Die Bedeutung:

group of people sitting beside rectangular wooden table with laptops
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Seit Inkrafttreten des Mindestlohngesetztes zum 1. Januar 2015 treffen Prozesse und Urteile im Zusammenhang mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro auf großes Interesse, denn Umgang und Rechtsprechung mit dem seit Nov. 2013 im Koalitionsvertrag verankerten Mindestlohngesetz sind noch jung. Zu der Frage, was alles auf den Mindestlohn angerechnet werden kann, blieb das Gesetz eher vage. Eine Schärfung des „Profils“ im Spiegel der Praxis und der Gesetzeslage durch Arbeitsrichter, Juristen und Mindestlohnexperten erfolgt nun im Anschluss. So wurde die erste Entscheidung des BAG, ob/inwieweit Jahressonderzahlungen wie Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld sowie Zuschläge für Überstunden und Sonn- und Feiertagsarbeit auf den Mindestlohn angerechnet bzw. auf Basis des Mindestlohns berechnet werden dürfen, in diesem Jahr mit Spannung erwartet.

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass versucht wird, die Mindestlohnregelung zu unterwandern, beispielsweise mit Scheinselbstständigkeiten und Scheinwerkverträgen sowie Anrechnungen von bestimmten Zahlungen auf den Grundlohn. Gerade aus diesem Grunde nahm der Zoll, der dem Bundesfinanzministerium untersteht und Kontrollen durchführt, wiederholt bespielsweise das Bau- und Gaststättengewerbe unter die Lupe. So ist es immer wieder „üblich“, dass Kellner erst mit den am Abend aufaddierten und verteilten Trinkgelden auf den Mindestlohn kommen. Aber auch in anderen Branchen, z.B. im Gesundheitswesen und in ausgelagerten Dienstleistungsbetrieben ist ein „Blick für das Vertragsdetail“ durchaus angebracht.

Die zu klärende Frage lautet:

Dürfen neben dem vereinbarten Stundenlohn gezahlte Entgeltbestandteile den Mindestlohn von 8,50 Euro pro Zeitstunde erhöhen, oder sind sie darauf anzurechnen? Die Frage ist insofern wichtig, da zu klären ist, ob hier zwei Anrechte des Arbeitnehmers gegeneinander ausgespielt werden könnten: 1. der Fortbestand bisher gewährter Arbeitgeberleistungen gegen 2. den ordungsgemäßen Erhalt des Mindestlohns.

Für eine Anrechnung gilt zunächst folgender Grundsatz:

Es dürfen nur solche Leistungen in die Kalkulation eines Mindestlohns einbezogen werden, die eine Gegenleistung für eine vertraglich vereinbarte Normalleistung des Arbeitnehmers darstellen. Dementsprechend dürften Zulagen, die (als Gegenleistung) für Sonder-Leistungen des Arbeitnehmers bezahlt werden, nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden. Sie müssen extra bezahlt werden.

Die Annahme 1: Sicher anrechenbar wären demnach folgende Leistungen:
Grundgehalt (Entgelt für Nomalleistungen)
Einmalzahlungen (wenn sie das Verhältnis zwischen Leistung des Arbeitnehmers und der Gegenleistung nicht verändern)
Zulagen, wenn sie an keine gesonderte Leistung gebunden sind

Die Annahme 2: Umgekehrt könnte man meinen, dass beispielsweise die folgenden Leistungen als „Extrazahlung“ von der Anrechnung sicher ausgeschlossen seien:
Zuschläge für besondere Arbeitszeiten (Sonntags-, Nacht- oder Schichtzuschläge)
Zuschläge für besondere Arbeitsanforderungen (z. B. Schmutz- oder Gefahrenzulagen)
Akkord- und Qualitätsprämien

Die Annahme 4: Ähnliches könnte für folgende Leistungen gelten:
Vermögenswirksame Leistungen
Aufwandsentschädigungen
Trinkgelder
Urlaubsgeld

Zu klärende Fälle beziehen sich darüber hinaus häufig auf:
Überstundenzuschläge
13. Monatsgehalt, Jahresendbonus, Weihnachtsgeld
Verpflegung, Unterkunft
Bestimmte Sachleistungen

Tatsächlich jedoch: Formulierungen und Zweck im Detail genau prüfen
Es ist jedoch wichtig, im Einzelfall genau hinzusehen und für den Fall einer Anrechnung und der Berechnung einer Höhe der Zuschläge nicht „vorschnell“ zu urteilen. Zusätzlich zu der
gesetzlichen und tarifvertraglichen Beurteilung, ist es notwendig die gegenseitigen vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu bewerten. Denn, wie sich in diesem Fall herausstellen wird: Es kommt auch auf die einzelvertraglichen Regelungen, den Zweck der Zahlungen – und auf die entsprechende Formulierungen an.

