So behalten Sie die Talente im eigenen Haus!
Lange war es das zentrale Thema in der Fachkräftegewinnung, doch so langsam ändert sich die Lage. Heute merkt man: Es kostet Zeit und Nerven, immer neue Mitarbeiter zu gewinnen – und nicht alle bleiben im Unternehmen. Denn die Fluktuation ist gestiegen: Der Job muss passen, von Anfang an. Das ist im Recruiting längst nicht immer der Fall. Mitarbeiter werden schnell wieder freigeschaufelt und die Wochen zerrinnen in Recruiting-Prozessen! Weil kulturelle Unterschiede, die Arbeitsatmosphäre oder fachliche Erwartungen nicht zueinander passen. Tipp: setzen Sie sich dazu mal mit Ihren Azubis zusammen. Eine Kündigung kommt für Arbeitnehmer meistens nicht überraschend. Sie arbeiten oft schon einige Wochen oder Monate daran, ehe sie sich dafür entscheiden. Wer also sehen will, ob jemand gegenüber anderen Mitarbeitern plötzlich sehr viel lieber Urlaub nimmt, beginnt freiwillig oder aus heiterem Himmel immer öfters „krank“ ist oder auf einmal auf Weiterbildungen nicht mehr mitgeht, der „riecht” oder vielmehr sieht für gewöhnlich die dünne Luft, die die Kündigung begleitet. Marcus Reif hat auch folgenden Tipp: Wenn Sie eine Rückkehrumfrage nach dem Anlass einer Kündigung erhalten, dann probieren Sie doch einfach mal das dazwischen zu lesen.’ Meistens heißt es ja: Mitarbeiter gehen, wenn es woanders mehr Geld gibt. Aber Reif schreibt: Das ist ein Mythos. Menschen kündigen nicht ihren Job – sie kündigen ihre Chefs. Schlechte Kommunikation, mangelnde Wertschätzung, Führungskräfte, die ihre Azubis nicht fördern – das ist es, was Frust im Job macht. Dass jemand mehr Geld angeboten bekommt, ist nur in den wenigsten Fällen der wahre Grund. Das werden viele nur nicht sagen, wenn sie kündigen. Wer in Mitarbeiterbindung investieren will, der muss in gute Chefs investieren, regelmäßige Feedbackgespräche fördern und Fehlerkultur leben. Auch davon, dass ihre Vorgesetzten sich gezielt weiterbilden, beispielsweise in Sachen Softskills, sagt Reif. Unternehmen, die das nicht tun, — so Reif — schaden sich am Ende selbst: An ihrer eigenen Führungsspitze, aber auch an den tollen Teams, die ihnen so zugeneigt sind.
Proaktives Agieren verhindert viel Schaden
Viele HR-Abteilungen agieren erst, wenn die Kündigung auf dem Tisch liegt und manuelles Recruiting beginnt. Damit geht viel Frust in Sachen Azubigewinnung und Bindung einher. Wichtig: HR darf proaktiv werden. Talentmanagement fängt mit strategischem Personalmanagement an, Szenarioanalysen und strukturierte Prozesse helfen dabei, Bedarfe früh zu erkennen. Wer beispielsweise weiß, dass bestimmte Jahrgänge vermehrt in Rente gehen und in welchen Rollen häufiger gewechselt wird, hat bereits gewonnen. Gleiches gilt, wenn ein Unternehmen eigene Talentpools pflegt und befördert, beispielsweise durch aktive Job-Rotation der Mitarbeiter. Moderne Workforce Planning-Tools helfen dabei, Bedarfe präzise zu prognostizieren und rechtzeitig zu besetzen. Vielfach wird nicht das Unternehmen, die offene Stelle und die Führungskraft gesucht, sondern lediglich ein austauschbarer Arbeitgeber. Vage Stellenanzeigen und fragwürdige Recruitingprozesse führen im schlimmsten Fall gar dazu, dass uninteressante (weil unpassende) Kandidaten sich melden und HR-Fachleute verzweifeln. Marcus Reif rät klar: machen Sie statt der Stellenanzeige lieber eine Vakanzanalyse. Wer sich klar macht, welcher Mitarbeiter, welche Kompetenzen, welchen Charakter und welches Mindset er/sie beschäftigen möchte, der wird zumindest den richtigen Anfang in der Stellenanzeige setzen. Denn neben den Aufgaben sollten wir uns zunächst einmal eines klarmachen: wen suchen wir eigentlich?
Die meisten Stellenanzeigen wirken oft wie aus einem Baukasten: dieselbe Sprache, die gleichen Floskeln und Versprechen. Was wirklich zählt, ist Authentizität. Ein Unternehmen, das zum Beispiel sagt: „Humor ist ein Muss und Sie bringen Ihre Aufgaben zu Ende“, zeigt Charakter – und zieht genau die Bewerber an, die das zu schätzen wissen. Gute Stellenanzeigen sind nicht einfach Werbung, sondern ehrlich. Sie schildern den Job, das Team und die Unternehmenskultur so, wie sie wirklich sind – nicht, wie sie in Hochglanzbroschüren erscheinen sollten. Reif empfiehlt außerdem, bewusst mit Sprache und Ton zu experimentieren, Zielgruppen direkt anzusprechen und auch mal ungewöhnliche Perspektiven zuzulassen. Wer mutig ist und sich traut, anders zu klingen, bleibt im Gedächtnis – und erhöht die Chancen auf qualitativ hochwertige Bewerbungen erheblich. Wer denkt, die besten Talente bewerben sich von allein, lebt in der Vergangenheit. Besonders Fachkräfte mit gefragtem Profil sind oft nicht aktiv auf Jobsuche. Active Sourcing – also die gezielte Ansprache potenzieller Kandidat:innen – ist daher unerlässlich. Das erfordert jedoch ein neues Skillset im Recruiting: Kommunikationsstärke, Menschenkenntnis, Empathie und ein gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Reif betont, dass Unternehmen mehr investieren müssen, um diese Kompetenzen im Recruiting aufzubauen. Dazu gehören auch Tools und Technologien für gezieltes Sourcing, klare Messaging-Konzepte und vor allem Recruiter:innen, die auf Augenhöhe kommunizieren können. Besonders wichtig: Active Sourcing ist kein Massengeschäft, sondern eine Beziehungspflege über Wochen und Monate.
