Bundesgericht vom 6. September 2010 – 4A_187/2010

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Sachverhalt und Entscheidbegründung

Nach einem Nervenzusammenbruch war ein angestellter Mitarbeiter einer Organisation ab dem 23. August 2007 zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Auch nach längerer Absenz konnte der Betroffene seine Arbeit nicht mehr aufnehmen, weshalb das Arbeitsverhältnis per 31. Januar 2009 arbeitgeberseitig gekündigt wurde. Im Rahmen des daraufhin angestrengten Gerichtsverfahrens wurde die Arbeitgeberin zur Ausstellung eines im Text vorgegebenen Arbeitszeugnisses verurteilt. Darin sah das Obergericht in seinem Berufungsurteil unter anderem folgenden Satz vor: „Wegen gesundheitlichen Problemen konnte A… seine Funktion als … seit dem 24. August 2007 nicht mehr wahrnehmen.“
Das Bundesgericht schützte diese Klausel in seinem Urteil vom 6. September 2010 mit der Begründung, der Arbeitnehmer sei während mehr als einem Jahr krankheitshalber unfähig gewesen, seine bisherige Tätigkeit auszuüben. Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sei nicht absehbar gewesen, ob und wann er dazu wieder in der Lage sein würde, weshalb die Krankheit seine weitere Eignung zur Ausübung der bisherigen Tätigkeit erheblich in Frage stellte. Demnach sei die Arbeitgeberin gehalten, die Krankheit in einem qualifizierten Arbeitszeugnis zu erwähnen.

 

BEMERKUNGEN

Inhaltliche Vorgaben beim Ausstellen von Arbeitszeugnissen

Stellt ein Arbeitgeber ein qualifiziertes Arbeitszeugnis (Vollzeugnis) aus (zu den verschiedenen Kategorien von Arbeitszeugnissen siehe unten), hat er folgende Grundsätze zu erfüllen:

    • Das Arbeitszeugnis muss inhaltlich wahr, richtig und vollständig sein. Dabei müssen die dem Arbeitszeugnis zu Grunde liegenden Tatsachen überprüfbar und für Dritte feststellbar sein.

 

  • Ausserdem müssen Arbeitszeugnisse, als Teilaspekt der Wahrheitspflicht, vollständig sein. Das Zeugnis muss entsprechend alles Wesentliche für die Beurteilung der Leistung oder des Verhaltens des Arbeitnehmers im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses enthalten. Darunter fallen mitunter auch negative Aspekte.
    Gerade das Gebot der Vollständigkeit des Arbeitszeugnisses führt dazu, dass offensichtliches Schweigen über die Leistung oder das Verhalten des Arbeitnehmers mehr aussagt, als auf den ersten Blick erkennbar. Fehlt beispielsweise der Austrittsgrund, ist das ein deutlicher Hinweis auf eine fristlose Entlassung des Arbeitnehmers.
  • Innerhalb des Rahmens, der durch den Grundsatz der Richtigkeit und der Vollständigkeit gesteckt wird, hat der Arbeitgeber das Arbeitszeugnis wohlwollend zu formulieren. Dieses Wohlwollen findet seine Grenze entsprechend in der Wahrheitspflicht des Arbeitgebers.


Konsequente Anwendung dieser Grundsätze durch das Bundesgericht

Im konkreten, vom Bundesgericht zu beurteilenden Fall hatte die lange Krankheit einen erheblichen Einfluss auf die Beurteilung des Arbeitnehmers hinsichtlich seiner Eignung zur Erfüllung der bisherigen Aufgaben. Es war im Zeitpunkt der Kündigung nicht absehbar, wann der bereits über ein Jahr lang krank geschriebene Mitarbeiter seine Tätigkeit allenfalls wieder hätte aufnehmen können. Deshalb musste die Krankheit im Zeugnis erwähnt werden.

Die Schlussfolgerungen des Bundesgerichtes setzen die beschriebenen inhaltlichen Vorgaben eines Arbeitszeugnisses konsequent um. Insbesondere zeigen sie auf, dass die Grundsätze der Wahrheit und der Vollständigkeit des Zeugnisses mindestens genauso hoch zu gewichten sind wie die wohlwollende Ausgestaltung desselben. Es sind die Wahrheitspflicht und die Pflicht zur Vollständigkeit, die dem Grundsatz der wohlwollenden Formulierung Grenzen setzen – und nicht umgekehrt.