Der vor dem BAG zu verhandelnde Streitfall 5 AZR 135/16 bezog sich auf:
Die Anrechenbarkeit auf den gesetzlichen Mindestlohn und damit die Höhe von

  • Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld sowie
  • Überstunden-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen

Der Fall:

Die Angestellte einer Klinik-Servicegesellschaft klagte, dass das monatlich zu 1/12 ausgezahlte Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf den Mindestlohn angerechnet wurde. Außerdem sollten die Jahressonderzahlungen wie auch die Zuschläge für Überstunden, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit auf Grundlage des Mindestlohns von EUR 8,50 berechnet werden (und nicht auf der Basis des geringer vereinbarten Stundenlohns. )
Die Klage wurde zuerst vom LAG Berlin-Brandenburg verhandelt. Dort bekam sie entsprechend der Klage Nachtarbeitszuschläge zugesprochen, die anderen Punkte wurden abgewiesen, (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Januar 2016-19 a 1851/15-). Eine Berufung wurde zurückgewiesen. Die Revision verhandelte das BAG in Erfurt.

Das BAG entschied in diesem Fall:

1. Dass der Arbeitgeber die Jahressonderzahlungen, also in diesem Fall das monatlich gezahlte Urlaubsgeld wie auch das Weihnachtsgeld, auf den Mindestlohn anrechnen durfte
2. Dass die Jahressonderzahlungen nicht auf Basis des Mindestlohns zu berechnen seien
3. Dass die Zuschläge für Überstunden, sowie Sonn- und Feiertagsarbeit nicht auf Basis des Mindestlohns zu berechnen seien
4. Dass die Zuschläge für die Nachtarbeit auf der Grundlage des Mindestlohns zu berechnen seien. Das BAG schloss sich hier der Vorinstanz an

Aus der Begründung:

Das BAG bezog sich im Wesentlichen auf die Begründungen des LAG, das sich wiederum auf die im Mindestlohngesetz angegebenen Begründungen bezog.
Der gültige schriftliche Arbeitsvertrag für die in Vollzeit beschäftigte Klägerin sieht neben einem Monatsgehalt besondere Lohnzuschläge (Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit) sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld vor. Über die Auszahlung der Sonderzahlungen hatte die Klägerin im Dezember 2014 mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung geschlossen. „Der gesetzliche Mindestlohn tritt als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen, verändert diese aber nicht. Der nach den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bemessene Mindestlohnanspruch der Klägerin für den Zeitraum Januar bis November 2015 ist erfüllt, denn auch den vorbehaltlos und unwiderruflich in jedem Kalendermonat zu 1/12 geleisteten Jahressonderleistungen kommt Erfüllungswirkung zu.“ (Pressemitteilung Nr. 24/16, BAG).

Das heißt:

Lohnhöhe
Der gesetzliche Mindestlohn trat als „Gesamtanforderung mit eigenem Anspruch“ in Kraft. Auf die Berechnung der Höhe der Sonderzahlungen, also der Tatsache, dass sie auf Basis des (ursprünglich niedrigeren) Stundenlohns berechnet wurden, hatte das keinen Einfluss. Insgesamt wurde damit zwar ein Lohn in Höhe des Mindestlohns ausbezahlt. Er beinhaltete jedoch die entsprechend berechneten und mit eingerechneten Sonderzahlungen.

