Die Anforderungen an Führungskräfte haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie und die damit verbundene dezentrale Arbeitsweise in vielen Berufsgruppen hat die hierarchische Führung nach dem „Command-and-Control-Prinzip“ ausgedient, weil sie schlicht und ergreifend so nicht mehr umsetzbar ist. Auch eine zunehmend globalisierte Arbeitswelt, in der Teams an unterschiedlichen Standorten sitzen, trägt dazu bei, dass die Ansprüche an Führung komplexer werden. In dieser sogenannten Arbeitswelt 4.0, deren Treiber unter anderem die Digitalisierung ist, arbeiten Menschen zunehmend orts- und zeitunabhängig miteinander.

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Entwicklung der eigenen Mitarbeiter als Stärkung des Unternehmens

Das, was wir Führung nennen, wird immer weniger greifbar. Das, was unsere komplexe Umwelt fordert, wird immer undurchsichtiger. Ein möglicher Weg hieraus ist die Entfaltung eines außergewöhnlichen, reflektierten Führungshandelns und Führungsstils. Neben den Fachkompetenzen wächst die Bedeutung der sozialen, personalen und methodischen Kompetenz. Der zentrale Ansatzpunkt zur Stärkung der Unternehmen ist es, die Mitglieder der Organisation selbst zu entwickeln. Ihre Potenzialentfaltung sowie die Förderung ihrer Selbststeuerung gewinnen nicht nur in einer Welt immer komplexerer wirtschaftlicher Verflechtungen zunehmend an Bedeutung.

Coaching durch den Chef ist mehr als konstruktives Feedback

Die Arbeit mit Zielvorgaben zu verteilen und konstruktives Feedback zu geben, genügt hierfür schon lange nicht mehr. Der Chef als Förderer der Mitarbeiter ist in diesem Zusammenhang nicht neu. Doch die Erwartungen gehen darüber hinaus: Coaching als eigenes Führungsinstrument, das nicht nur wertschätzenden Führungskriterien folgt, sondern klassische Coaching-Tools einsetzt und sogar individuellem Coaching-Bedarf abhilft, eröffnet ein völlig neues Potential. Doch welche Grundlagen gelten hierfür und welche Voraussetzungen müssen hierfür geschaffen sein?  

Chef-Coaching erfordert eine umfängliche Einsatzstrategie

Es gibt keine simplen Erfolgskriterien für Chef-Coaching, weder organisationaler noch personaler Art. Die Vielschichtigkeit erfordert eine sorgfältige Einsatzstrategie, die sowohl das Unternehmen als auch die Führungskraft betrifft. Coaching ist eine Form der Personalentwicklung, die nicht vorrangig die Ziele des Unternehmens integriert, sondern die Wünsche, Interessen und das Problemlöseverhalten der Mitarbeiter. Das Unternehmensumfeld muss dafür entsprechend tragfähig sein und über eine Unternehmenskultur verfügen, die eine klare Linie für eine wertschätzende Grundhaltung den Mitarbeitenden gegenüber und untereinander, in Form von verlässlichen Regeln und Rahmenbedingungen, bietet.

Voraussetzung im Unternehmen

Chef-Coaching lässt sich nicht in jedem Unternehmen etablieren. Vielmehr muss das Unternehmen per se über eine Kultur verfügen, in der eine tief verwurzelte Lern- und Veränderungsbereitschaft, eine werteorientierte Vertrauensbasis sowie eine gute Kommunikations- und Feedbackkultur die Grundpfeiler sind. Diese einzelnen Aspekte bedingen sich gegenseitig. So ist beispielsweise eine tief verwurzelte Lern- und Veränderungsbereitschaft nur dann möglich, wenn sie auf einem angstfreien und vertrauensvollen Umgang miteinander fußt. Kommunikation wiederum fördert die Entstehung von Vertrauen, ihre Unterbindung erschwert bis verhindert den Prozess. Kommunikation ist damit für den Aufbau von Vertrauen auch im beruflichen Kontext die entscheidende Determinante.

