Schon als sich Andreas Wissinger für eine Ausbildung entscheiden musste, dominierte der Wunsch, ins Ausland zu gehen. „Ich wollte einfach schauen, wie es anderswo ist, und als Krankenschwester müsste das möglich sein, dachte ich mir damals“, erinnert sich die gebürtige Wienerin. Nach dem Diplom und drei Jahren im Allgemeinen Krankenhaus in Wien erfüllte sie sich diesen Wunsch und hängte ihren sicheren Job für eine Reihe befristeter Einsätze für das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen an den Nagel. „Ich habe am Freitag gekündigt und bin am Montag zu meinem ersten Einsatz geflogen“, erzählt sie. Die Reaktionen ihres Umfeldes: „Du bist verrückt.“

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Foto von Campaign Creators

Heute schaut sie auf zwölf Jahre „im Feld“ zurück, wie sie ihre Einsätze nennt. Mit 22 Jahren arbeitete sie erstmals sechs Monate in einem kambodschanischen Flüchtlingslager in Thailand, es folgten Pakistan, Angola, Uganda, Liberia, das Kosovo, Indien. Sie hat so gut wie alles gemacht, was in kleinen Krankenhäusern zu tun ist: Aufbau, Organisation und Leitung, sie war Personalverantwortliche, OP-Schwester und hat sogar selbst kleine Eingriffe vorgenommen. Später organisierte sie Hilfslieferungen, war für die Logistik und im Kosovo für den Bau von Häusern verantwortlich.

Während der Zeit zwischen den Einsätzen setzte die diplomierte Krankenschwester vor allem auf Weiterbildung: Katastrophenmanagement-Fernstudium und Master im Non-Profit-Management, dazu eine tropenmedizinische Ausbildung und der LKW-Führerschein. In Krisengebieten sind Allroundtalente gefragt.

Vor vier Jahren hat sie ihr Vagabundenleben gegen eine Tätigkeit in der Österreich-Zentrale des Roten Kreuzes in Wien getauscht. Mittlerweile ist sie zuständig für Recruiting und Ausbildung derer, die sich für Auslandseinsätze interessieren. Ein Pool von rund 30 Mitarbeitern steht für Langzeiteinsätze zur Verfügung, einige mehr sind es für kurzfristige Entsendungen. Gerade nach Katastrophen wie dem Tsunami in Südostasien wird Andrea Wissinger überhäuft mit Anfragen. „In der ersten Zeit nach dem Unglück haben täglich 40 bis 50 Leute angerufen, weil sie vor Ort helfen wollten“, erzählt Wissinger. Aber so funktionieren die Einsätze natürlich nicht. „So gut diese Anfragen auch gemeint sind - wir schicken keine unbedarften Idealisten mit aufgekrempelten Ärmeln ins Feld, die keine Ahnung haben, was sie erwartet und was überhaupt machbar ist.“ Die Reaktionen auf die Ablehnung seien breit gefächert: Empörung darüber, „dass das Rote Kreuz mich nicht helfen lässt“, sei eine davon. Aber die meisten hätten Verständnis, wenn man ihnen das Prozedere des Recruitings erst einmal erklärt habe.

Von den Hunderten Bewerbern, die sich allein im Zuge des Tsunami gemeldet haben, „werden vermutlich höchstens vier oder fünf tatsächlich beim Roten Kreuz bleiben“, schätzt Wissinger. Denn nur wer älter als 25 ist, eine abgeschlossene Ausbildung mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung hat und zumindest gute Englischkenntnisse mitbringt, wird von Wissinger überhaupt zu einem Gespräch eingeladen. Gefragt sind zum Beispiel medizinische Fachkräfte, Wassertechniker, Bauleiter oder LKW-Fahrer. In dem Erstgespräch versucht die Personalistin, so gut es geht herauszufinden, ob der Kandidat die nötigen Eigenschaften für Auslandseinsätze mitbringt: Ohne Flexibilität und Teamfähigkeit geht gar nichts. Auch ein positiver, stabiler Charakter ist nötig und die Stärke, sich nicht manipulieren zu lassen. Dazu müsse ein Bewerber eine eigene Meinung haben und zu der auch stehen, gleichzeitig muss er geschickt verhandeln können, um mit anderen Kulturen und lokalen Behörden klarzukommen.

