Herr Stroh, die Arbeitswelt wandelt sich: In der westlichen Welt macht sich der demographische Wandel zunehmend bemerkbar. Gleichzeitig erhöhen technische Entwicklungen weltweit die Veränderungsgeschwindigkeit. Was heißt das für Unternehmen in Deutschland?
Um die Veränderungen in der Arbeitswelt zu meistern, müssen sich Unternehmen verstärkt fragen, wie sie das richtige Personal gewinnen – vor allem die so genannte kreative Klasse. Der branchenübergreifende Kampf um Hochschulabsolventen und hochqualifizierte Profis wird sich verstärken. Diese Talente bewegen sich in bestimmten Zentren mit hoher Lebensqualität, in denen sich viele attraktive Arbeitgeber befinden. Das ist in Deutschland so, funktioniert aber auch international nicht anders, denn die kreative Klasse ist hochmobil – wenn sie ihre privaten und beruflichen Vorstellungen in einer Umgebung und dem Unternehmen weitestgehend erfüllen können.
Welche Recruitingansätze sind angesichts dieser Entwicklung erfolgversprechend?
Unternehmen sollten die Voraussetzungen für ein Image schaffen, mit dem sie ihre eigene Veränderungsfähigkeit deutlich machen. Eine Möglichkeit, um das zu zeigen, bieten Entwicklungsnetzwerke: Klassische Muster im Sinne von Karrierepfaden sind für die kreative Klasse nicht länger attraktiv. Vorgesetzte, die heute Mitarbeiter suchen, sind meistens in genau diesen alten Pfaden groß geworden. Mit diesen Wurzeln zu brechen, ist deshalb eine große Herausforderung für Führungskräfte und Personaler in Unternehmen. Sie müssen verstärkt die individuellen Situationen von Mitarbeitern verstehen und Angebote machen, die nicht mehr zwangsläufig von kollektiv gültigen Regeln abhängig sind. Wir müssen noch mehr wegkommen von straffen Vollzeitmodellen und insbesondere für die Mitarbeiter, die persönliche Aspekte berücksichtigen wollen und müssen, nach flexiblen Lösungen suchen.
Das hört sich so an, als ob Recruiting immer mehr zu einem Teil der Unternehmenskultur wird.
Besser gesagt, im Rekrutierungsprozess spiegelt sich die Unternehmenskultur! Die Kultur eines Unternehmens ist ja kein selbständig definierbares Element, sondern entsteht durch die Art und Weise, wie die Mitarbeiter das Management über individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und Führung erleben. Jeder, der sich für ein Unternehmen bewirbt, wird an der Realität messen, ob die Firma die Versprechen seines Personalmarketings einhält. Das heißt: Das Leistungsversprechen, das wir gegenüber einem Bewerber und damit dem späteren Mitarbeiter abgegeben, wird in Zukunft noch stärker auf dem Prüfstand stehen, weil insbesondere „die Kreativen“, sich nicht auf zu große Unterschiede zwischen Marketing und Wirklichkeit einlassen. Die Mitarbeiter sind beziehungsweise werden viel mobiler und damit auch weniger loyal – sie sind schneller wieder weg. Aus Sicht des Unternehmens eine teure, aber eben auch vermeidbare Konsequenz.
Wie versuchen Sie in der Praxis, eine neue Unternehmenskultur zu schaffen?
Es geht weniger um Neues als um eine Weiterentwicklung. Tragen wir mit unseren Prozessen und Instrumenten der Veränderungsgeschwindigkeit und deren Auswirkungen auf die Menschen im Unternehmen Rechnung? Die Antwort ist häufig noch „Nein“. Wir müssen noch mehr von der Information zur Kommunikation kommen. Bei meinen vorherigen Unternehmen haben wir das vor allem in Veränderungsprozessen mit intensiven Dialogen über Hierarchie- und Funktionsgrenzen hinweg versucht. Das Instrument nannten wir „Führung konkret“: Regelmäßig trafen sich zwei Vorstände mit bis zu 16 Führungskräften aus verschiedenen Bereichen des Unternehmens, um sich über deren Anforderungen im Führungsalltag und ihre offenen Fragen im Umgang mit ihren Mitarbeiter auszutauschen. Wir fühlten also den Veränderungen und Änderungsmöglichkeiten direkt auf den Puls, um sehr schnell auf die Ereignisse im Unternehmen reagieren zu können. Mit diesem Ansatz entwickelten wir auch schrittweise direkt die Unternehmenskultur weiter, denn diese entsteht vor allem durch Offenheit und Vertrauen in die Führung.
