Mr. Covey, woran erkennen Sie gute Führungsarbeit?
Wir sollten zunächst den Begriff Führung definieren. Die meisten Menschen verbinden mit Führung einen Titel, einen Rang oder einen Status, also formale Autorität. Es gibt aber auch eine moralische Autorität. Nehmen wir zum Beispiel Mohandas K. Gandhi, der niemals eine Position oder einen Titel innehatte, jedoch einer der weltweit am meisten bewunderten Führer war. An diesem Beispiel sehen wir auch, dass Führung eine Frage der Wahl und nicht eine Frage der Position ist.

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Foto von Nastuh Abootalebi

Führen heißt, den Menschen ihren Wert und ihr Potenzial so eindeutig zu zeigen, dass sie anfangen, beides in sich selbst zu sehen. Mit anderen Worten, ein gute Führungskraft ist man dann, wenn man in der Lage ist, das Potenzial anderer zu entfalten. Wir müssen uns auch dafür entscheiden, uns selbst zu führen, indem wir die Verantwortung und Rechenschaft für uns selber übernehmen, ungeachtet der Umstände oder des Drucks oder der Einflüsse von außen. Persönliche Verantwortung und Rechenschaft sind grundlegende Voraussetzungen für die individuelle Führung.

Wie können Vorgesetzte das Potenzial anderer entdecken und fördern?
Um das Potenzial ihrer Mitarbeiter freizusetzen, müssen Führungskräfte „die ganze Person“ managen. Oder noch besser: Sie sollten der ganzen Person die Möglichkeit geben, sich selbst zu führen. Menschen sind keine Dinge, die kontrolliert oder geführt werden müssen. Das Paradigma der ganzen Person erfordert, dass wir Menschen als Ganzes sehen – mit Körper, Verstand, Herz und Geist. Die Wissensarbeiter von heute verlangen, dass sie vollständig gefordert werden – sie wollen ein Ziel, Wachstum und Entwicklung; sie möchten kreativ sein und ihren Beitrag leisten. Und sie haben ja auch die Wahl. Sie können sich entscheiden, ob sie ihre Talente und Fähigkeiten einsetzen, ob sie sich hundertprozentig in ihrer Arbeit engagieren.

Führungskräfte müssen Jobs schaffen, die zu den Zielen des Unternehmens und des Einzelnen passen und damit Engagement fördern. Als Manager müssen sie Führung, Systeme, Prozesse und Strukturen auf die Unternehmensziele ausrichten und ihre Mitarbeiter inspirieren. Kommunikation und Beziehungen müssen auf dem Win/Win-Prinzip basieren. Alle müssen ihren NUTZEN finden und für ein gemeinsames Ziel oder einen gemeinsamen Zweck zusammenarbeiten. Dies ist der einzige Weg, Menschen zu verpflichten und zu inspirieren. Es ist der einzige Weg, das Potenzial der Menschen freizusetzen.

Sie schreiben, dass jeder Mensch, der andere effektiv führen will, zuerst seine „innere Stimme“ finden muss. Was verstehen Sie darunter?
Effektive Führungskräfte kennen ihr Ziel, ihre Passion, ihre Vision. Wenn sie den Prinzipien oder Naturgesetzen wie Integrität, Ehrlichkeit, Fairness, Mitgefühl und Vertrauen folgen, wird auch ihr Verhalten eben diesen Prinzipien folgen. Sie messen sich selbst an diesen Prinzipien, die sie schätzen. Sie leben diese Prinzipien nicht nur einige Zeit, sondern für immer. Menschen können die Doppelzüngigkeit anderer spüren. Sie können beispielsweise sagen, dass sie Integrität schätzen und von den Mitarbeitern auch Integrität fordern. Wenn sie jedoch so handeln, dass sie Versprechen nicht halten, haben sie Ihre Integrität verloren, und die Menschen schalten ab. Wenn Menschen sehen, dass ihre Führungskräfte derartige Dinge machen, verlieren sie das Vertrauen in sie und hören nicht mehr zu. Eine Führungskraft kann einfach nicht führen, wenn sie ihre innere Stimme verliert. Eine Führungskraft kann nicht erfolgreich sein, wenn sie die Prinzipien nicht lebt, von denen sie erwartet, dass sich andere daran halten.

Eine effektive Führungskraft ist nach Ihrer Lesart charakterstark, sie hat Herz und Gewissen. Lassen sich diese humanistischen Führungsideale in Zeiten des Shareholdervalue denn noch erfolgreich leben?
Ganz bestimmt. Gerade wenn die Umgebung immer mehr Druck ausübt, Shareholdervalue zu schaffen, kann man es sich nicht leisten, Charakterstärke, Herz oder Gewissen zu vernachlässigen. Nur durch moralische Autorität können wir das Vertrauen der Menschen gewinnen. Ohne Vertrauen können wir Menschen nicht führen und dazu inspirieren, ihr Bestes zu geben. Man benötigt auch Fachkompetenz, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Charakterstärke und Kompetenz bringen Glaubwürdigkeit und das erforderliche Vertrauen, um erfolgreiche Unternehmen zu stärken. Menschen versuchen, Abkürzungen zu nehmen – und manchmal verlassen sie sich auf korrupte Wege. Doch das ist nicht tragfähig. Letztendlich schafft dies solches Misstrauen in die Menschen, in das System und das Unternehmen, dass Performance und Produktivität abnehmen. Wenn Sie einen derartigen Leistungsabfall haben, verlieren alle Parteien, und der Shareholdervalue bricht dann ganz sicher zusammen.

