Viele große Unternehmen haben eines, einige wenden sie auch an, die Akzeptanz aber ist gering: Kompetenzmodelle. Die Einführung eines Kompetenzmodells geschieht aus nachvollziehbaren Gründen: Ziel ist es, die zentralen Kompetenzen zu beschreiben, über welche eine Führungskraft verfügen sollte, um im jeweiligen Unternehmen erfolgreich zu sein. Damitent steht Transparenz dahingehend, was das Unternehmen von Führungskräften erwartet – einzweifellos sinnvolles Unterfangen.

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Schlüssig angewendet orientieren sich alle Instrumente und Maßnahmen der Führungskräfteentwicklung an diesem Idealbild. Assessment Center und Management-Audits bilden diese Anforderungen ab, Vorgesetzte beurteilen ihre Mitarbeiter anhand dieser Kriterien, Seminare und Förderprogramme unterstützen Führungskräfte bei der Weiterentwicklung der gewünschten Kompetenzen.

Die gesamte Personal- und Führungskräfteentwicklung kann mithilfe eines Kompetenzmodells einheitlich ausgerichtet werden. Für Konzernholdings bietet ein in allen zugehörigen Gesellschaften eingeführtes und in Beurteilungsverfahren integriertes Kompetenzmodell den Charme, Führungskräfte hinsichtlich ihrer Kompetenzen gesellschaftsübergreifend vergleichen zu können. So verspricht man sich, einen Überblick über vorhandene Kompetenzen zu erhalten und bei Bedarf auf passende Mitarbeiter zugreifen zu können.

Was geschehen würde, wenn tatsächlich alle Führungskräfte einem bestimmten Ideal entsprächen, wäre schon eine interessante Frage. Aber unabhängig davon offenbart sich die Problematik von Kompetenzmodellen erst bei einem Blick in die Praxis. Die Schwierigkeiten beginnen bereits, wenn es um die Erstellung des unternehmensspezifischen Modells geht.

Im Idealfall werden Interviews mit erfolgreichen Führungskräften unterschiedlicher Ebenen geführt. Sie werden nach ihren wesentlichen Tätigkeitsfeldern sowie nach kritischen Ereignissen in ihrem Job befragt und wie sie diese gemeistert haben. Daraus können erfahrene Personalentwickler oder Berater herausfiltern, welche Kompetenzen für die Aufgabenerfüllung von zentraler Bedeutung sind.

Unternehmenseinheitliche Modelle werden der Realität selten gerecht.

Dieses aufwändige Vorgehen ermöglicht einen realistischen Gesamtüberblick über das tatsächliche Anforderungsspektrum im Unternehmen. Häufig steht am Ende aber die Erkenntnis, dass die Kompetenzanforderungen auf den einzelnen Hierarchieebenen und/oder in den diversen Unternehmensbereichen deutlich voneinander abweichen und ein unternehmenseinheitliches Kompetenzmodell die Realitäten nicht adäquat abbilden würde. Ebenenspezifische oder bereichsspezifische Modelle können in diesem Fall der Ausweg sein. Im Extremfall sind sogar funktionsspezifische Modelle erforderlich.

In der Regel scheuen Unternehmen eine so aufwändige Vorgehensweise bei der Anforderungsanalyse. Stattdessen werden zur Entwicklung des Kompetenzmodells Workshops mit Vorständen und oberen Führungskräften durchgeführt. Dieser Personenkreis müsste doch eigentlich die entscheidenden Erfolgsfaktoren bei Führungskräften kennen, sonst wäre er doch nicht soweit aufgestiegen. Ist das wirklich so. Wer über relevante Kompetenzen verfügt, muss diese noch lange nicht kennen beziehungsweise in Worte fassen können. Auch sind diese Führungskräfte möglicherweise schon zu weit vom mittleren Management entfernt, um auch Anforderungen auf diesen Ebenen realistisch und umfassend einschätzen zu können.

Kompetenzen frisch aus dem gängigen Anforderungskatalog.

