six white sticky notes
Foto von Kelly Sikkema

Hier einige Beispiele für Purpose-Formulierungen:

Airbnb: “Provide hospitality, create a sense of belonging to wherever you go in the world.”

Asana: “Help humanity thrive by enabling all teams to work together effortlessly.”

dm-drogerie markt: „Einen sozialen Organismus schaffen, in dem Menschen ihre Potentiale entfalten und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten können.“

EMPAUA: “Creating a world where every individual is empowered to constantly grow, by disrupting the way organisations operate while creating the leaders of tomorrow.”

Greenpeace: “Ensure the ability of the earth to nurture life in all its diversity”

HolacracyOne: “Evolve humanity’s relationship to power.”

Ökofrost: „Gesunde Entwicklung durch echte LEBENS-MITTEL.“

Patagonia: “Build the best product, cause no unnecessary harm, use business to inspire and implement solutions to the environmental crisis”

Purpose Stiftung: „Mehr Unternehmen in die Welt bringen, die sich selbst gehören, um gemeinsam eine Wirtschaft mitzugestalten, die für Menschen und Gesellschaft da ist“

soulbottles: „Alle Menschen handeln gerne nachhaltig, konsumieren ohne den Planeten unnötig zu belasten und haben Zugang zu sauberem Trinkwasser.“

TESLA: „ To accelerate a sustainable future“

In der Mai/Juni-Ausgabe der Zeitschrift personal manager sind wir den Modebegriffen Selbstorganisation, Purpose und Agilität auf den Grund gegangen. Welche davon sind Management-Trends mit Ablaufdatum und welche dieser Entwicklungen müssen wir ernst nehmen, weil sie Aufbau und Steuerung unserer Unternehmen auf Dauer verändern werden?

Dabei wurde deutlich, dass agile Organisation und sinnorientierte Steuerung bei Unternehmen angebracht sind, die mit hoher Komplexität und widersprüchlichen Anforderungen ihrer Stakeholder konfrontiert sind. Unternehmen dagegen, deren Kunden einheitliche und langfristig stabile Anforderungen stellen – oder die ihre Leistungen als Standardprodukte und in Massenproduktion herstellen, dient klassisches Management und hierarchische Organisation weiterhin gut, um Effizienz und Produktivität zu erreichen.

Wenn Sie Ihr Unternehmen nun der ersten Gruppe zurechnen, merken Sie wahrscheinlich gerade, dass Organisation und Management an Grenzen geraten. Mittelfristplanungen halten nicht, Strategien haben eine kurze Halbwertszeit, weil der Markt sich schneller verändert. Sie versuchen vielleicht vergeblich, eine Innovations- und Fehlerkultur im Unternehmen zu implementieren oder kämpfen mit dem Flaschenhalsphänomen Top-Management, das Entscheidungen verlangsamt. Vielleicht haben Sie auch Schwierigkeiten, neue Talente zu gewinnen und zu halten, weil die Jungen kein Interesse an hierarchischen Karrierepfaden haben und von Beginn an mehr Verantwortung und Mitgestaltung einfordern, als Ihr Unternehmen zulässt.

Sie wünschen sich ein Rezept, mit dem Sie all die Schwierigkeiten auf einen Schlag lösen und Ihr Unternehmen zukunftsfähig organisieren? Und Sie hätten gern die Sicherheit, dass es funktioniert und dass sich der Aufwand dieser Transformation lohnt?

Dritte Disziplin: Ganzheitliche Partnerschaft

Die Beziehung zwischen Mensch und Organisation wird neu definiert. Purpose Driven Organizations sind mitarbeiterzentriert. Der Kontrakt zwischen Mensch und Organisation geht weit über den Deal „Arbeitszeit gegen Entlohnung“ hinaus. Er wird zu einer Partnerschaft, bei der die Beteiligten Leistungen und Beiträge für ein ganzheitliches Paket von Sinn, Einkommens-, Gestaltungs-, und Entwicklungsmöglichkeiten tauschen. Unternehmen wie der Hotelbetreiber Upstalsboom und die IT-Beratung EMPAUA orientieren sich in einem hohen Maß an den Bedürfnissen der Mitarbeiter. Sie versuchen, aktiv dazu beizutragen, dass die Menschen im Arbeitsalltag positive Emotionen und Flow spüren, dass sie in ihrer Arbeit Sinn entdecken und ihren eigenen Purpose verwirklichen können sowie ein achtsamer und positiver Umgang miteinander entsteht. Kurzum: Sie betrachten Menschen nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck.

