Das alles wirkt sich unweigerlich auf das Führungsverhalten aus. Schließlich sind Führungskräfte auch nur Menschen. Selbst wenn man von ihnen oft unmenschliche Dinge erwartet: Stets inhaltlich auf dem Laufenden, menschlich zu kommunizieren, zu lenken und zu leiten. Dabei die Strategie ebenso wenig zu vergessen wie die Mitarbeiter. Ganz zu schweigen von der Herausforderung der digitalen Transformation, die täglich flexibel und agil gehandhabt sein will.

photo of three person sitting and talking
Foto von Helena Lopes

Welche Auswirkungen das alles haben kann, zeigen die folgenden ausgewählten, mehr oder weniger fiktiven Geschichten von und mit Hannes, 49. Der studierte Betriebswirt, Produktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung eines internationalen Industriekonzerns versucht, mehr Impulsgeber als Kontrollinstanz zu sein. Statt zu dirigieren will er lieber dienen. Mit klarer Kommunikation, kollegialem Stil und hoher Wertschätzung ist es sein Ziel, mit Ergebnissen aufzuwarten. Trotz bester Absicht, gelingt ihm das nicht immer. Und während wir uns beim Lesen noch wundern über die eine oder andere Absurdität, merken wir, dass wir so einiges bestimmt schon einmal erlebt haben – im Meeting, auf der Chefetage oder im Büro (nebenan). Und wenn wir ganz ehrlich sind, haben wir das eine oder andere merkwürdige Verhalten sogar an uns selbst schon beobachtet.
Das Unternehmen von Hannes hat einmal mehr eine größere Reorganisation hinter sich. Offiziell redet man von „Neuausrichtung und Anpassung an die Marktbedürfnisse“, „fit machen für die Zukunft“ und „sich neu aufstellen, um noch schneller in einem immer komplexer werdenden Markt vorne mitzuspielen“. Nach interner Leseart werden aufgrund der miserablen Kostenstruktur Teilbereiche abgebaut und das Leistungsangebot eingeschränkt. Wie schon einige Male in den letzten Jahren.
Diesmal greift der Wandel aber tiefer in die Strukturen ein. Vertikalisierung und Schnittstellenoptimierung heißen nichts anderes, als dass alles effizienter und effektiver werden soll. Die Servicebereiche Personalentwicklung, Kundendienst und Verkauf werden aufgehoben. Der Zweck: Alles wird kontrollierbarer und die Kosten sind klarer zuzuteilen. Als Nebenprodukt haben die Kunden pro Bereich nur noch einen Ansprechpartner – wenigstens offiziell.
Das Umdrehen der Matrix-Organisation, mit der im Grunde keine einzige Schnittstelle beseitigt wird, sondern die Funktionslinien sich nur an anderen Orten kreuzen, zieht nach sich, dass die Prozesse neu aufgesetzt werden müssen. Die Verantwortung obliegt neu der Produktionsleitung von Hannes.
Er setzt sich hin und beginnt beim Einfachen. Er zeichnet den Ablauf einer Reklamation nach. Das Wort „Reklamation“ wird allerdings nicht mehr verwendet. Neu heißt es jetzt „konstruktive Kundenreaktion“. Damit wird das Positive betont und dem Satz aus dem Leitbild „Reklamation sind Chancen“ neues Leben eingehaucht. Bereits bei „Kunde ruft an“ lauert die erste Hürde. Es gibt keinen zentralen Kundendienst mehr. Ab sofort behandelt jeder Bereich die konstruktiven Kundenreaktionen selber. Denn schließlich soll jeder Kunde nur noch einen Ansprechpartner haben. Derjenige, der das Produkt verkauft hat, soll auch geradestehen, wenn es nicht funktioniert.
Nochmals von vorne: “Kunde ruft an“. Die Hürde wird gemäß dynamischen Gepflogenheiten mit einer Warteschleife gemeistert. Der Kunde erhält die Ansage „please-hold-the-line – das Gespräch kann zu Qualitätszwecken aufgezeichnet werden“ und anschließend die Einladung „für eine konstruktive Kundenreaktion zum Produkt A wählen Sie die 1, zu B die 2“ und so weiter. Um niemanden zu diskriminieren, muss man zum Schluss noch „mit der Zusatzzahl 7 für Deutsch, 8 für Englisch, 9 für andere Sprachen“ der Diversität gerecht werden.
Das passt. Nach dieser Einteilung landen die Kundenanfragen nun bei der Produktdivision. Aber bei wem? Die vier Stellen aus dem aufgehobenen Kundendienst wurden auf die sechs Divisionen aufgeteilt. Somit sind nur an sechs Stunden pro Tag die Leitungen besetzt. Also gilt es einen Ringruf einzuschalten, die Stellvertreterregelung zu organisieren und im Prozessdiagramm abzubilden. ‚Das macht Sinn’ redet sich Hannes zufrieden ein.