 

So darf es nicht verwundern, dass solche Workshops meist Kompetenzmodelle hervorbringen, die sehr strategielastig sowie eher klischeehaft und damit austauschbar wirken. Überspitzt gesagt, drängt sich dem Beobachter nicht selten der Eindruck auf,das Kompetenzmodell sei entstanden, indem unter Rückgriff auf persönliche Erfolgsrezepte und Business-School-Wissendie passenden Kompetenzen aus Anforderungskatalogen ausgewählt wurden. Ein so entstandenes Kompetenzmodell entfaltet seine schädliche Wirkung, wenn es für allgemeingültig im Unternehmen erklärt und tatsächlich konsequent auf Führungsinstrumente sowie Entwicklungsmaßnahmen übertragen wird. Ein Meister oder Vorarbeiter bringt meist wenig Verständnis dafür auf, wenn im Rahmen einer Jahresbeurteilung auch seine strategische Orientierung oder seine interkulturelle Kompetenz einzuschätzen sind. Verstörend und identifikationsschädigend wirkt es beispielsweise auch, wenn akademische Nachwuchskräfte in einem Entwicklungs-Assessmentcenter unternehmensstrategische Fallstudien zu bearbeiten haben, obwohl selbst bei einem zügigen Aufstieg ganz andere, basisnahe Anforderungen und Aufgaben etwa bei Einsätzen in der Produktion ihre Tätigkeit prägen werden. Beurteilungsverfahren, die nicht die tatsächlich erfolgsrelevanten Anforderungen abbilden, werden letztlich von den Betroffenen nicht akzeptiert und bleiben wirkungslos.

Beurteilung gelingt nicht abgelöst von den Arbeitsanforderungen.

 

Wenn also Kompetenzmodelle schon weit hinter ihrem Anspruch zurückbleiben und in der Anwendung solche Widerstände erzeugen, wie sieht es dann mit den nächsten Fragen aus: Würde ein einheitlich auf allen Ebenen und in allen Bereichen oder Konzerngesellschaften eingeführtes Verfahren zur Beurteilung von Mitarbeitern durch Vorgesetzte überhaupt einen verlässlichen Überblick über Kompetenzen und vorhandene Potenziale ermöglichen. Wie ist die Einschätzung eines Abteilungsleiters zu bewerten, der seinem Mitarbeiter eine hochausgeprägte Mitarbeiterorientierung bescheinigt. Selbst wenn diese Kompetenzdimension mit konkreteren Verhaltensbeschreibungen hinterlegt ist, bleiben mehrere Faktoren wirksam, welche interindividuelle Vergleiche stören oder gar unmöglich machen: Der Abteilungsleiter hat seine eigene Vorstellung davon, wann Mitarbeiterorientierung als hoch ausgeprägt anzusehen ist. Zudem wird er seine Beurteilung nicht losgelöst von den Arbeitsanforderungen an den Mitarbeiter sehen können.

Persönliche Vergleichsmaßstäbe unterlaufen das einheitliche Modell.

 

Nehmen wir an, der Beurteilte hat nur zwei Mitarbeiter, mit denen er sich gut versteht und die es ihm als Führungskraft einfach machen. Es bleibt fraglich, ob seine Mitarbeiterorientierung tatsächlich vergleichbar ist mit der gleich hoch eingestuften Mitarbeiterorientierung einer Führungskraft auf anderer Ebene oder in einem anderen Bereich, die in schwierigerem Umfeld mehr Mitarbeiter zu führen hat. Letztlich können Beurteilungen verschiedener Vorgesetzter mit ihren persönlichen Vergleichsmaßstäben, die in unterschiedlichen Kontexten Mitarbeiter einschätzen, nicht miteinander vergleichbar sein.

Ein zusätzliches Problem stellt die Mehrdimensionalität von Beurteilungskriterien dar. Mitarbeiterorientierung umfasst beispielsweise Aspekte wie einfühlsames Verhalten, kooperatives Verhalten gegenüber Mitarbeitern, Motivieren von Mitarbeitern, Weiterentwickeln von Mitarbeitern. Wird eine Führungskraft hinsichtlich ihrer Mitarbeiterorientierung bewertet, so fließen all diese Aspekte irgendwie ein.