Auch in Purpose Driven Organizations dienen Personen der Organisation als Mittel, um die Zwecke der Organisation zu erreichen. Aber die Mitarbeiter sind für die Organisation auch eigenständige Zwecke, zu deren Leben und Entwicklung die Organisation einen Beitrag leisten will, der über das finanzielle Einkommen hinausgeht. Selbstentfaltung und das Ausdrücken der eigenen Persönlichkeit sind erlaubt und erwünscht. Arbeit wird als Teil und Beitrag zu einem guten und gelungenen Leben betrachtet: Menschen arbeiten, um zu leben, statt dass sie leben, um zu arbeiten. Purpose Driven Organizations streben danach, individuellen Purpose und den Purpose der Rollen, die Personen in der Organisation einnehmen, weitgehend zur Deckung zu bringen.

Purpose Fit

Bei der Personalauswahl (Einstellung, Entlassung) und Rollenbesetzungen wird daher Purpose Fit und Cultural Fit zu einem, wenn nicht dem wesentlichen Entscheidungskriterium. Der Recruiting Prozess bei EMPAUA zum Beispiel fragt vor allem nach diesem Fit, also der bestmöglichen Übereinstimmung von Organisationspurpose und -kultur mit den Werten und Überzeugungen der Person und nach ihrem vermuteten Entwicklungspotenzial, als nach Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissen, die eine Person mitbringt. In der Annahme das letzteres gelernt werden kann, ersteres dagegen nicht. Durch diesen Fokus auf Purpose-Fit versuchen die Organisationen, den durch Autonomie und Selbstorganisation gewachsenen Einfluss von Einzelnen auf die Entscheidungen der Organisation auszubalancieren. Der Faktor Personal wird einflussreicher und substituiert teilweise Programme (zum Beispiel Ablaufplanungen, detaillierte Arbeitsanweisungen und Pläne) und Kommunikationswege (zum Beispiel Entscheidungen durch Vorgesetzte).

Die Freiräume in Purpose Driven Organizations stellen auf der anderen Seite aber auch hohe Anforderungen an ihre Mitglieder bezüglich Selbstmanagement, persönlicher Weiterentwicklung und Selbsterkenntnis. Die Fähigkeit, sich selbst sowohl operativ (eigene Produktivität, Priorisieren von Aufgaben, Zeitmanagement) als auch allgemein (individuelle Ziele, Motivation, Leistungsfähigkeit) zu managen, wird zu einer Kernkompetenz und Basisanforderung an die meisten Mitarbeiter. Sie müssen zudem bereit und engagiert sein, permanent Neues zu lernen und Altes zu verlernen, nicht nur fachlich, sondern auch bezogen auf ihre emotionale und soziale Kompetenz. Damit wird auch Selbsterkenntnis, verstanden

als Fähigkeit, sich selbst zu beobachten, eigene Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Wirkungen einschätzen zu können und damit achtsam umzugehen (zum Beispiel Impulsdistanz), immer wichtiger. Purpose Driven Organizations fordern und fördern dies gezielt, etwa wie die Berliner Firma »soulbottles« (Produzent nachhaltiger Trinkflaschen) durch Ausbildung in Gewaltfreier Kommunikation oder wie die Firma Upstalsboom durch Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung und zu Achtsamkeitspraktiken. 

Karriere und Gehalt

Unternehmen in der Transformation beschäftigt auch das Thema Karriere und Gehalt. Die Mitarbeiter der DB Systel passen nicht mehr ins Stellenbewertungsschema des Konzerns, der die Gehaltsstufen für Führungskräfte anhand von Umsatz und Anzahl der Mitarbeiter im Verantwortungsbereich errechnet. So sind Karriereperspektiven und Gehälter eng mit dem Organigramm verknüpft. Die Firma feilt nun an zusätzlichen Kriterien, wie sie die agilen Rollen sinnvoll bewerten können, um damit die Einstufung in die Gehaltsgruppen möglich zu machen und anschlussfähig an die Strukturen im Konzern zu bleiben. Auch die Frage nach der Fachkarriere wird laut, um damit die Expertenfunktionen attraktiv zu machen, wenn keine Führungskarriere mehr möglich ist.

Erste Disziplin: Dominanter Purpose

Purpose Drive erzielen Unternehmen primär dadurch, dass Purpose ein besonderes Gewicht in den Entscheidungen bekommt. Ein Beispiel sind holakratisch gesteuerte Unternehmen, wie der US-Versandhändler Zappos. Alle Entscheidungen des Unternehmens richten sich am WOFÜR aus. WOFÜR gibt es uns? Was wollen wir in die Welt bringen? Dieser Sinn wird auf alle Organisationseinheiten bis in die Rollen heruntergebrochen. Meetings werden danach evaluiert, wie sehr sie dem Purpose dienen. Im Recruiting werden Personen anhand des „Purpose Fit“ für bestimmte Rollen oder generell als Mitarbeitende ausgewählt. Alles wird immer wieder mit Blick auf eine bestmögliche Übereinstimmung und Passung zum Purpose überprüft und weiterentwickelt. Programme gehen somit gegenüber den anderen Entscheidungsprämissen in Führung und Purpose wird zum dominanten Programm.

