Zu unserer heutigen Episode zu HRM Hacks dürfen wir wieder Prof. Dr. Nele Graf begrüßen. Ging es bei unserem ersten Gespräch (Podcast Episode 5) um agiles Lernen, erfahren wir von ihr heute, wie in modernen Unternehmen der Lernprozess sich verändert. Sie erzählt uns, was es mit Begriffen wie experimentalen oder kollaborativen Lernens auf sich hat und wie für Mitarbeiter der Lernprozess attraktiver gestaltet werden kann.

Prof. Dr. Nele Graf

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Anja Schmitz entwickelte Nele Graf die erste deutschsprachige Definition des Begriffs “Agiles Lernen”. Darüber hinaus ist sie Mitbegründerin der Mentus GmbH, die schwerpunktmäßig zu Themen wie “Agiles Lernen und Arbeiten” berät. Nele Graf lehrt an der Hochschule für angewandtes Management in Berlin Personal und Organisation.

Alexander Petsch: Hallo, Nele!

00:00:53
Nele Graf: Hallo, Alexander, hallo, zusammen! Ich freue mich hier zu sein.

00:00:56
Alexander Petsch: Wir haben heute ein sehr spannendes Thema, nämlich “Lernen lernen”. Mich als Legastheniker beschäftigt schon mein ganzes Leben diese Frage. Wie lernt man richtig Lernen? Und ich habe sehr früh festgestellt, dass die Lernform der Schule für mich nicht die richtige Lernform war. Trotzdem ist aus mir noch halbwegs etwas geworden. Wie geht man da ran? Warum Lernen lernen?

00:01:25
Nele Graf: Ich glaube, wenn wir über Lernen reden, dann gibt es genau die Assoziationen, die du jetzt auch hattest: Schule, Auswendiglernen, Prüfungen. Das ist so das klassische Verständnis von Lernen. Das Lernen in der Arbeitswelt aber hat sich massiv geändert. Es geht vielmehr darum, im Arbeitskontext zu lernen, auch permanent zu lernen und auch zu lernen, ohne das Ziel exakt zu kennen. Es geht ja nicht mehr nur darum, beispielsweise Präsentationstrainings zu absolvieren, um hinterher besser präsentieren zu können, sondern im Moment reden wir zum Beispiel alle über digitale Transformation. Was heißt denn das für mich als Mitarbeitende? Was muss ich da lernen? Das ist gar nicht so klar. Das heißt, wir brauchen da eigentlich eine neue Form das herantastenden Lernens, des experimentalen Lernens, des kollaborativen Lernens. Und dafür brauche ich einfach ganz andere Kompetenzen, ganz andere Lernkompetenzen als in der Schule. Und vielleicht war deswegen die Schule für Dich und auch für mich nicht das optimale Lernumfeld, weil wir vielleicht immer schon etwas freier und kreativer und selbstgesteuerter lernen wollten. Und jetzt ist nicht mehr die Frage, ob wir wollen, sondern ich glaube, um als Mitarbeitende wettbewerbsfähig und gerade auch erwerbsfähig zu bleiben, ist es wichtig, diese neuen Lernkompetenzen, die viel mehr auf das Lernmanagement und die Steuerung des Selbst fokussiert sind, auszubauen. Das heißt eigentlich Lernen lernen in der heutigen Zeit.

00:03:14
Alexander Petsch: Ich lerne deine Tipps für Personalentwicklerinnen und Personalentwickler.