Ist eine eher autoritäre Führungskraft mit ausgeprägtem Talent, ihre Mitarbeiter zu motivieren, weniger mitarbeiterorientiert als ein sehr kooperativ mit den Mitarbeitern umgehender Vorgesetzter, dem es aber an dem nötigen Einfühlungsvermögen mangelt, um unterschiedlichen Mitarbeitern die jeweils passenden Leistungsanreize zu bieten. Was kann eine solche Bewertung tatsächlich einem Außenstehenden sagen, der den Beurteilten nicht kennt. Machbar wäre, komplexe Konstrukte wie Mitarbeiterorientierung auf die einzelnen Teilkompetenzen „herunterzubrechen“ und diese einzeln bewerten zu lassen. Das aber würde zu einer unüberschaubaren Zahl von Kompetenzen führen, die in der Praxis am Widerstand aller Beteiligten scheitern – weil ihre Anwendung einfach zu aufwändig ist.

Angemessene Beschreibungen der Kompetenzen ufern zwangsläufig aus.

Bleibt die Form der Kompetenzbeurteilung. Kompetenzmodelle nehmen für sich in Anspruch, Verhalten, Fähigkeiten und Einstellungen zu erfassen, keine Persönlichkeitseigenschaften. Entsprechend findet man vielfach Versuche, die verschiedenen Ausprägungen einer Kompetenz genau zu beschreiben, um dem Beurteiler Anhaltspunkte für seine Einschätzung zu geben. An einem realen Beispiel soll dies gezeigt werden. Betrachten wir also die Kompetenz „Übernimmt Geschäftsrisiken“. Folgende Grade werden unterschieden:

  • Level 1: Zeigt keine Anzeichen zur Übernahme von Geschäftsrisiken.
  • Level 2: Erkennt Geschäftsrisiken und Konsequenzen, handelt aber nicht.
  • Level 3: Bewertet Geschäftsrisiken und unterbreitet Vorschläge, handelt aber nur, wenn er sich rückversichert hat.
  • Level 4: Übernimmt Geschäftsrisiken innerhalb seines Verantwortungsbereichs.
  • Level 5: Übernimmt Geschäftsrisiken, wenn nötig, auch über seinen Verantwortungsbereich hinaus.

Das Beispiel lässt sich erweitern. Es macht deutlich, dass trotz der Beschreibung der einzelnen Skalenwerte der Beurteiler vor einem Problem steht. Wie oft muss jemandein Verhalten gezeigt haben, um ein bestimmtes Level zu rechtfertigen. Welche Rolle spielt die Höhe der Risiken. Um ein einheitliches Verständnis der einzelnen Levels bei allen Anwendern halbwegs sicherzustellen, würden die Beschreibungen so komplex werden, dass auch hier die Anwendung enorm aufwändig wird und am Widerstand der Beurteiler scheitert. Eine andere Form der Beurteilung findet sich in dem folgenden real existierenden Beispiel zum Kriterium „Risikobereitschaft“. Hierunter wird verstanden: „Hat die Bereitschaft und den Mut, Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen in Situationen, in denen der zu erzielende Nutzen groß, aber das Eintreffen unsicher ist.“ Die Beurteilungsskala im angeführten Beispiel des Kriteriums „Risikobereitschaft“ umfasst Wertevon 1,0 bis 4,0:

  • 1,0: deutlicher Entwicklungsbedarf
  • 2,5: entspricht den Anforderungen
  • 4,0: deutliche Stärke

Hier wird nur die Kompetenz selbst beschrieben, die Skalenwerte gehen von einer – wie auch immer gearteten – Anforderung aus. Wie wäre ein sehr risikofreudiger Manager nun einzustufen. Wie kann hier eine Beurteilung „entspricht den Anforderungen“ verstanden werden, wenn diese nicht bekannt sind. Damit ist die Vergleichbarkeit über Abteilungs- und Bereichsgrenzen hinweg nicht mehr gegeben, das heißt, ein erklärtes Ziel der Kompetenzmodelle wird nicht erreicht.

An Differenzierung und genauer Analyse geht kein Weg vorbei.