Aber nicht nur darum geht es in dem Bewerbungsgespräch. „Ich versuche, die Tätigkeit ein wenig zu relativieren“, erzählt Wissinger. Wer „einfach nur helfen“ will, stoße bald an die Grenzen des Machbaren und werde enttäuscht. Zum Beispiel, wenn in einem Katastropheneinsatz eben nicht „den armen, kleinen Kindern“ um jeden Preis zuerst geholfen werde, sondern aus vernünftigen Überlegungen eher den jungen Erwachsenen, die beim Wiederaufbau helfen können und Kulturträger sind. „Das klingt vielleicht hart. Aber man muss in diesem Beruf realistisch sein.“

Wer sich dennoch nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt und geeignet erscheint, nimmt an einem einwöchigen Kurs teil, der einerseits Ausbildung, andererseits aber auch der letzte Teil des Recruitings ist. Der Kurs informiert über die Strukturen und Einsätze des Roten Kreuzes und vermittelt grundlegende medizinische Kenntnisse. Er beinhaltet aber auch Aufgaben, „die über Team- und Konfliktfähigkeit Auskunft geben.“

Ob die Wahl auf die richtigen Bewerber gefallen ist, die mit menschlichem Leid inmitten von militärischen Konflikten oder Naturkatastrophen auch wirklich umgehen können, stellt sich dennoch erst im Einsatz heraus. Vor allem Mitarbeiter, die Langzeiteinsätze über mehrere Monate oder sogar Jahre absolvieren, haben häufig mit Burnout zu kämpfen. Aber das Rote Kreuz hat bereits vor zehn Jahren einen Weg gefunden, dem Burnout vorzubeugen: Die Mitarbeiter in extrem belastenden Einsätzen, vor allem in Krisengebieten, werden alle zwei Monate aus dem Einsatzgebiet gebracht und können sich in der nächsten größeren Stadt für einige Tage erholen - „zusätzlich zum Jahresurlaub“, betont Wissinger. Gruppen, in denen dieses Konzept der „rest and relexation period“ praktiziert werde, hätten deutlich weniger mit Erschöpfungssymptomen zu kämpfen als andere Gruppen.

Aber natürlich sei das Gefühl, einen Einsatz nicht durchzustehen, ein immer präsentes Problem. „Wenn ein Team gut eingespielt ist und erfahrene Mitarbeiter dabei sind, kann man untereinander darüber reden, wie es einem geht. Das hilft sehr viel.“ Und wenn ein Mitarbeiter es dennoch nicht schafft? „Dann ist es besser, er wird nach Hause geschickt. Vielleicht ist er ja für einen anderen Einsatz besser geeignet.“ Dabei sei es ideal, wenn der Mitarbeiter selbst über seine Probleme spricht. Problematisch sei dagegen der Umgang mit Mitarbeitern, die mit ihrer Kraft am Ende sind und es vor anderen und sich selbst verleugnen. Auch damit hatte Wissinger als Leiterin eines Einsatzes schon zu tun. „Der Mitarbeiter war ständig krank, seine Arbeitsabläufe wurden undurchschaubar und unlogisch, aber er tat, als sei alles in Ordnung.“ Auch ein Gespräch brachte keine Klärung. „Er hat nicht eingesehen, dass er seine Grenzen überschritten hatte.“ Er wurde nach Hause geschickt, auch wenn er sich damals ungerecht behandelt fühlte.

Wissinger selbst will in ein paar Jahren unbedingt wieder „ins Feld“. Wirklich ausgebrannt hat sie sich bisher nur einmal gefühlt. Damals arbeitete sie in einem Krankenhaus in Grosny, wo sechs ihrer Kollegen im Schlaf ermordet wurden. „Das war der Punkt, an dem ich mir überlegt habe aufzuhören.“ Sie hat es nicht getan. Nach einer Pause gab sie das vergleichsweise bequeme Leben in Österreich wieder auf und ging in den nächsten Einsatz. Erlebtes Elend nicht zu nahe an sich heranzulassen, gelinge ihr dabei meistens recht gut, sagt sie. „Man braucht innere Distanz, das lernt man mit den Jahren.“ Nur eines dürfe diese Distanz nicht: in Sarkasmus umschlagen. „Dann ist es Zeit aufzuhören“, ist sich Wissinger sicher. Eine Zeit, die für sie noch längst nicht gekommen ist, wie sie betont.

Quelle: personal manager 2/2005