Mehr Tests als Bauchgefühl einsetzen
Unstrukturierte Unterhaltungen, Entscheidungen aus dem Bauch heraus, „Sympathie“ als entscheidendes Kriterium – so sieht der Alltag in zahlreichen Firmen aus. Studien belegen, dass die Validität solcher Verfahren teilweise unter der Trefferquote eines Würfels liegt. Es sollten stattdessen strukturierte Interviews, valide Diagnosen und Kompetenzmodelle verwendet werden. Minicases, bei denen Bewerbende reale Herausforderungen aus dem Berufsalltag meistern müssen, entfalten eine besonders starke Wirkung. So wird Vergleichbarkeit geschaffen – sowie eine solide Basis für Entscheidungen. Die Qualität und Fairness im Auswahlprozess lassen sich erheblich verbessern, wenn man konsequent Teilstruktur, einheitliche Bewertungsraster und geschulte Interviewer verwendet. Auf diese Weise kann auch die Gefahr von Benachteiligung verringert werden.
In vielen Unternehmen besteht ein großer Widerspruch: Bei der Rekrutierung kommen harte Fakten wie Noten oder Berufserfahrung zum Tragen, bei der Entwicklung hingegen Soft Skills. Warum nicht bereits bei der Rekrutierung auf das achten, was später entscheidend ist? Fähigkeiten wie Teamarbeit, Konfliktbewältigung, Eigenverantwortung und Kommunikationsfähigkeit sind in fast allen Berufen entscheidend für den Erfolg. Wer diese Dimensionen schon im Auswahlprozess erfasst, trifft nachhaltigere Entscheidungen. Geeignet dafür sind zum Beispiel Persönlichkeitsdiagnostiken, strukturierte Referenzgespräche oder Probeaufgaben mit Teaminteraktion. Der Vorteil: Das Abgleichen von Kandidat:in und Unternehmenskultur wird wesentlich genauer – und die Gefahr, dass Stellen falsch besetzt werden, verringert sich.
Andere Kriterien als rein das Zeugnis betrachten
Quereinsteiger, Bewerber:innen mit Lebenslauf-Lücken oder branchenfremdem Hintergrund haben oft Schwierigkeiten. Genau hier steckt viel Potenzial. Reif spricht sich gegen übertriebene Vorstellungen von idealen Kandidaten aus. Entscheider sollten lieber Motivation, Lernfähigkeit und Einstellung Beachtung schenken als auf den Lebenslauf zu blicken. Viele Talente sind ideal geeignet, passen aber nicht ins Raster. Wer diesen Menschen eine Chance bietet, nutzt die Vorteile von Vielfalt und neuen Perspektiven. Angesichts des demografischen Wandels und der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sind beherzte Personalentscheidungen nicht nur ratsam, sondern unabdingbar. Firmen, die sich hier öffnen, sichern sich Vorteile im Wettbewerb.
Trotz ihrer großen Bedeutung wird die HR-Abteilung in vielen Unternehmen nach wie vor als operative Einheit betrachtet. Das Personalwesen hat strategische Bedeutung: Es gestaltet die Unternehmenskultur, beeinflusst die Wettbewerbsfähigkeit und trägt zur Bestimmung des wirtschaftlichen Erfolgs bei. Reif fordert daher, dass HR sichtbar ist, Einfluss hat und den Mut aufbringt, Position zu beziehen. Dies schließt ein, dass unbequeme Wahrheiten zur Sprache kommen, bestehende Abläufe einer kritischen Prüfung unterzogen und Argumente auf der Grundlage von Daten in die Managementebene eingebracht werden. HR sollte über die Rolle eines Dienstleisters hinausgehen und zu einem Sparringspartner der Unternehmensführung werden. Nur so kann der Wandel vom reaktiven Verwalten zur aktiven Gestaltung der Zukunft gelingen.
Fazit: Die größten Schwierigkeiten beim Recruiting sind selbstverschuldet. Sie entstehen aufgrund unzureichender Vorbereitung, fehlender Konsequenz und falscher Annahmen. Aber sie sind korrigierbar. Langfristig wird man erfolgreicher rekrutieren und binden, wenn man bereit ist, Abläufe zu hinterfragen, auf Rückmeldungen einzugehen und neue Ansätze auszuprobieren. Marcus Reif bietet nicht nur gut begründete Kritik, sondern auch eine präzise Anleitung für effektives modernes Recruiting. Zeit, um einen anderen Denkansatz zu wählen. Und vor allem: endlich aktiv zu werden.