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Foto von Nastuh Abootalebi
Herr Picard, die Otto Group konnte im Krisenjahr 2009 allen Widrigkeiten zum Trotz ein Umsatzplus generieren. Welchen Anteil hat daran aus Ihrer Sicht die Personalarbeit?

Es sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zum Gesamterfolg der Otto Group beitragen. Unsere Personalarbeit sorgt dafür, dass alle Bereiche des Unternehmens für jede Anforderung des Marktes auf optimale personelle Ressourcen zurückgreifen können. Otto ist neben Amazon die Nummer 2 im E-Commerce, unserem Hauptwachstumsmotor. Gerade in diesem Bereich ist es heute nicht so leicht, Stellen in kurzer Zeit mit guten Kandidaten zu besetzen. In Deutschland haben inzwischen viele Firmen das Thema Internethandel und Webpräsenz für sich erkannt und alle schlagen sich um die gleichen Talente. Vor diesem Hintergrund hat es einen hohen Impact, die richtigen Mitspieler an Bord zu holen.

Inwiefern spielt auch die Mitarbeiterbindung eine Rolle?

Da auch die bestehenden Mitarbeiter im Markt umworben werden, ist das ein wichtiges Thema. In unserem Kerngeschäft haben wir deshalb im vergangenen Jahr eine große Aktion gestartet, die wir unter das Motto „Ich bin Otto“ gestellt haben. Damit konnten sich die Mitarbeiter sehr gut identifizieren. Außerdem kommunizieren wir, dass wir auch in der Krise nicht den Kopf in den Sand stecken – im Gegenteil, wir positionieren uns offensiv. Für uns war es deshalb auch wichtig, die durch die Quelle-Insolvenz frei werdenden Marktanteile zu besetzen und unser Personal mit den besten ehemaligen Quelle-Mitarbeitern zu ergänzen – zum Beispiel Azubis.

Sie haben einen Teil der Lehrlinge des Fürther Versandhändlers übernommen. Warum haben Sie sich dazu entschlossen?

Die Entscheidung, Azubis von Quelle zu übernehmen, hat zwei Gründe. Zum einen wollten wir für unsere Ausbildungsplätze einfach gute Leute finden. Das lag hier nahe, denn das Geschäftsfeld ist bei uns ganz ähnlich wie bei Quelle und die Leute verstehen etwas vom Distanzhandel. Zum anderen möchten wir einen Beitrag für das Sozialsystem in Deutschland leisten und denjenigen, die durch die Insolvenz unter die Räder zu geraten drohten, eine Chance geben, ihre Ausbildung zu beenden.

Hat Ihr Erfolg und Wertbeitrag demnach mit der Krise zu- oder abgenommen?

Für uns hat sich die Lage, was Recruitment angeht, verbessert. Das liegt daran, dass wir antizyklisch nach Leuten suchen. Deshalb haben wir derzeit einen extrem hohen Bewerbungszulauf und das hat die Rekrutierungszeiten deutlich verkürzt. In Bezug auf die Mitarbeiterbindung haben wir davon profitiert, dass andere Unternehmen in der Krise Probleme hatten. Unsere Fluktuationsrate ist deshalb aktuell sehr niedrig.

Langfristig betrachtet könnte der demografische Wandel aber auch für Sie zum Problem werden. Wie verhindern Sie das?

Demografischer Wandel heißt übersetzt eine Verknappung der Ertragspersonen. Es ist mit Sicherheit so, dass es sowohl für Ausbildungsplätze als auch für einige Spezialdisziplinen schon Rekrutierungsprobleme in Deutschland gibt. Da kann man ansatzweise den demografischen Wandel erkennen. Auf der anderen Seite ist Panik fehl am Platz, denn wir hatten in Deutschland schon immer bestimmte Verknappungen – zum Beispiel mal bei den Ingenieuren, mal bei den Controllern, mal bei den Ärzten. Das gleicht sich zeitlich verzögert in gewissem Maße dadurch aus, dass plötzlich viele Menschen ein Engpass-Fach studieren, weil sie auf gute Karrierechancen hoffen.

Mittel- bis langfristig stellen wir uns aber schon die Frage, wie viele Mitarbeiter wir brauchen, wenn die Verknappung eintritt. Wir schauen uns dazu beispielsweise genau an, wie sich die technologischen Möglichkeiten, die Struktur der Bevölkerung und ihre Nachfrage entwickeln. Daraus leiten wir ab, welche Produkte man überhaupt in fünf oder zehn Jahren nachfragen wird. Wir richten unsere Strategie daran aus, was wir dann als Handelsunternehmen anbieten möchten und welche Qualifikation wir dafür brauchen.

Welche Handlungsfelder ergeben sich daraus?

Neben Instrumenten der Mitarbeiterbindung stellt sich mit zunehmender Verknappung von Arbeitskräften in Deutschland für uns die Frage, wie wir aus dem Ausland Leute nach Deutschland holen können. Wir analysieren, in welchen Auslandsmärkten es für uns passende Potenziale gibt. Wir möchten Arbeitspakete gegebenenfalls auch an Orte verlagern können, wo Leute sitzen, die für uns wichtige Qualifikationen besitzen. Wir müssen uns sukzessive davon verabschieden, dass Arbeitsplätze immer an ein- und demselben Standort geschaffen werden. Wir beschäftigen uns außerdem intensiv damit, wie wir uns als Top-Arbeitgeber bekannt machen. Was das Personalmarketing betrifft, haben wir in den vergangenen Jahren vor allem unsere Social-Media-Aktivitäten verstärkt, um zu zeigen, dass wir ein innovatives Multi-Channel-Unternehmen mit über 60 Prozent E-Commerce-Geschäft sind.