00:03:19
Nele Graf: Wir hatten gerade schon über Freiheitsgrade gesprochen. Wir können natürlich jetzt sagen als Personalentwickler, Mensch, ich gebe doch eine neue E-Learning-Plattform rein! Das muss doch funktionieren! Sie haben alle die Zugänge, jeder kann lernen. Und es funktioniert häufig nicht. Weil wir diese Freiheitsgrade häufig vorher nicht mit den Mitarbeitenden besprochen haben und natürlich auch viele dabei nicht unterstützt haben. Die kennen diese Art des Lernens nicht. Ich kenne es von meinen Studierenden, Abgabe der Master- oder Bachelorarbeit fünf vor zwölf am letzten Tag. Immer dieses Ein-bisschen-Druck-brauchen. Und ich glaube, wir müssten als Personalentwickler den Freiheitsgrad langsam steigern. Also, fangen wir nicht gleich mit der E-Learning-Plattform an, die wir einfach allen vor die Füße schmeißen und sagen, hier habt ihr doch! Sondern lasst uns mit Formaten anfangen wie zum Beispiel Barcamps, in denen immer noch eine große Prozesssteuerung ist, also eine Orientierung für die Mitarbeitenden. Es ist klar, wann es stattfindet, wo es stattfindet, der Prozess ist klar. Aber ich kann schon mal meine Inhalte einbringen. Ich bin mitverantwortlich dafür, dass ich etwas lerne und dass die anderen auch etwas lernen, indem ich Session-Vorschläge mache und Sessions gestalte, mich in Sessions einbringe. Also, der erste Tipp an Personalentwickler: langsam die Freiheitsgrade erhöhen. Und der zweite Tipp wäre, dabei zu unterstützen. Das heißt, zum einen zu thematisieren, dass sich das Lernen ändert, und zum anderen zum Beispiel über agiles Lerncoaching, weil wir eben klarmachen wollen, dass es um ein neues Lernen geht, die Mitarbeitenden zu unterstützen, diese Selbststeuerung des Lernens und die dazugehörigen Lernkompetenzen aufbauen zu können. Damit sie überhaupt erst mal verstehen, dass etwas Neues von ihnen gefordert wird.

00:05:25
Alexander Petsch: Na, bei der Frage nach dem ersten Tipp hast Du nicht nur zwei, sondern gleich vier oder fünf mit auf den Weg gegeben. Zum einen hast Du gesagt, Regeln ganz wichtig. Das wäre vielleicht so Tipp Nummer drei, nur wenn die Spielregeln klar sind und die Freiheitsgrade, dann traut sich der Lernende auch, diese Regeln oder Freiheitsgrade auszunutzen. Und dann gibt es noch das Thema Experimentieren. Einfach mal loslegen mit kleinen Schritten. Aber das Experimentieren hat ja durchaus was von Scheitern und Review-Schleifen-Fliegen und gucken, wie passt das zu uns?

00:06:18
Nele Graf: Dann würde ich sagen, hast Du gleich den fünften Tipp mit reingenommen. Der fünfte Tipp wäre, Lernen lernen heißt auch immer wieder, nicht nur das Lernergebnis zu reflektieren, sondern auch den Lernprozess. Und als Personalentwickler macht es Sinn, wenn ich beispielsweise neue Formate, die eine höhere Selbststeuerung der Lernenden erfordern, hinterher mit den Lernenden, mit den Führungskräften zusammen reflektiere, in eine Art Retrospektive gehe und daraus wieder Erkenntnisse gewinne. Wo stehen die Lernenden? Wie kann ich die Lernenden weiter unterstützen, ihr Lernen, ihr selbstgesteuertes Lernen selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen? Und lerne natürlich auch, welche Formate funktionieren oder welche nicht.

00:07:13
Alexander Petsch: Dieses Thema erinnert mich als Vater an das Lernen mit meinen Kindern. Und eines der Formate, das da gut funktioniert, ist, wenn meine ältere Tochter es der jüngeren erklären kann. Erst dann hat sie es auch selbst verstanden. Das ist ja auch sozusagen eine experimentelle Form des Lernens.