Wie können Führungskräfte zum Beispiel Vertrauen aufbauen, wenn das Management gerade eine Entlassungswelle gestartet hat, um die Gewinnmarge zu steigern?
Spitzenführungskräfte müssen mit schwierigen Marktrealitäten umgehen. Wenn das Geschäftsmodell eines Unternehmens nicht mehr für den Markt stimmt, das heißt, wenn seine Erträge zurückgehen, da der Wert, den sie für den Markt schaffen, fällt, müssen die Führungskräfte Schritte ergreifen, um das Unternehmen umzudrehen. Leider teilen die Unternehmen den Mitarbeitern diese Marktrealitäten nicht immer direkt mit. Wenn sie dann Entscheidungen zu Kosteneinsparungen treffen, fühlen die Mitarbeiter nur den Druck und beginnen, das Vertrauen in die Geschäftsführung zu verlieren.

Ich empfehle, dass Führungskräfte mehr Transparenz zeigen und die Mitarbeiter in das Geschäftsmodell ihres Unternehmens einbeziehen. Sie müssen jeden über die Anforderungen des Marktes informieren und darüber, welchen Beitrag jeder Mitarbeiter leisten kann. Wenn die Mitarbeiter ein grundlegendes Geschäftsverständnis haben, können sie selbst proaktiv werden, um Wege zu Innovation und Kosteneinsparung zu finden. Sie werden sich sogar auf die Möglichkeit vorbereiten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Wenn Menschen dann freigestellt oder gekündigt werden, verstehen sie die Gründe eher, als wenn sie das Gefühl haben, willkürlich wegrationalisiert zu werden. Während dieser heiklen, schwierigen Zeit ist es umso wichtiger für Führungskräfte, in klaren Worten mit den Mitarbeitern zu kommunizieren und Informationen zu teilen – um Wissen weiterzugeben und transparent zu sein.

Welche Faktoren verhindern, dass Unternehmen das Potenzial ihrer Mitarbeiter entfalten?
Beurteilungssysteme sind einer der Faktoren, die verhindern, dass Menschen ihr volles Potenzial entfalten. Mitarbeiter werden zu häufig von einem Vorgesetzten allein bewertet, was sehr entmutigend sein kann. Der bessere Weg für Führungskräfte und Mitarbeiter ist die gemeinsame Entwicklung von Leistungskriterien. Mit Hilfe einer Win/Win-Vereinbarung können beide Parteien die Leistungsanforderungen und Ergebnisse festlegen. Je mehr die Mitarbeiter einbezogen werden, umso engagierter sind sie und umso verantwortungsbewusster werden sie. Sie werden autonomer. Führungskräfte müssen die Mitarbeiter nicht kontrollieren oder bis ins kleinste Detail lenken. Dann fühlen sich die Mitarbeiter respektiert und engagieren sich. Dies ist ein Win/Win-System, das das Potenzial der Menschen entfaltet anstatt Menschen und ihre Talente zu unterdrücken.

Hierarchische Strukturen verhindern ebenfalls, dass Menschen ihr Potenzial entfalten. Es gibt nicht viele Spitzenpositionen in einer Hierarchie und somit kommen auch nur sehr wenig Menschen an die Spitze. In flachen Hierarchien gibt es vielfältige Belohnungen und Anreize. Es gibt mehr Platz für Wachstum und Entwicklung, wenn den Mitarbeitern Chancen zur Innovation und zur Erweiterung der Wertschöpfung gegeben werden. Teams können beispielsweise für den Abschluss eines erfolgreichen Projekts belohnt werden. Einzelpersonen können Anreize über Prämien oder Aktienoptionen erhalten. Findet jemand einen nachhaltigen Weg zur Kostenreduzierung und Verbesserung der Gewinnspannen, kann er beziehungsweise sie belohnt werden. Die Idee besteht darin, die Mitarbeiter im gesamten Unternehmen zu fördern und zu belohnen – und nicht nur eine handvoll Führungskräfte in Spitzenpositionen.

Interview: Bettina Geuenich

Webtipp
www.franklincovey.at

Literaturtipps
Die 7 Wege zur Effektivität. Prinzipien
für persönlichen und beruflichen Erfolg.

Von Stephen R. Covey. 6. Aufl. Gabal 2005

Der 8. Weg. Von der Effektivität zur
wahren Größe.

Von Stephen R. Covey.
2. Auflage. Gabal 2006.

Quelle: personal manager 3/2007