Problempunkt

Die Arbeitgeberin T ist in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen zur Erkennung von Einbrüchen und zur Verhinderung von Einbruchsdiebstählen tätig. Nach Schließung regionaler Büros und der Konzentration im Zentralbüro Madrid in 2011 müssen die Techniker täglich mit Firmenfahrzeugen von ihrem Wohnort zu den verschiedenen Kundenstandorten in den Regionen fahren, um Sicherheitssysteme einzurichten oder zu warten. Sie haben seitdem keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort mehr.

Die Fahrtzeiten zu den Einsatzorten sind häufig beträchtlich und betragen bis zu 100 km bzw. bis zu drei Stunden. Den Fahrplan (Kunde, Reihenfolge, Termin) erhalten die Arbeitnehmer jeweils am Vortag des Einsatzes. Dabei rechnet das Unternehmen die täglichen Fahrten vom Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zum Wohnort nicht als Arbeitszeit, sondern als Ruhezeit an. T ermittelt die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Zeit zwischen der Ankunft des Beschäftigten am Standort des ersten Kunden des Tages und seiner Abreise vom Standort des letzten Kunden abstellt, wobei sie ausschließlich die Einsatzzeiten an den Standorten und die Fahrzeiten von einem Kunden zum anderen berücksichtigt.

Vor der Schließung der Regionalbüros hatte T die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten hingegen ab der Ankunft in den Büros, um das ihnen zur Verfügung gestellte Fahrzeug, die Kundenliste und den Fahrplan entgegenzunehmen, bis zur Rückkehr am Abend, um das Fahrzeug abzugeben, berechnet.

Das mit der Rechtssache befasste nationale Gericht legte dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vor, ob die Zeit, die die Mitarbeiter für die Fahrten zu Beginn und am Ende des Tages aufwenden, Arbeitszeit i. S. d. Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) ist.

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Foto von Patrick Perkins

Praxistipp

Von der arbeitszeitrechtlichen Bewertung ist dieFrage strikt zu trennen, wann und inwieweitReisezeit zu vergüten ist. Das BAG hatte mit einer vergleichbaren Begründung entschieden, dass die Fahrzeiten eines Wartungsmechanikers von seinem Homeoffice zum Kunden bezahlt werden müssen (BAG, Urt. v. 22.4.2009 – 5 AZR 292/08, NZA-RR 2010, S. 231).

Entscheidung

Der EuGH bejahte die Frage. Die RL 2003/88/EG legt Mindestvorschriften fest. Die Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der EU soll einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer durch Gewährung von – u. a. täglichen und wöchentlichen – Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie die Festlegung einer durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden gewährleisten.

Die verschiedenen Bestimmungen, die die RL in Bezug auf die Höchstdauer der Arbeit und die Mindestruhezeit enthält, sind besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union (EuGH, Beschl. v. 4.3.2011 – C-258/10, Grigore). Arbeitszeit i. S. v. Art. 2 Nr. 1 der RL 2003/88/EG definiert der EuGH als jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt. Der Begriff ist im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen, da beide Begriffe einander ausschließen (EuGH, Urt. v. 9.9.2003 – C-151/02, Jäger, NZA 2003, S. 1019). Die RL sieht keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vor.

Die Zeit, die Beschäftigte ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort für Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen, stellt nach dem EuGH deshalb Arbeitszeit dar. Die Arbeitnehmer arbeiten auch während dieser Fahrten, denn sie sind das notwendige Mittel, um am Standort des Kunden die geschuldete technische Leistung erbringen zu können. Da es seit 2011 keinen festen Arbeitsort bei T mehr gibt, gehören sie gerade untrennbar zum Wesen der ausgeübten Tätigkeit. Zudem unterliegen die Mitarbeiter auch während der Fahrtzeiten dem Weisungsrecht ihres Arbeitgebers. Sie können in dieser Zeit nicht ohne größere Zwänge frei über ihre Zeit verfügen und eigenen Interessen nachgehen.

Die Bewertung der Fahrten zwischen Wohnort und Kunden als Ruhezeit verfälscht hier den Begriff der Arbeitszeit und widerspricht dem unionsrechtlichen Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Der EuGH stellt abschließend fest, dass die Bewertung als Arbeitszeit i. S. d. RL 2003/88/EG die Art und Weise der Vergütung der Beschäftigten nicht betrifft. Die Vergütungsfrage richtet sich nach nationalem Recht.

Konsequenzen

Nicht zur Arbeitszeit gehört die Wegezeit, die der Arbeitnehmer von seiner Wohnung zur festen Arbeitsstätte – also Büro/Betrieb – benötigt (BAG, Urt. v. 27.11.2008 – 6 AZR 765/07, NZA 2009, S. 864). Sie ist sowohl arbeitsschutzrechtlich als auch vergütungsmäßig irrelevant. Nur bei Außendienstmitarbeitern ohne festen Arbeitsort, denen das Unternehmen Kunden, Reihenfolge und Termine vorgibt, sind Fahrten vom Wohnort zum ersten und vom letzten Kunden Arbeits- und keine Ruhezeit i. S. d. ArbZG.

Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht | 2016 | Ausgabe 2 | www.arbeit-und-arbeitsrecht.de