Folgen fehlerhafter Zeugnisse

Die hier aufgeworfene Frage hat bedeutendere Konsequenzen, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der Arbeitgeber haftet sowohl gegenüber dem Arbeitnehmer als auch gegenüber Dritten für Schäden, die aus dem wahrheitswidrigen Inhalt des Arbeitszeugnisses entstehen. Verletzt der Arbeitgeber beim Ausstellen des Zeugnisses die Wahrheitspflicht beziehungsweise als Teilaspekt davon die Pflicht zur Vollständigkeit, entsteht beim neuen Arbeitgeber unter Umständen ein zu guter Eindruck des Mitarbeiters. Erwächst dem neuen Arbeitgeber daraus ein Schaden, hat der alte Arbeitgeber allenfalls dafür einzustehen. Indem das Bundesgericht mit dem vorliegenden Entscheid klar gemacht hat, dass negative Tatsachen im Arbeitszeugnis zu erwähnen sind, sofern sie Einfluss auf die Leistung des Mitarbeiters beziehungsweise die Beurteilung seiner Eignung für eine bestimmte Arbeit haben, hat es die relevanten Haftungsgrundlagen konkretisiert. Der Arbeitgeber kann sich nicht unter Berufung auf die Pflicht zur wohlwollenden Formulierung von Arbeitszeugnissen von seiner Haftpflicht befreien, wenn er negative Tatsachen über den Arbeitnehmer unterschlägt.

 

Ergänzung

Die verschiedenen Kategorien von Arbeitszeugnissen

Gemäss Art. 330a des Schweizerischen Obligationenrechtes (OR) kann der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber jederzeit ein Zeugnis verlangen, das sich über die Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses sowie über seine Leistungen und sein Verhalten ausspricht. Auf besonderes Verlangen des Arbeitnehmers hat sich das Zeugnis auf Angaben über die Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses zu beschränken. Gestützt auf diesen Wortlaut unterscheidet die Praxis drei Formen von Arbeitszeugnissen, auf welche der Arbeitnehmer einen zwingenden Anspruch hat:

    • Vollzeugnis (auch qualifiziertes Zeugnis genannt): Das Vollzeugnis gibt über sämtliche wesentlichen Tatsachen des Arbeitsverhältnisses Auskunft und nimmt eine umfassende Bewertung des Arbeitnehmers vor. Es enthält Angaben über die Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses sowie über die vom Arbeitnehmer auszuführenden Arbeiten. Ausserdem werden die Leistung des Arbeitnehmers sowie sein Verhalten während der Arbeit qualifiziert. Es erfolgt somit eine Bewertung der Arbeitsqualität, der Arbeitsmenge und der Arbeitsbereitschaft. Unter dem Verhalten des Mitarbeiters wird insbesondere sein Umfang mit Vorgesetzten und Kollegen sowie allenfalls aussenstehenden Dritten (Kunden, Lieferanten, etc.) beurteilt. Das qualifizierte Zeugnis hat gemäss herrschender Lehre den Grund beziehungsweise die Gründe für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufzuführen, sofern der Arbeitnehmer dies wünscht.

 

    • Zwischenzeugnis: Weil der Arbeitnehmer einen zwingenden Anspruch auf jederzeitige Ausstellung eines Arbeitszeugnisses hat, kann er ein solches auch während des laufenden, ungekündigten Arbeitsverhältnisses verlangen. Er wird dies insbesondere dann tun, wenn er mit einem Stellenwechsel liebäugelt. Verlangt ein Mitarbeiter ein Zwischenzeugnis, ist dies für den Personalverantwortlich deshalb oft als Signal zu werten, dass der Mitarbeiter in seiner Anstellung unzufrieden ist. Das Zwischenzeugnis entspricht inhaltlich dem Vollzeugnis, enthält aber natürlich keine Angaben über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

 

  • Arbeitsbestätigung: Die Arbeitsbestätigung enthält lediglich Angaben über die Dauer der Anstellung und die ausgeübte Funktion. Weder darf darin die Leistung des Arbeitnehmers beurteilt werden, noch sind Angaben über sein Verhalten erlaubt. Auch dürfen der Arbeitsbestätigung keine Angaben über die Art und Weise der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu entnehmen sein.