In der Praxis der Personal- und Organisationsentwicklung erleben wir es täglich: Neue Tools, agile Methoden und Change-Konzepte stehen bereit – und doch scheitern viele Transformationen nicht an mangelnder Strategie, sondern an einem schwer greifbaren inneren Widerstand. Woran liegt das?
Ein oft übersehener Faktor ist das, was ich Befremdungsstress nenne – der psychische und emotionale Stress, der entsteht, wenn Menschen mit Situationen, Denkweisen oder Kulturen konfrontiert werden, die ihrem bisherigen Bezugsrahmen widersprechen. Anders gesagt: Es ist der Stress des Ungewohnten, der uns nicht nur herausfordert, sondern auch irritiert, überfordert, verunsichert. Und das oft lange, bevor ein Widerstand sichtbar wird.
In der Weiterbildungslandschaft wird dieser Aspekt häufig übergangen – zugunsten von schnellen Lösungen. Dabei liegt in diesem inneren Spannungsfeld eine entscheidende Ressource: Befremdung kann ein Katalysator für tiefes Lernen, kulturelle Erneuerung und zukunftsfähige Führung sein – wenn wir lernen, sie nicht als Störung, sondern als Entwicklungsmotor zu begreifen.
Der Impuls zu diesem Thema ist für mich nicht nur theoretisch. Ich bin studierte Geisteswissenschaftlerin (Sprachwissenschaft, Romanistik, Allg. Rhetorik) und habe direkt nach dem Studium in der Wirtschaft gearbeitet – ein Wechsel, der für mich zum Praxislabor wurde. Ich erlebte früh, was es heißt, in Spannungsfeldern zu denken und zu handeln: zwischen Werten und Wirklichkeit, zwischen Offenheit und Erwartung, zwischen Sinnsuche und Systemlogik.
Ich weiß, wie anstrengend, manchmal auch schmerzhaft diese Reibung sein kann – aber auch, wie sehr sie persönliche und organisationale Entwicklung anstoßen kann. Und ich kenne auch die Gefahr, bei besonders engagierten Führungskräften, Mitarbeitern und Managern sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren.
Deshalb ist es an der Zeit, diesen „Befremdungsstress“ nicht länger zu verdrängen oder zu umschiffen, sondern ihn bewusst zu gestalten. Führungskräfte und Personalentwickler:innen brauchen in Zukunft nicht nur Tools – sie brauchen einen inneren Kompass, der sie durch Unsicherheit, Ambivalenz und Widerspruch navigiert.
Der Raum für Veränderung ist kein glattes Spielfeld. Er ist ein Spannungsraum. Und genau hier – im scheinbar Unbequemen – liegt das größte Potenzial für echte Transformation.
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