokumenten finden und von dort auch zu den Wissensträgern gelangen.

Welches Wissen muss ich selbst noch aktiv mitbringen, wenn in einem solchen Ökosystem fast alle Informationen des Unternehmens zur Verfügung stehen?
Zum einen lässt sich nach wie vor nur einen Bruchteil der Informationen überhaupt dokumentieren, auch wenn wir jetzt viel mehr vom „Long Tail“ im System haben. An alles, was hochgradig abstrakt ist, wie tiefes Expertenwissen, kommt man nur schwer heran. Was Sie aber in Web-2.0-Systemen auch finden, ist die Verbindung zum Experten selbst. Wenn die Mitarbeiter mit diesen Personen sprechen können, ist das schon eine wesentliche Hilfe über das rein Dokumentierte hinaus. Aufgrund dieses neuen Zugangs zu fremdem Wissen werden für Arbeitnehmer zukünftig wohl andere Fähigkeiten wichtig sein als nur Faktenwissen, das zunehmend im Intranet vorhanden ist. Entscheidend wird die Kompetenz sein, mit diesen Tools umgehen zu können.

Wie hat sich Ihre Unternehmenskultur durch den Einsatz von Web 2.0 verändert?
Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der sich langsam über die Jahre wandelt. Früher haben wir noch eine sehr stark hierarchische Organisationen gehabt, in dem die Manager das Wissen verteilten. In Unternehmen, die hauptsächlich Wissensarbeiter brauchen, also zum Beispiel bei einem Beratungsunternehmen, wie es IBM inzwischen zu einem großen Teil auch ist, kann das nicht mehr funktionieren. Wissensarbeiter sollten direkten Zugriff auf Informationen haben, die sie brauchen, um ihre Aufgaben effizient zu erfüllen. Um einen solchen Veränderungsprozess herbeizuführen, muss das Management „Ja“ dazu sagen. Und zwar nicht nur, indem es die Möglichkeiten einer solchen Öffnung schafft, sondern auch, indem es für die entsprechende Akzeptanz sorgt. Es sollte nicht vorkommen, dass ein Manager zu einem Mitarbeiter sagt: „Sie haben ja schon wieder drei Einträge in Ihrem Blog. Haben Sie nichts zu tun?“ Wenn ein Unternehmen klarstellt, dass die neuen Instrumente gewünscht sind, dann verändern sich vor allem die Kommunikationsprozesse: Sie werden durchlässiger. Die klassische Silostruktur, bei der ich nicht mal in den Nachbarbereich sehen darf, gibt es dann natürlich nicht mehr.

Einigen aktuellen Studien zufolge finden die meisten Unternehmensvertreter Web 2.0 zwar für unternehmensinterne Zwecke sinnvoll, aber in der Realität setzen noch die wenigsten die zugehörigen Tools ein. Woran liegt das?
Es gibt einen ganz klaren Unterschied zwischen den drei Web 2.0s: Das eine ist das öffentliche und hauptsächlich aus dem privaten getriebene Web 2.0. Dann gibt es noch ein kleines Web 2.0 als B2C, das die Kommunikationsabteilungen des Unternehmens betreiben und bei dem jemand im Auftrag des Unternehmens nach außen bloggt. Das dritte Web 2.0 ist die Art und Weise, wie IBM hauptsächlich das Web 2.0 einsetzt – im Firmenkontext. Und eben diese Unterschiede sind den meisten Unternehmen nicht bewusst. Viele haben das Gefühl, dass das erste, das öffentliche Web 2.0, schon alles ist und können sich kaum vorstellen, wie sie das auf ihr Unternehmen übertragen sollen. Hinzu kommt, dass Entscheider oft der Altersgruppe über 50 angehören und ihnen die persönliche Erfahrung in diesem Umfeld fehlt. Das ist häufig eine Art Henne-Ei-Problem: Sie kennen die Möglichkeiten nicht und glauben deshalb, sie brauchen sie nicht. Auch wenn der Einsatz von Web 2.0 in Unternehmen noch sehr neu ist, bin ich mir ganz sicher – auch aufgrund der überwältigenden Akzeptanz im privaten Umfeld, dass das kein kurzfristiges Hypethema ist. Wir erleben mit dem Web 2.0 eine substanzielle Änderung in der Art, Datenverarbeitung zu nutzen. Wer sich diesem Veränderungsprozess als erster anschließt, wird daraus die meisten Wettbewerbsvorteile ziehen.

Interview: Stefanie Hornung

Dr. Peter Schütt beteiligt sich am Donnerstag, dem 10. April, von 14.45 bis 15.30 Uhr an der Podiumsdiskussion „Wissensmanagement 2.0: Zwischen Freiheit und Kontrolle“. Am Beispiel von Wikis diskutieren darin Vertreter aus Wissenschaft und Praxis, welche Chancen und Risiken das Web 2.0 für Unternehmen bieten kann.