Das Kundenerlebnis gestaltet sich also so, dass der Kunde – nachdem er sich durch die Produkt- und Sprachwahl geschlagen hat – definitiv in eine Warteschleife gelangt: „Herzlichen Dank für Ihre konstruktive Kundenreaktion. Wir freuen uns über Ihre Offenheit. Zurzeit sind leider alle unsere Kundenberater besetzt und können Ihre konstruktive Kundenreaktion nicht entgegennehmen.“ Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass das Unternehmen zu viele solche Reaktionen hat, wird gleich der nächste Standard in die Voice-Box gesetzt „Ihr Feedback freut uns und bringt uns weiter“.
Hannes ist stolz. Mit diesem Satz wird suggeriert: „Je länger man wartet, desto mehr Fortschritt wird gemacht“. Das ist der Schlüssel zu mehr Marktnähe. Einmal mehr wird Hannes sich bewusst, dass Papierübungen und Organigramm-Verschiebungs-Projekte durchaus Kundenrelevanz haben.
Die Zeit ist reif. Das Verhalten eines Mitarbeiters gefällt Hannes schon lange nicht mehr. Die Leistungen von Mustermann sind alles andere als mustergültig. Termine werden so knapp eingehalten, dass es oft unsicher ist, ob es klappt. Außerdem häufen sich die Krankentage am Montag nach Heimspielen des Lieblings-Fussballclubs. Immer wieder hat Hannes sich eingeredet, dass es besser werde und Mustermann nicht damit konfrontiert. Im Grunde aber ist es so, dass Hannes das entscheidende Gespräch seit Monaten vor sich herschiebt. Jetzt ist es soweit.
Hannes hat Fakten gesammelt und bastelt sich einen Leitfaden für das Gespräch mit Mustermann. Wie soll er beginnen? Etwas Smalltalk? Das schafft Atmosphäre. Allerdings ist zu viel davon auch nicht gut. Man soll nicht zu kollegial wirken, wenn es hart auf hart kommt. Stichwortartig notiert Hannes: „Kurzer Smalltalk: Wetter passt immer, fragen ob er Skifahren geht“. Aber was, wenn der Mitarbeiter gleich nach dem Ski-Urlaub fragt? Also muss ein unverfänglicheres Thema her. „Wie geht’s?“ Nicht sehr kreativ und es interessiert ihn auch nicht besonders – auf der anderen Seite fragt sein Chef ihn das auch immer.
Dann zum Problem: „Ich bin heute da, um mit Ihnen…“ das hört sich zu sehr nach Verhör an, zu dramatisch. Also direkter: „Herr Mustermann“ – das ist etwas förmlich, distanziert, schießt es Hannes durch den Kopf. „Geschätzter Herr Mustermann“. Genau, das drückt Wertschätzung aus, so steht es im Leitbild. Also: „Geschätzter Herr Mustermann, ich bin grundsätzlich zufrieden mit Ihnen“.  Nein, das gefällt Hannes nicht. „Grundsätzlich zufrieden“ hört sich negativ an. Dann kann er ja gleich sagen: „Ich bin unzufrieden mit Ihnen.“ Aber das ist doch recht hart, wie ein Schlag ins Gesicht.
Hannes überlegt, wie er es denn selbst gern hätte? Ehrlich, offen, aber ohne zu verletzen. Konfrontieren, aber eine gute Stimmung halten? Hannes ist am Verzweifeln. Soll er sein Harmoniebedürfnis aufgeben, um seinem Chef zu gefallen? Soll er seinen Mitarbeiter verstimmen, um danach noch mehr Probleme zu haben? Aber wenn’s so weitergeht wie bisher, geht’s eben auch nicht.
Hannes sucht in den Seminarunterlagen der Führungsausbildung nach einem Leitfaden und den gängigsten Gesprächsmodellen. Coaching tönt gut und solide Fragetechniken faszinieren Hannes. Da fällt ihm noch etwas ein: Die Kommunikation. In seinen Unterlagen stößt Hannes beim Wort „gewaltfrei“ an die Grenzen seiner Vorstellung. Von Gewalt kann keine Rede sein.
Es ist zum verrückt werden. Nach zwei Stunden Vorbereitung, holt sich Hannes einen Kaffee. Beim Automaten steht Mustermann. Er telefoniert privat. Hannes schaut ihn verdattert an, Mustermann schaut zurück und fragt: „Passt etwas nicht?“. Hannes ist sauer und spontan entwischt ihm ein: „Ja, dass Sie privat telefonieren und nicht arbeiten“. 
Hannes muss gerade sehr glaubwürdig gewirkt haben. Mustermann unterbricht das Gespräch und geht an seinen Arbeitsplatz. Hannes ist stolz, einen solch tollen Gesprächseinstieg gefunden zu haben. Mit gesundem Menschenverstand lässt sich doch vieles erreichen. Zufrieden wendet sich Hannes dem Tagesgeschäft zu – im Wissen, ein Mitarbeiterproblem konstruktiv angegangen zu sein und gelöst zu haben – oder auch nicht!
