Manfred Spitzer dürfte auf die Kritik gelassen und mit großem Selbstbewusstsein reagieren. Schließlich ist er seit 1998 der ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Aufgrund seiner Leistungen dort wurde ihm zusätzlich die Gesamtleitung des 2004 in Ulm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) übertragen. Als Neurodidaktiker hat er eine Reihe von wissenschaftlichen Aufsätzen veröffentlicht, die international Beachtung fanden. Spitzer hat gute Kontakte zur Bundesbildungsministerin Annette Schavan, für die er das Konzept „Spielen macht Schule“, ein Wettbewerb für Grundschulen, entwickelte. Außerdem ist er mit dem Kabarettisten Dr. Eckart von Hirschhausen befreundet, der sich von Spitzer viele Anregungen für seine Programme geholt hat.

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Foto von CoWomen

Die Fans von Spitzer treffen sich zum Beispiel auf den Kommentarseiten des Internetbuchhändlers Amazon. Ein Berufsschullehrer schreibt: „Ich bilde mir ein, an den Auszubildenden der letzten Jahre feststellen zu können, dass Spitzer richtig liegt.“ Spitzer präsentiere seine Gedanken in dem vorliegenden Buch dermaßen schlüssig und eindringlich, dass es schwer falle, an der Richtigkeit der aufgestellten Hypothesen zu zweifeln. Ein Buchhändler meint, dass die deutliche Kritik Spitzers am Medienkonsum der Jugend, durchaus angebracht sei. Das Buch sei zwar auf Streit aus, aber „einer muss schließlich in den Kampf ziehen“. Zwar glitten die letzten beiden Kapitel zunehmend in die Polemik ab, was aber wohl vor allen Dingen zeige, wie sehr dem Autor der Schutz der künftigen Generation am Herzen liege.Die Kritik an Spitzer findet vor allem im Internet statt. Viele, die sein Buch gelesen haben, stören sich an der Art und Weise, wie der Hirnforscher seine Argumente vorbringt. Spitzer  sei ein „schwafelnder Bildungsbürger“ meint zum Beispiel Web-2.0- und E-Learning-Experte Dr. Martin Lindner, der die wissenschaftliche Kompetenz Spitzers anzweifelt. „Jemand muss es tun, stellvertretend für alle, die seit zehn Jahren im Web mehr lernen als jemals zuvor und das schneller, intensiver, sozialer“, so begründet der Medienwissenschaftler Dr. phil. habil. Martin Lindner seine ausführliche Stellungnahme zu Spitzers „Digitale Demenz“, die  auf Twitter und Google+ auf dem Profil des Autors lebhaft diskutiert wurde. Lindner ist Consultant und Partner bei wissmuth.de (wissen|visuell|sozial). Er befasst sich mit Informationsflüssen und Lernprozessen in der Google-Galaxis.

Es gebe keine saubere Begriffsbildung und Argumentation bei Spitzer, kritisiert Lindner. Einmal bedeute der Begriff “digitale Demenz”, dass Jugendliche durch die Medien ihr Gehirn so schädigten, dass am Lebensende signifikant mehr von ihnen viel früher Alzheimer bekämen. Meistens verstehe Spitzer unter “digitaler Demenz” aber etwas anderes: Die Internet- und Computerspielsucht führe schon jetzt bei Jugendlichen zu Depression, sozial dysfunktionalem Verhalten und Steuerungsverlust. „Suggeriert wird, es entstehe eine Art erworbene Hirnkrankheit, aber wieder bleibt die wissenschaftliche Begründung unklar“, analysiert Lindner. Spitzer berufe sich auf südkoreanische Ärzte und in der Tat sei die „digitale Demenz“ vor fünf Jahren ein südkoreanisches Modewort gewesen. Die Grundlage für dieses Modewort sei aber nur eine Umfrage und keine medizinische Studie gewesen. Berufstätige Twens mit Smartphones hätten in einer Befragung  über Vergesslichkeit geklagt. Ein Arzt habe damals in der „Korea Times“ von „reversibler Vergesslichkeit“ und „keinem Grund zur Sorge“ gesprochen.

Spitzer ignoriere die positiven Seiten von Blogs, Wikis und den vielen neuen Web-2.0-Services, die nur dazu da seien, selbst mitzumachen, mitzuschreiben, zusammen etwas zu erzeugen, das größer sei als die Summe der Teile“, so Lindner. Im Web 2.0 könnten gerade Menschen aus Randgruppen sehr schnell lernen, was sie früher nie hätten lernen können. Das Internet nütze wissenshungrigen Jugendlichen aus deklassierten Schichten und Weltgegenden, aber auch weltfremden Bücherwürmern. „Das Buch ist nicht ernst zu nehmen“, schließt Lindner seine Kritik, die in kompletter Länge unter anderem auf Martin Lindners Google+ Account veröffentlicht wurde und auch bei http://carta.info/47569/zwischenbilanz-zu-spitzers-digitaledemenz/#comment-31499 zu lesen ist.

Veranstaltungshinweis:

Die Besucher der Zukunft Personal können sich persönlich mit  Prof. Spitzer und seinen Thesen auseinandersetzen. Seine Keynote zu „Digitale Demenz“ ist auf der Fachmesse Zukunft Personal in Köln zu hören, am Mittwoch, 26. September um 16 Uhr in Forum 1, Halle 11.2.