Wie agieren Sie konkret im Web 2.0?

An Leute im E-Commerce und IT-Bereich kommen wir mit Printanzeigen nicht mehr heran, deshalb haben wir klassische Stellenanzeigen nahezu eingestellt. Wir rekrutieren heute gezielt über das Internet: Mitarbeiter aus unserem Personalrecruitment suchen gezielt nach Kandidaten über soziale Netzwerke wie Xing, Facebook oder Twitter und sprechen diese an.

Teilweise präsentieren wir uns online mit Experten aus unserem Haus – in sogenannten Live-Talks. Interessierte Bewerber können sich dabei in einen Videoübertragungsraum einklinken, in dem wir beispielsweise darstellen, was wir im Bereich E-Commerce tun. Die Zuschauer erfahren mehr über unsere Strategien, Handlungsfelder und Jobmöglichkeiten und können via Chat direkt Fragen stellen. Dies ermöglicht eine realistische ‚Job Preview‘, die allein über eine Stellenausschreibung nicht möglich ist. Diese Live-Talks bewerben wir mit unserer Banner-Kampagne auf unseren entsprechenden Stellenausschreibungen in den Online-Stellenbörsen wie Stepstone oder Monster. Auf Twitter sind wir vor 1,5 Jahren schon gestartet und haben unsere Jobs und Informationen zur Otto Group gepostet. Wir haben ungefähr 1.400 Follower, die sich für unsere Jobs und die Themen, die wir twittern, interessieren.

Inwiefern können Ihre Mitarbeiter Web-2.0-Anwendungen auch intern nutzen?

Wir setzen Social Media ausgiebig ein, zum Beispiel für das Ideenmanagement. In Foren und Online-Räumen können Mitarbeiter Ideen diskutieren. Wir haben außerdem Blogs aufgesetzt – etwa einen internen IT-Blog oder einen Modeblog, in den sich auch Externe einbringen können. Daneben übertragen wir auch größere Veranstaltungen wie Betriebsversammlungen übers Netz – live oder in einem Zusammenschnitt –, wenn manche Teilnehmer nicht selbst vor Ort sein können. Denn Arbeitszeit- und Arbeitsort werden bei uns immer flexibler.

Welche Freiheiten genießen die Mitarbeiter bei Otto in Bezug auf diese Flexibilisierung?

Das hängt von einzelnen Fachbereichen und Funktionen ab. Manche Mitarbeiter müssen hier vor Ort sein. In anderen Bereichen, zum Beispiel in einzelnen IT-Funktionen oder im Recruitment, gibt es die Möglichkeit und oftmals sogar die Notwendigkeit von zuhause oder unterwegs zu arbeiten. Die Mitarbeiter erhalten mobile Arbeitsmittel in Absprache mit ihren Führungskräften wie Laptop oder Smartphone, um jederzeit handlungsfähig zu sein.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir damit die Arbeitsorganisation deutlich verbessern, denn der Mitarbeiter entscheidet selbst, wann er an welchen Problemen oder Projekten arbeitet – wichtig ist nur, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt Ergebnisse liefert. Außerdem können die Mitarbeiter ihren Arbeitsrhythmus besser mit ihrem persönlichen Umfeld verbinden. Ein Beispiel: Ich kann zwischen 18 und 19 Uhr eine Sporteinheit einlegen, danach mit meiner Familie zu Abend essen und danach noch einmal an meinem Laptop Unterlagen vorbereiten, die ich am nächsten Tag dringend brauche.

Hat die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsplatzes etwas damit zu tun, dass die Arbeitnehmer höhere Erwartungen an die Work-Life-Balance haben oder ist das eine rein technologiegetriebene Veränderung?

Beides. Es geht um die Frage, wie wir technische Möglichkeiten nutzen können, um die Work-Life-Balance zu unterstützen. Das sehe ich als ein ganz breites Feld, das die körperliche und geistige Fitness einschließt. Wir sollten die Beschäftigten in die Lage versetzen, bis zur Erreichung des Vollrentenalters, also bis heute 67, arbeiten zu können.

In Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas gilt der Vorruhestand immer noch als das erstrebenswerteste Lebensmodell. Doch das kann irgendwann nicht mehr funktionieren. Wenn die Erwerbspersonen weniger werden, können wir nicht weiter den Vorruhestand fördern. Deshalb ist es auch vernünftig, dass Alterszeitzeit als wesentliche Fördermaßnahme vom Markt genommen wurde. Wir als Unternehmen und auch die Bundesregierung müssen den Menschen viel stärker vermitteln, dass sie bis zur Vollzeitrente arbeiten müssen. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe, Gesundheits-, Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen zu entwickeln, die Mitarbeiter möglichst lange im Erwerbsleben halten.

Otto hat diesbezüglich eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt und dafür auch eine Reihe von Auszeichnungen als Arbeitgeber erhalten. Was ist das Erfolgsrezept Ihrer Personalarbeit?

Wir fokussieren uns darauf, was das Geschäft braucht. Außerdem ist es unser Ziel, innovativste Personalarbeit zu betreiben – und zwar ganz systematisch. Allerdings halten wir überhaupt nichts davon, Management by Helikopter zu betreiben: kurz anschweben, viel Staub aufwirbeln und schnell wieder weg fliegen! Wir halten die Augen offen und entwickeln innovative Ansätze, testen diese und wenn sie sich bewähren, dann setzen wir sie konsequent um. Und das machen wir – so abgedroschen es vielleicht klingt – mit Nachhaltigkeit. Wir suchen permanent nach Lösungen, die unsere Prozesse vereinfachen, den Führungskräften und Mitarbeitern helfen und dem Unternehmen einen Nutzen bringen.

Interview: Stefanie Hornung