Montagmorgen acht Uhr. Eine Stunde bis zur Sitzung der Geschäftsleitung. Hannes bereitet seine Tagesordnungspunkte vor: Mitarbeiter sind keine ausgefallen, im Betrieb läuft alles. Eine gewonnene Stunde. Einzig eine alte Aufgabe wartet noch auf Erledigung. Bis Ende des Monats muss Hannes der HR-Abteilung seine Weiterbildungsbedürfnisse mitteilen. Als Führungskraft hat er Anrecht auf fünf Tage aus dem eigenen Seminarprogramm. „Anrecht“ ist nur die offizielle Formulierung, in Wirklichkeit steht „Erwartung“ subtil zwischen den Zeilen.
Hannes käme ohne Weiterbildung aus, aber imagetechnisch geht das nicht. Also nutzt Hannes heute die Zeit, um sich schlau zu machen. Er blättert im Katalog von vorne nach hinten und wieder zurück. Nichts überzeugt ihn. Er beschließt, zunächst eine Anforderungsliste zu erstellen und dann das passende Seminar zu suchen.
Der wichtigste Punkt: Unter keinen Umständen darf das Seminar den Urlaub tangieren. Ebenfalls ungünstig sind die Zeiträume, in denen sein Stellvertreter abwesend ist. Ideal wäre eine Woche, in der ein Feiertag liegt, vielleicht vor Christi Himmelfahrt. Nimmt er den Freitag als Zeitausgleich, kann er mal richtig abschalten. Das lenkt seine Gedanken auf ein bisher vernachlässigtes Kriterium: das Hotel. Mit Wellnessbereich, nicht gerade in der näheren Umgebung, aber auch nicht zu weit weg. Die Heimreise soll schließlich nicht zu lange dauern. Die äußeren Bedingungen sind skizziert. Nun zu den Inhalten!
„Anspruchsvolle Mitarbeitergespräche führen“ könnte er im Moment gut gebrauchen. „Allerdings”, schießt es Hannes durch den Kopf, „riecht das nach Rollenspiel mit Videoaufnahmen”. Den Nutzen sieht er ein, aber so stark exponieren möchte er sich doch nicht. Er will ja nicht bloß etwas lernen, sondern auch bei den anderen Kursteilnehmern Eindruck schinden. Im Grunde täte Hannes etwas „Präsentationstechnik“ gut. Auch da gibt es Rollenspiele, aber darauf könnte man sich ja vorbereiten. Wäre da nicht das Problem: Macht er die Vorbereitungsaufgaben, wird er wohl der einzige sein, der sie gemacht hat. Macht er sie nicht, hat er ein Imageproblem.
In der Rubrik „Persönlichkeitsentwicklung“ findet Hannes das Seminar „Selbstmanagement“. Das Hotel passt, Rollenspiele gibt es keine. Imagemässig lassen sich hier tolle Geschichten erzählen und die anderen Teilnehmer beeindrucken. Er kann im Geheimen viel mitnehmen. Und nirgends lässt sich Unvermögen so geschickt verstecken. Ein Blick auf den Kursleiter. Oje! Er erinnert sich an sein letztes Seminar. In der Feedbackrunde äußerte Hannes, dass er gerne Antworten auf seine Fragen hätte, nicht neue Fragen. Das Feedback zu seinem Feedback kam prompt: „Hannes, spürst du den Rebell in dir? Was geschieht in diesem Moment in dir drin?“ Schließlich wurde er zum Kursthema stilisiert. „Erkennt ihr das rebellische Kindheits-Ich aus der Transaktionsanalyse“. Geht noch einmal in die Gruppen und überlegt euch in den nächsten 60 Minuten, welche Methode geeignet wäre, einen erwachsenen Menschen aus dem rebellischen Kindheits-Ich ins ausgeglichene Erwachsenen-Ich zu bringen, ohne ihn mit seinen Defiziten paradox zu konfrontieren.“ Dieser Kurs ist also auch nichts.
Hannes Gedanken drehen im Kreis. Noch 15 Minuten bis zur Sitzung. Am liebsten würde er dem HR-Kollegen die Anmeldung gleich mitgeben. Einmal mehr könnte sich Hannes subtil als „Macher und Entscheider“ positionieren. Dazu würde passen, wenn er sich für den Workshop „Entscheiden – schnell und richtig“ anmeldet. Das zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist. Und die Tatsache, die Anmeldung sehr früh abzugeben, verdeutlicht, dass er auf höchstem Niveau Fortschritte machen möchte. Das macht Eindruck und verleiht Respekt.
Noch drei Minuten. Hannes spurtet in das Meeting. Beim Punkt „Weiterbildung für das Management“ greift Hannes freudig zu seinem ausgefüllten Formular. Doch alles kommt anders! Der CEO gibt dem HR-Leiter das Wort: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus finanziellen Gründen wurde das Budget für die Weiterbildung der Kaderstufen 1-3 bis auf Weiteres gestrichen.“
Stefan Häseli
Best Practice Leadershit
Absurde Wahrheiten aus den Chefetagen
184 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-86980-454-5
Verlag BusinessVillage