ENTSCHEIDUNG

three people sitting in front of table laughing together
Foto von Brooke Cagle

Das angerufene dänische Gericht legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob nach der RL 2000/78/EG eine Adipositas als eine Behinderung anzusehen ist. Deutschland hatte die RL mit dem AGG in nationales Recht umgesetzt. Der EuGH verneinte die Frage. Eine Adipositas als solche stellt danach keine Behinderung i. S. d. RL und damit auch nicht i. S. d. deutschen (oder dänischen) nationalen Rechts dar. Die Luxemburger Richter verwiesen auf ihre ständige Rechtsprechung (Urt. v. 11.7.2006 – C-13/05, Rdnr. 55), nach der eine Behinderung im diskriminierungsrechtlichen Sinne gegeben ist, wenn diese eine Einschränkung mit sich bringt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist. Die Beeinträchtigungen müssen geeignet sein, den betroffenen Mitarbeiter in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben zu hindern. Ob eine Adipositas diese Definition ausfüllt, müssen die nationalen Gerichte selbst entscheiden.

KONSEQUENZEN

Für die Betriebspraxis bedeutet dies, dass Krankheiten – auch chronische –, die keine physischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen mit sich bringen, und damit auch keine Einschränkung des Beschäftigten, nicht als Behinderungen i. S. d. AGG angesehen werden müssen. Damit ist die EuGH-Rechtsprechung zu Gunsten der Arbeitgeber strenger als die des BAG, das in der „HIV-Entscheidung“ (Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12, AuA 10/14, S. 613) auch eine symptomlose, nicht mit physischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen einhergehende HIV-Infektion als Behinderung nach dem AGG anerkannt hatte. Der EuGH hat der Vorstellung des dänischen Gerichts, dass es Aussagen zu bestimmten Krankheitsbildern machen würde, eine Absage erteilt. Jede (chronische) Krankheit kann demnach eine Behinderung i. S. d. AGG darstellen, muss es jedoch nicht. Es hat hierzu auch nicht die Auffassung des Generalanwalts (Schlussanträge v. 17.7.2014 – C-354/13) aufgegriffen, bei einer Adipositas des WHO-Grades III (entspricht einem BMi > 40; schwere, extreme oder morbide Adipositas) immer von einer Behinderung auszugehen.

PRAXISTIPP

Auch wenn Fettleibigkeit keine Behinderung sein muss, kann sie es aber sein. Zudem spielen sich eventuelle Schadensersatz- oder Kündigungsschutzklagen zunächst im EuGH-fernen deutschen Rechtszug ab – gestützt auf die HIV-Rechtsprechung könnte also z. B. die Kündigung eines fettleibigen, hierdurch aber physisch, geistig oder psychisch nicht beeinträchtigten Arbeitnehmers durchaus mit der Behauptung einer Diskriminierung erfolgreich angegriffen werden. Daher kann man nur dazu raten, die Adipositas von Arbeitgeberseite am besten gar nicht zu thematisieren – im Kaltoft-Fall war es äußerst ungeschickt, im Trennungsgespräch darauf einzugehen. Dies war der Aufhänger für den Kläger, die Wahrscheinlichkeit einer Diskriminierung behaupten zu können. Und die zuvor gewährte freundliche Unterstützung bei der Finanzierung von Sportkursen hatte sich auch als Bumerang erwiesen. Dies bedeutet zwar nicht, dass betriebliche Sport- oder Gesundheitsprogramme abgeschafft werden sollten. Aber ein individueller Bezug zu einzelnen Mitarbeitern und deren Leiden ist – leider – aus diskriminierungsrechtlicher Sicht nicht ratsam. Und Nachfragen eines übergewichtigen Beschäftigten, ob seine Kündigung (Versetzung, fehlende Beförderung usw.; entsprechend anwendbar auf Bewerber) etwas mit seinem Zustand zu tun haben könnte, sollten unbedingt dahingehend beantwortet werden, dass dies überhaupt nicht der Fall und das Übergewicht völlig unproblematisch sei. 

Foto Copyright: Dr. Klaus-Uwe Gerhardt | www.pixelio.de
Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht | 6-2015 | www.arbeit-und-arbeitsrecht.de

PROBLEMPUNKT

Eine Gemeinde in Dänemark beschäftigte seit 15 Jahren einen Tagesvater, der mit einem durchgehenden BMI von mindestens 54 und einem Gewicht von 160 kg adipös war. Adipositas ist eine international anerkannte Krankheit. Der Arbeitgeber unterstützte den Tagesvater – Herrn Kaltoft – im Zeitraum 2008/2009 finanziell, um diesem den Besuch von Sportkursen zu ermöglichen. Dem Unternehmen war außerdem bekannt, dass Herr Kaltoft (vergeblich) versucht hatte abzunehmen; hierüber gab es regelmäßig Gespräche. Im Jahr 2010 kündigte ihm der Arbeitgeber aus betrieblichen Gründen. Im – nach dänischem Arbeitsrecht obligatorischen – Trennungsgespräch wurde u. a. das Übergewicht erwähnt. Herr Kaltoft erhob Klage und machte Schadensersatz wegen Diskriminierung geltend: Ihm sei wegen seiner Krankheit gekündigt worden, die als Behinderung angesehen werden müsse.