Um neue Ideen zu entwickeln, brauchen Kreativarbeiter auch Freiraum zum Denken. Wie sollten Unternehmen dabei am besten vorgehen?
Das ist nicht in allen Unternehmen gleich, aber prinzipiell glaube ich, dass Freiräume einerseits wichtig sind, jedoch mit einem klar definierten Ziel für bestimmte Zeiträume verknüpft sein sollten – etwa mit der Vorgabe, wie viele marktfähige Produkte entstehen sollen. Denn letztendlich ist Kreativität im Unternehmen kein Selbstzweck, sondern soll Innovationen schaffen und neue Serviceleistungen und Produkte für die Kunden generieren. Das heißt jedoch nicht, dass Unternehmen im Vorhinein definieren, welche Ergebnisse herauskommen sollen. Diese ergeben sich eben erst durch die kreativen Freiräume.
Welche Rolle hat vor diesem Hintergrund das Personalmanagement?
Das Personalmanagement bewegt sich immer stärker pendelnd zwischen kreativer Klasse und Prekariat. HR-Manager können sich nicht ausschließlich auf die Wissensavantgarde konzentrieren, sondern müssen auch gleichzeitig einfache oder einfachere Arbeit im Blick haben. Das erfordert beispielsweise alternative Entwicklungsangebote in den Unternehmen. Wenn es jedoch um die kreativen Talente geht, besteht die Aufgabe von Personalmanagement vor allem darin, Führungskräfte für den Umgang mit diesem Mitarbeitertypus zu qualifizieren. Personaler sollten Sensoren für Veränderungen entwickeln. Nur so können sie die Führungsetage rechtzeitig darauf hinzuweisen, wenn Handlungsbedarf besteht. Wir können es uns nicht leisten, durch falsches Führungsverhalten, Mitarbeiter, die wir mit viel Aufwand gewinnen, wieder zu verlieren – einfach weil Manager nicht adäquat führen. Deshalb besteht eine weitere wesentliche Aufgabe darin, Prozesse zu etablieren, die sicherstellen, dass die Qualität von Führung und Führenden regelmäßig überprüft wird.
Welche Rolle wird Weiterbildung zukünftig spielen?
Heute zählen für die Top-Mitarbeiter andere Schlüsselqualifikationen als bisher. Die kreative Klasse bringt vor allem die Fähigkeit mit, sich in veränderten Situationen positiv adaptieren zu können. Sie will in der Lage sein, ihre Fähigkeiten immer wieder zu stärken und dazu passende, interessante Aufgaben zu finden – im Unternehmen oder eben anderswo. Die Frage ist, wer dafür verantwortlich ist, dass die Mitarbeiter in diesem Sinne beschäftigungsfähig bleiben. Hier muss ein neuer Kontrakt zwischen Unternehmen und Mitarbeitern entstehen.
Was meinen Sie damit?
Es geht zunächst darum, zu klären, wie lange Menschen arbeiten und sich dafür geistig und körperlich fit halten müssen. Nach wie vor gibt es häufig Endvierziger, die kaum noch in ihre Qualifizierung investieren. Sie setzen sich gedanklich bereits mit dem vermeintlichen oder herbeigesehnten Berufsende auseinander, obwohl sie noch mehr als 15 Jahre Arbeit vor sich haben. Meiner Ansicht nach tragen die Mitarbeiter diesbezüglich gemeinsam mit den Unternehmen die Verantwortung. Das Personalmanagement hat dabei die Aufgabe, Arbeitsangebote zu entwickeln, die lebensphasengerecht sind und der schnellen Veränderung gerecht werden. Außerdem stehen auch die Hochschulen in der Pflicht; Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote für Menschen in späteren Lebensphasen sind noch unzureichend. Wir müssen uns noch mehr Gedanken darüber machen und Lösungen finden, wer wie viel Zeit und Geld in die Weiterbildung investiert.