Urlaubs- und Weihnachtsgeld
Wenn ein Arbeitnehmer ein zusätzliches Urlaubsgeld oder ein Weihnachtsgeld a) als Gegenleistung für erbrachte Arbeitsleistung erhält und b) diese immer jeweils zu dem für den Mindestlohn üblichen und maßgeblichen Fälligkeitsdatum „tatsächlich und unwiderruflich“ ausbezahlt bekommt, sind diese Leistungen als Bestandteil des Mindestlohns anzurechnen. Wichtig ist in diesem Fall auch, dass der Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, wie oben aufgeführt, als Gegenleistung insofern anzusehen ist, als er an den durch den Arbeitsvertrag geregelten Bestand des Arbeitsverhältnisses – und damit die Beziehung (Arbeits-)Leistung und Gegenleistung (Vergütungspflicht) gebunden ist – die, wie in der Betriebsvereinbarung geschlossen anteilig (1/12) erfolgte. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass bei einem Austritt die Zahlung anteilig, also „pro rata temporis“ zu erfolgen hätte.

Der besondere Zweck
Anders hätte es ausgesehen, wenn die Sonderzahlungen der Klägerin kein Entgelt für normale! Arbeitsleistung gewesen wäre, also die Sonderzahlungen für einen bestimmten Zweck definiert worden wären. Denn dann hätten die Sonderzahlungen nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden dürfen:

  • Als Würdigung einer Sonderleistung
  • Als Würdigung eines besonderen Anlasses wie Jubiläum/Betriebszugehörigkeit
  • Als Entgelt zur (teilweisen) Abdeckung erhöhter (Urlaubs)aufwendungen
  • Wenn Urlaubsgeld als „saisonale Zahlung“ gilt () und abhängig von besonderen Regelungen zum Urlaub ist: (siehe Urteil des BAG, Az. 9AZR 522/09, Rdnr. 24, vom 12. Oktober 2010″Urlaubsgeld” als saisonale Sonderleistung – Stundungsvereinbarung – MTV Pro Seniore Art. 22b „Das arbeitsvertragliche Urlaubsgeld gemäß § 23 Anh ArbV ist mit den arbeitsvertraglichen Regelungen, die Erholungs- und Zusatzurlaub zum Gegenstand haben, nicht verknüpft. Während das Urlaubsgeld eine saisonale Sonderleistung beinhaltet, sind die §§ 21, 22 Anh ArbV dem Urlaubsrecht zuzurechnen und23 „Allein die Bezeichnung einer Leistung als Urlaubsgeld rechtfertigt es nicht, einen zwingenden Sachzusammenhang zum Erholungsurlaub anzunehmen (vgl. Senat 11. April 2000 – 9 AZR 225/99 – zu I 2 b aa der Gründe, AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 13 = EzA TVG § 4 Luftfahrt Nr. 4)…“

Zuschläge
Solange das Gesetz einem Zuschlag keinen einen besonderen Zweck zubilligt, der einer Anrechnung auf den Mindestlohn entgegensteht, gilt der Grundsatz, dass Überstunden, Sonntags- und Feiertagszuschläge auf den Mindestlohn anrechenbar sind.

Ausnahme: Zuschlag für Nachtarbeit
Es ist im ArbZG vorgesehen, dass für Nachtarbeit ein angemessener Zuschlag zu zahlen ist. Im Mindestlohngesetz ist nicht enthalten, dass durch den Mindestlohn zugleich ein Ausgleich im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) § 6 Nacht- und Schichtarbeit erfolgt. Tatsächlich besagt Art. 5 des ArbZG, dass der angemessene Zuschlag „auf das dem Arbeitnehmer hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt (also zusätzlich zum Mindestlohn) zu gewähren sei“.

Siehe:

http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&nr=14955

http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=pm&Datum=2016&nr=18675&pos=1&anz=25&titel=Erf%F
Cllung_des_gesetzlichen_Mindestlohns

http://www.bag-urteil.com/25-05-2016-5-azr-135-16/
http://www.dgb.de/themen/++co++c3b7a118-7aec-11e4-ac53-52540023ef1a

http://www.dgb.de/service/glossar?sel=m
http://www.deutsche-handwerks-zeitung.de/mindestlohn-wer-ihn-kontrolliert/150/3091/215001

http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bag-urteil-5-azr-135-16-mindestlohn-sonderzahlung-nicht-anrechenbar/

http://www.mindest-lohn.org/branchen/

http://www.mindest-lohn.org/was-ist.html

http://www.mindest-lohn.org/rechtslage.html

http://www.mindest-lohn.org/ausnahmen.html