Die Thematik der Urlaubsansprüche von langjährig arbeitsunfähigen Arbeitnehmern kommt nicht zur Ruhe. Bis zum Jahr 2009 gab es keine Zweifel: Der Urlaubsanspruch des Vorjahres erlischt spätestens am 31.03. Nachdem der Europäische Gerichtshof im Fall "Schultz-Hoff" (Az. C-350/06) Anfang 2009 entschied, dass ein Arbeitnehmer auch während einer lang andauernden Erkrankung seinen gesetzlichen Urlaubsanspruch nicht verliert, veränderte sich schlagartig das deutsche Urlaubsrecht.
Viele Unternehmen beschäftigen bisher jahrelang dauerkranke Arbeitnehmer weiter, obwohl nicht absehbar ist, ob sie je wieder arbeiten können. Da diese Arbeitnehmer während der Krankheit nichts kosten, galt es vielerorts als sozial, diese Mitarbeiter nicht personenbedingt zu kündigen, sondern zunächst abzuwarten, wie sich die Gesundheit des Mitarbeiters entwickelt. Diese Handhabung ist seit der EuGH-Entscheidung "Schultz-Hoff" mit nicht unerheblichen finanzielle Risiken behaftet: Der Urlaubsanspruch des dauerkranken Mitarbeiters kumuliert sich Jahr für Jahr und der Arbeitgeber muss Rückstellungen bilden. Die Toleranz gegenüber langfristig Erkrankten Mitarbeitern ist also nicht mehr kostenlos zu haben.
Erneute Vorlage an den EuGH
Das LAG Hamm hat mit Beschluss vom 15. April 2010 (Az.: 16 Sa 1176/09) dem EuGH das Thema Urlaubsanspruch langjährig erkrankter Arbeitnehmer erneut vorgelegt. Das LAG Hamm vertritt die Auffassung, dass die Ansammlung von Urlaub zugunsten eines langjährig erkrankten Arbeitnehmers über mehrere Jahre hinweg nicht geboten erscheint. Laut dem LAG Hamm ist es zweifelhaft, ob die europäische Richtlinie zum Urlaub eine unter Umständen mehrwöchig angesammelte Ruhezeit tatsächlich erfordere oder nicht eine Begrenzung auf beispielsweise höchstens 18 Monate Übertragungszeitraum angemessen sei.
Der im Fall des LAG Hamm zur Anwendung kommende Tarifvertrag sieht eine Übertragung auf 15 Monate im Fall der Dauererkrankung vor. Da der EuGH im Fall "Schultz-Hoff" nur zu Urlaubsansprüchen aus dem Vorjahr und dem laufenden Jahr entschieden habe, sei ungeklärt, ob eine jahrelange Ansammlung geboten erscheint. Im Fall des LAG Hamm wurde die Abgeltung für den gesetzlichen Urlaubsanspruch für Jahre von insgesamt 60 Tagen eingeklagt. Der EuGH muss sich also erneut mit dieser Thematik auseinandersetzen und eine Klärung der noch offenen Fragen vornehmen.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis der Arbeitgeber bedeutet dies, dass bis zur Klärung der Vorlagefrage durch den EuGH eine Urlaubsgewährung oder Urlaubabgeltung bei Ausscheiden des Mitarbeiters für das laufenden Jahr und das Vorjahr zu gewähren ist, wenn der Mitarbeiter in diesen Zeiträumen erkrankt war und keinen Urlaub nehmen konnte. Über diesen Zeitraum hinaus sollten Arbeitgeber überprüfen, ob es wie im Fall des LAG Hamm (dort 15 Monate Übertragung aufgrund Tarifvertrag) tarifliche oder vertragliche Regelungen gibt, die einen ähnlich langen Übertragungszeitraum vorsehen. Ist dies der Fall, dann kann der Arbeitgeber unter Berufung auf die Vorlageentscheidung des LAG Hamm den Urlaubsanspruch (zumindest zunächst) ablehnen. Klagt der Arbeitnehmer, wird das Verfahren bis zur Klärung des EuGH vermutlich ausgesetzt werden. Wenn der EuGH eine Begrenzung des gesetzlichen Mindesturlaubs zulassen sollte, müssen Unternehmen ihre Arbeits- und Tarifverträge in Zukunft entsprechend anpassen.
Unterscheidung im Arbeitsvertrag zwischen vertraglichem und gesetzlichem Urlaubsanspruch
In jedem Fall ist bereits jetzt im Arbeitsvertrag eine klare Differenzierung zwischen dem gesetzlichen (20 Tage bei 5-Tage-Woche) und dem zusätzlich gewährten vertraglichen Urlaubsanspruch (regelmäßig 10 Tage) vorzunehmen. Für den zusätzlich gewährten vertraglichen Urlaub sollte der Arbeitgeber eine eigene Regelung zum Verfall des vertraglichen Urlaubs aufnehmen.
Wer darauf spekuliert, dass der EuGH den vom LAG Hamm erwähnten 18-monatigen Übertragungszeitraum billigen wird, kann in den Arbeitsvertrag einen entsprechenden separaten Absatz bei der Urlaubsregelung integrieren, der auch einen Verfall des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nach 18 Monaten vorsieht. Wenn der EuGH diese Regelung nicht billigt, ist dieser Absatz unwirksam, der Rest bleibt jedoch bestehen. Billigt der EuGH diese Grenze, dann hat der Arbeitgeber bereits frühzeitig eine wirksame Begrenzung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs erreicht.