Welche Botschaft hat die HR Alliance vor diesem Hintergrund an die Hochschulen?
Es kommt darauf an, dass wir hier eine gute Mischung hinbekommen. Von unserer Seite, also der Seite des Human Resources Managements, bemühen wir uns darum, bestmögliche Voraussetzungen bei Erstausbildung und Weiterbildung aus Sicht der Arbeitswelt zu schaffen. Wir engagieren uns etwa in der Initiative „Bachelor Welcome“ und der MINT-Offensive, gestalten neue Studienangebote mit und zeigen so die Bereitschaft, uns enger mit Hochschulen zu verzahnen. Im Gegenzug erwarten wir, dass sich auch die Hochschulen öffnen. Der Bologna-Prozess bietet eine Riesenchance, Schlüsselkompetenzen der kreativen Klasse stärker zu fördern. Derzeit bin ich mir aber nicht sicher, ob alle Hochschulen diese Chance nutzen. Sie müssen ihre Studienangebote und Curricula auch tatsächlich verändern und weiterentwickeln – auch unter Berücksichtigung der absehbaren künftigen Anforderungen im System Arbeit.
Welche Ziele verfolgen Sie außerdem mit der HR Alliance?
Die Mitgliedsinitiativen der 2007 gegründeten „HR-Alliance“ – das sind die Selbst GmbH, der arbeitskreis personal marketing (dapm) und der Goinger Kreis – versprechen sich durch das gemeinsame Netzwerk eine größere Schlagkraft. Wir sehen, dass häufig für die künftige Unternehmensentwicklung relevante Personalthemen viel zu langsam und nicht mit genügend Nachdruck angegangen werden. Unser Ziel ist es, diesbezüglich auf das Personalmanagement, aber auch auf das Management allgemein einzuwirken, damit sie sich mit den Anforderungen der Arbeitswelt intensiver auseinander setzen und Lösungsangebote entwickeln.
Inwiefern unterscheidet sich dieser Ansatz von dem des DGFP?
Es geht uns nicht um Abgrenzung, sondern um die Geschwindigkeit, mit der bestimmte Themen offen benannt werden und vorankommen. Bei manchen Veranstaltungen und Kongressen haben wir den Eindruck, dass die nötige Innovationsfreude fehlt, um Personalfragen wirklich weiter zu entwickeln. Wir möchten die Themen des Personalmanagements nicht durch die Brille bestimmter Partikularinteressen betrachten. Deshalb ist die HR Alliance auch als Netzwerk angelegt. Oberste Priorität hat für uns, dass das Personalmanagement sich unternehmerisch versteht und sichtbare Beiträge zur Unternehmensentwicklung generiert.
Interview: Stefanie Hornung
Veranstaltungstipps:
Karl-Heinz Stroh vertritt seinen Standpunkt am 9. September auf zwei Podiumsdiskussionen der Zukunft Personal: Um 10.15 Uhr beteiligt er sich unter der Moderation von Erwin Stickling, stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Personalwirtschaft, an der Debatte „Besser, schneller, effizienter – HR-Strukturen auf dem Prüfstand“. In der Diskussion „Quo Vadis Personalmanagement“ können die Fachbesucher um 15.30 Uhr neben Herrn Stroh weitere Vertreter der HR Alliance live erleben: Regina Fuhrmann, Geschäftsführerin der „Selbst GmbH“, Siefgried Baumeister, Voss Automotive GmbH, Wolfgang Brickwedde, dapm der arbeitskreis personalmarketing e.V., und Dr. Ulrich Althauser, hr.quadrat. Die Moderation übernimmt Prof. Dr. Jutta Rump vom Institut für Beschäftigung und Employability Ludwigshafen. Weitere Informationen zur Zukunft Personal sind unter www.zukunft-personal.de erhältlich.
Um den Spagat zwischen „Wissensavantgarde und Prekariat“ wird es außerdem auf dem nächsten „ZukunftsForum Personal“ im September 2009 gehen. Weitere Informationen zu dem Kongress und zur „HR-Alliance“ finden Sie unter www.zukunftsforum-personal.org und www.hr-alliance.eu.