00:07:42
Nele Graf: Ich finde das hervorragend, wir tauschen einfach mal die Rollen. Damit hast Du eigentlich schon den nächsten Tipp genannt: nicht mehr in dieser Konsumentenrolle zu verharren. Sondern als Lernende es auch weiter zu geben in der Kollaboration mit anderen, sich auszutauschen, dadurch auch selbst zu lernen. Also, quasi der lernende Lehrende oder der lehrende Lerner zu werden. Und das hilft natürlich sehr, die eigenen Lernkompetenzen zu stärken. Nicht umsonst sind diese ganzen Modelle wie interne Trainer, interne Coaches wirkliche Erfolgsmodelle. Weil sie nicht nur etwas mit den Individuen, sondern auch etwas mit der Lernkultur zu tun haben. Und daran anschließend kommt eigentlich schon der nächste Tipp: Never learn alone, das heißt, Personalentwickler sollten Möglichkeiten schaffen, dass Mitarbeitende gemeinsam lernen können. Und Du hast gerade von deiner Tochter gesprochen, die es ihrer jüngeren Schwester erklärt. Mit dem Thema Never learn alone können wir auch eine Analogie zum Sport machen: Vielleicht hast Du dir vorgenommen, jede Woche mindestens drei Mal ins Fitnessstudio zu gehen. Wenn Du das alleine tust und da keiner ist und es niemand kümmert, dann sagt man vielleicht doch, ach Mensch, mache ich nächste Woche, ist gerade viel zu tun. Wenn aber da ein guter Freund wartet und sagt, Mensch, ich hab dich jetzt schon einmal vermisst, wie sieht es aus? Dann ist man vielleicht doch gewillt, diesen kleinen, inneren Schweinehund zu überlisten. Das heißt, dieses Miteinanderlernen erzeugt, negativ formuliert, sozialen Druck. Positiv formuliert hilft es mir, diesen Schweinehund zu überlisten und auch meine Lernkompetenzen damit zu fördern beziehungsweise zu kompensieren, wenn ich mal etwas demotiviert bin. Demotivation ist etwas, das wir alle kennen. Dann ist Arbeit im Vordergrund, man ist müde, es ist irgendwas, und das hilft.

00:10:08
Alexander Petsch: Demotivation ist natürlich ein Killer. Aber wie sieht es denn umgekehrt aus? Muss lernen eigentlich Spaß machen?

00:10:16
Nele Graf: Da sprichst Du ein ganz spannendes Thema an! Ich finde, Spaß ist das falsche Wort. Es wird im Moment immer häufiger propagiert, lernen muss Spaß machen. Was implizit bedeutet, dass ich eigentlich nur das lerne, wozu ich Lust habe. Und wir wissen alle, so funktioniert die Realität nicht. Wir alle, von deiner Tochter, die das Einmaleins lernen muss, bis hin zu den Führungskräften, die sich mit einer neuen Software beschäftigen müssen – jeder muss auch Sachen lernen, die ihm keinen Spaß machen. Was ich aber wichtig finde, ist, dass ich selber weiß, wie mein Lernen funktioniert und wie ich mir das Lernen, egal ob mir das inhaltlich Spaß macht oder nicht, leichter gestalten kann. Also, wie gestalte ich zu solchen Themen mein Lernen, dass ich es motiviert und erfolgreich gestalten kann? Wenn ich jemand bin, der sehr aktiv ist und sehr kommunikativ, macht es beispielsweise keinen Sinn, wenn ich erst einmal anfange, ein 300-Seiten-Buch zum Thema Software XY zu lesen. Da hole ich mir dann lieber einen Buddy oder Coach oder gehe in eine Community rein, wo wir miteinander versuchen, uns dieser Software zu nähern. Und das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied: Spaß nicht mit Leichtigkeit zu verwechseln.

00:11:50
Alexander Petsch: Das ist wie im Sport. Alles, was leicht aussieht, ist harte Arbeit. Und das trifft wahrscheinlich auch fürs Lernen lernen zu.

00:12:01
Nele Graf: Absolut. Wir müssen ja lernen, umlernen. Fragen sie als Personalentwickler mal ihre Mitarbeitenden. Und eigentlich müssten wir jeden Einzelnen fragen: Was ist die Assoziation von Lernen? Und ganz viele haben dort eher die Assoziation “schwer”, “Prüfungsangst”, “Schulbank drücken” und Derartiges. Wenige assoziieren damit “experimentieren”, “Leichtigkeit”, “sich weiter entwickeln”, “Neugier”, “Interesse”. Und alleine das zeigt ganz häufig schon, dass wir als Personalentwickler das am Mindset thematisieren sollten, das verständlich machen sollten beziehungsweise in die Diskussion gehen sollten, dass Lernen lernen inzwischen etwas ganz anderes heißt als das, was ganz häufig damit assoziiert wird.