 

Um wirkungsvoll Personalentwicklung betreiben zu können, wird man nicht umhin kommen, differenziert vorzugehen, sorgfältig zu analysieren und in enger Zusammenarbeit mit den tatsächlich Betroffenen jeweils passende Entwicklungsinstrumente und Entwicklungsverfahren zu konzipieren. Mit steigender Heterogenität der Arbeits- und Aufgabenfelder sinkt die Passung und damit auch die Berechtigung eines einheitlichen Kompetenzmodells. Mit anderen Worten: Großunternehmen, deren Führungskräfte- und Personalentwicklung sich trotz all dieser Einschränkungen dennoch an einem Kompetenzmodell orientiert, wiegen sich in einer trügerischen Sicherheit. Eine Vergleichbarkeit von Führungskräften ohne Kenntnis der jeweiligen Arbeitsaufgaben und Arbeitsumgebung ist nicht gegeben, Fehlentscheidungen sind daher programmiert.

Die Folgen könnten sogar noch schlimmer sein: Würden sich Führungskräfte tatsächlich an dem uniformen Vorbild, der Idealausprägung innerhalb des Kompetenzmodells orientieren, würde ein Unternehmen kaum die notwendigen Leistungsträger mit den unterschiedlichsten Kompetenzen finden, mit denen es die verschiedenen Positionen erfolgreich besetzen könnte. Da das Kompetenzmodell allerdings in der Regel nicht funktioniert, besteht diese Gefahr zum Glück nicht.

Konformismus und Steuerungswahn verleiten zur Modellimplementierung.

 

Warum wird dennoch vielerorts an der Einführung von Kompetenzmodellen gearbeitet. Ein ebenso einfacher wie banaler Grundlautet: Weil es „alle tun“ – und welches Unternehmen möchte sich schon vorwerfen lassen, eine so bedeutende Entwicklung verschlafen zu haben.

Grund Nummer zwei: die wachsende Verbreitung von Informationstechnologien, die endlich den bereichsübergreifenden, weltweiten Vergleich zu ermöglichen scheinen. Auf Knopfdruck die zu einem vorgegebenen Anforderungsprofil passenden Mitarbeiterauf den Bildschirm zaubern zu können – welch verlockende Vorstellung. Und schließlich Grund Nummer drei: die Sehnsucht nach der zentral gesteuerten Führungskräfteentwicklung. Diese Sehnsucht ist immer noch verbreitet, obwohl längst bekannt ist, dass die zentrale Steuerung großer Organisationen eine Illusion ist. Auf diesem Nährboden werden noch viele Ideen keimen, deren Versprechen schließlich nicht einzuhalten sind.

Das mechanistische Menschenbild führt in die Irre.

 

Verständlich ist natürlich, dass ein Unternehmen nach Mitteln und Wegen sucht, Informationen über seine Potenzialkandidaten zu sammeln. Dies ist ein typisches Problem großer Unternehmen. Wie soll auch ein Vorstand alle Kandidaten für Top-Positionen persönlich kennen, geschweige denn ihr Potenzial einschätzen. Die logische Antwort lautet: Er delegiert diese Aufgabe an nachgeordnete Ebenen. Um diese bei der Aufgabe zu unterstützen, sollte der Vorstand ihnen ein Instrumentarium an die Hand geben, das der Unternehmenswirklichkeit gerecht wird, dabei aber einfach zu handhaben ist. Außerdem sollte es nicht den Anspruch erheben, die gesamte Komplexität menschlicher Leistungen und Fähigkeiten abzubilden.

Gerade im Mittelstand wird nichts weniger gebraucht als diese Modelle.

 

Dazu gehört zum einen der Mut zur Lücke. Es geht darum, eben in Kauf zu nehmen, dass man nicht den „ganzen Menschen“ erfassen kann. Zum anderen wird man sich von dem mechanistischen Menschenbild verabschieden müssen, wie es in den analytischen Beurteilungsverfahren der Kompetenzmodelle zum Ausdruck kommt. Gewarnt seien an dieser Stelle besonders mittelständische Unternehmen. Ihnen werden inzwischen auch schon derartige Beurteilungsverfahren als „state of the art“ angeboten. Dies geschieht meist frei nach dem Motto: „Wer moderne Personalentwicklung betreiben möchte, kommt daran nicht vorbei!“ Stimmt nicht! Daran kommt sie oder er sehr wohl vorbei! Gerade mittelständische Unternehmer und ihre Geschäftsführer können ihre Potenzialträger noch persönlich kennen lernen und einschätzen. Ihnen bei dieser Aufgabe zu helfen, das ist eine der zentralen Aufgaben von Personalentwicklern.