Voraussetzungen bei der Führungskraft

Nicht jeder Vorgesetzte eignet sich als Chef-Coach. Im besten Fall hat eine Führungskraft, die im vorigen Absatz beschriebenen Unternehmenswerte mit entwickelt und implementiert oder ist sogar selbst aus ihnen erwachsen. Kriterien wie Selbstwertüberzeugung, Selbstvertrauen und auch Selbststeuerungskompetenz sind für coachende Vorgesetzte ebenso essentiell wie grundsätzliches Interesse an Menschen und kommunikative Kompetenz. Aber auch durch die Fähigkeit, sich empathisch in die Gefühlslage eines Mitarbeiters oder einer bestimmten Mitarbeitergruppe hineinversetzen zu können, ist wesentlich, genau wie deren Grenzen zu kennen. Darüber hinaus darf ein coachender Chef keine institutionalisierten Handlungsmuster statisch abrufen und anwenden, sondern muss den jeweils Beteiligten individuell dazu anhalten, seinen eigenen Entwicklungsprozess zu gestalten. Dieses Grundvertrauen braucht ein stabiles Selbstwertgefüge basierend auf Selbstvertrauen und Selbststeuerungskompetenz. Alles in allem sollte der coachende Chef ein souveräner Mensch sein, der selbst im Rahmen einer angemessenen Ausbildung eigene Coaching-Kompetenz erworben hat.

Chef-Coaching in der Praxis

Um Chef-Coaching in der Praxis erfolgreich zu implementieren ist eine klare Rollenverteilung sowie ein klarer Rahmen essentiell. Heißt konkret, dass der Mitarbeiter seinen Vorgesetzten als „Coach“ oder als „Chef“ unterschiedlich wahrnehmen muss, ohne dass klare Strukturen und Verantwortlichkeiten im Unternehmen verwischt werden. Klare An- und Absprachen bilden die Grundlage hierfür. Wird die trennscharfe Rollenverteilung aufgehoben, beispielsweise um „mal eben kurz“ auf dem Flur etwas anzusprechen, was man – egal ob Mitarbeiter/Klient oder Chef/Coach – gestern bei der Coaching-Sitzung vergessen hat, birgt dies eine unberechenbare Interaktionskomponente: Der Angesprochene kommt vielleicht gerade aus einer unguten stressigen Situation und hat deshalb keine mentalen Kapazitäten frei, um die Information entsprechend zu sortieren.
Grundsätzlich coacht der Chef den Mitarbeiter, um dessen Persönlichkeit weiterzuentwickeln, was diesem wiederum zu mehr Erfolg im Job verhilft. Für gewöhnlich wirkt sich ein gutes Coaching dann auch auf die persönliche Situation des Klienten aus, diese ist jedoch nicht ins alleinige Visier zu nehmen. Die Priorität beim Chef-Coaching gehört den beruflichen Zielen.

Chef Coaching als Chance oder Risiko?

Führungskräfte und Mitarbeiter müssen heute immer vielschichtigere Aufgabengebiete bewältigen. Hierfür kann Chef-Coaching wertvolle Hilfe leisten, wenn man weiß, dass es sich um eine insgesamt mitunter riskante Herausforderung handelt, die gleichzeitig viele Chancen bietet. Wer sich diesen Balanceakt nicht zutraut, sollte bei einer klassischen Umsetzung seiner Führungsaufgabe bleiben, beziehungsweise sich ihrer im Kern besinnen, statt herumzudoktern. Dies gefährdet mehr, als es aufbaut. Ein Chef-Coaching verbietet sich immer dann, wenn es einem der Beteiligten schaden könnte beziehungsweise insgesamt kontraproduktiv wirken würde. Auch diese Vorfeldeinschätzung erfordert Erfahrung und darauf aufbauend ein striktes Entscheidungsverhalten. Für alle anderen kann sich ein coachender Chef bei sorgsamer Anwendung als ein optimistischer Vorreiter einer bewusst modern und unternehmerisch gestalteten zukünftigen Führungskultur erweisen.

Quelle: Dieser Gastbeitrag ist ein Auszug aus „Chefsache Coaching“ von Ralf Gasche. In diesem im Januar 2022 erscheinenden Fachbuch stellt Ralf Gasche wesentliche Wirkfaktoren sowie entscheidende Dimensionen von Business-Coaching vor – als ein wirksames Weiterentwicklungstool für Unternehmen und Organisationen.