00:13:06
Alexander Petsch: Was würdest Du zum Schluss Personalentwicklern noch als wichtigen Tipp mitgeben?

00:13:15
Nele Graf: Ich glaube, mein allerwichtigster Tipp ist: Machen Sie den Fehler, den wir 1999/2000 gemacht haben, nicht nochmal! Und zwar haben wir damals so die ersten WBTs (Web Based Training) und CBTs (Computer Based Training) eingeführt, und uns immer nur um Inhalte und Formate gekümmert, aber eigentlich nicht um die Kunden, nämlich die Mitarbeitenden. Und ich habe das Gefühl, dass wir im Moment gerade wieder sehr darauf hinauslaufen. Wir machen Trainings wie “Wie funktioniert Zoom?”, “MS-Teams-Einführung”. Gehen also wieder auf Inhalte, tolle Formate, die es auch online gibt, tolle Techniken wie Virtual Reality, Augmented Reality. Aber wir vernachlässigen, was das für die Lernenden bedeutet. Und deswegen würde ich sagen, fangen Sie an mit den Lernenden, begleiten Sie die, thematisieren Sie die Veränderung und bieten Sie die Unterstützung an. Es geht nicht um die ersten zehn Prozent, die immer Neugier haben und experimentieren wollen. Es geht um die breite Masse, die wir auch mitnehmen müssen. Lernen verändert sich. Es ist eine Transformation, und wir können nicht davon ausgehen, dass diese Transformation jeder alleine bewältigt. Und das wäre mein allererster großer Tipp: Fokussieren Sie in Ihrem Job Lernen zu lernen für die Mitarbeitenden.

00:14:44
Alexander Petsch: Ja. Herzlichen Dank, liebe Nele. Es hat mir wieder sehr viel Freude gemacht, mit Dir über dieses für mich sehr persönliche Thema zu diskutieren – Lernen lernen. Schön, dass Du dabei warst!

00:14:58
Nele Graf: Sehr gerne, auch für mich ein spannendes Thema, mit dem ich mich seit Jahrzehnten beschäftige. Und ich habe ja auch noch nicht ausgelernt und experimentiere weiter mit meinem eigenen Lernen. Unter anderem halt mit Podcast.

00:15:12
Alexander Petsch: Wie immer haben wir die Tipps, Tricks und Hacks der heutigen Folge auf hrm.de für Euch zusammengefasst. Einfach nach Nele Graf suchen, und da findet Ihr auch Kontaktdaten und Möglichkeiten, weiter in Kontakt zu treten und Euch auszutauschen. Wir freuen uns über Euer Feedback, und wenn es Euch gefallen hat, abonniert HRM Hacks Podcast und sagt uns, welche Themen Euch noch begeistern und wozu Ihr mehr erfahren wollt. Liebe Nele, herzlichen Dank für Deine tollen Tipps und Tricks, die Du heute mit der HR-Community geteilt hast. Mir hat es viel Spaß gemacht, bleib gesund!

00:16:01
Nele Graf: Danke schön! Ja, sehr gerne, mir auch. Und vielleicht müssen wir das irgendwann wiederholen, denn wir lernen auch weiter und vielleicht haben wir demnächst schon die nächsten Tipps und Tricks zum Thema Lernen lernen.

00:16:16
Alexander Petsch: Dann machen wir einfach eine Folge zwei daraus.

00:16:20
Nele Graf: Dann machen wir einfach Folge zwei daraus. Ich freue mich, heute dabei gewesen zu sein, Alexander. Viel Spaß beim Lernen lernen mit deinen Kids, und allen anderen viel Spaß beim Experimentieren und das Lernen lernen in der Organisation weiterzutreiben. Ich freue mich auf den Austausch.

00:16:44
Alexander Petsch: Glück auf und bleibt gesund und denkt dran, der Mensch ist der wichtigste Erfolgsfaktor für Euer Unternehmen.

Hier geht’s zur dazugehörigen Podcast Episode!