Purpose Driven Organizations wie Zappos setzen bis auf wenige Ausnahmen auf Zweckprogramme (Ziele, Ergebnisse) und vermeiden Konditionalprogramme (wenn …, dann), da diese den Handlungsspielraum der Personen deutlich stärker einschränken. Sie definieren das erwartete Ergebnis, lassen aber die Wahl der Mittel und Wege offen. Es geht um einen »Sense of Direction«, um Orientierung und Ausrichtung, nicht um Planung und Kontrolle. Purpose Driven Organizations planen nur wenig, stattdessen lenken sie die Aufmerksamkeit auf den Sinn und Zweck und auf das konkrete Handeln (Zwei-Horizonte-Programmierung). Purpose und rasche Umsetzungsschritte sowie Experimente ersetzen – teilweise oder komplett – strategische Planung und Budgetierung.

Bei Entscheidungen setzen diese Unternehmen zudem auf entwicklungsförderliche Regeln und Kriterien, die Innovation und Weiterentwicklung favorisieren und irreparable Schäden vermeiden sollen. »Safe enough to try« und Entscheidungen im Konsent (niemand erhebt begründete Einwände) gehen vor Erfolgsgarantien und Konsens (alle sind dafür).

Unternehmen wie Zappos schaffen Formate, um den Purpose zu finden und weiterzuentwickeln (zum Beispiel Purpose Quest, Ikigai Modell), aber auch um die Sinnorientierung der operativen Entscheidungen kontinuierlich zu reflektieren (beispielsweise durch die Evaluation am Ende eines Entscheidungsmeetings). Durch solche Routinen wird Purpose permanent im Fokus der Aufmerksamkeit gehalten. Gleichzeitig dient es dem Erspüren von Abweichungen und (Entwicklungs-)Spannungen: Wo gibt es ungenutzte Potenziale? Wo weicht die Entwicklung von den ultimativen Zielen ab? So wird Purpose zum Treiber, Orientierungs- und Richtungsgeber für evolutionäre Weiterentwicklung des Unternehmens.

Fünfte Disziplin: Co-Evolution im Ökosystem

Beispiele wie das Silicon Valley dienen als Anschauungsobjekt, wie das Zusammenspiel unterschiedlichster Player in einer Community oder einem Business-Ökosystem die Chancen für Innovationen erhöht und wie es gelingen kann, ein Momentum für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt zu erzeugen. Auch aus systemischer Sicht macht die Ökosystem-Brille Sinn: Wir können Systeme immer nur in Relation und Abgrenzung zu ihrer Umwelt verstehen. Organisationen beobachten permanent die Differenz zwischen System und

Umwelt und entwickeln sich mit ihrer Umwelt in einer Co-Evolution gemeinsam weiter. Die Umwelt erzeugt Veränderungsdruck, das System verarbeitet ihn im Rahmen seiner evolutionären Weiterentwicklung. Purpose Driven Organizations messen ihrem Umfeld und der Kopplung mit ihm große Bedeutung bei. Mit ihrem Purpose streben sie danach, einen wertvollen Beitrag zu leisten und damit eine positive Wirkung auf ihr Umfeld zu erzielen. Gleichzeitig suchen und schaffen sie sich ein Umfeld, das den Purpose unterstützt.

Aufbau und Pflege von Ökosystemen sind daher wesentliche Disziplinen in der Gestaltung von Purpose Driven Organizations. Sie setzen auf die hochgradige Vernetzung und Zusammenarbeit mit Partnern im Ökosystem, um Wert für Kunden zu schöpfen, die selbst Teil der Community sind. Ganz wesentlich ist dabei die Integration unter einem Shared Purpose.

Ökosysteme bilden sich auch, um bestimmte gemeinsame Zwecke und Anliegen herum. In ihnen kommen Personen und Organisationen zusammen, um gemeinsam etwas zu erreichen und in die Welt zu bringen, was jede auf sich gestellt nicht könnte. Ein Beispiel ist das von Ökofrost (Händler für Biotiefkühlkost) gegründete Netzwerk SINNbiose. Es ist eine Struktur, die das Zusammenarbeiten verschiedener Organisationen ermöglicht. Ziel ist ein Netzwerk aus nachhaltig und ökologisch orientierten Unternehmen, die stark synergetisch zusammenarbeiten, um so neue Wege menschlichen und kooperativen Wirtschaftens zu entwickeln.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist eine hochgradige Offenheit und Integrationsbereitschaft, ein achtsamer Umgang sowie die faire Aufteilung von Erträgen und Risiken zwischen den Playern im Ökosystem. Ein Ökosystem ist zunächst einmal eine eher lose gekoppelte Community von Organisationen und Personen. Sie fühlen sich verbunden durch geteilte Werte und Purpose und sie nutzen die Digitalisierung gezielt für Vernetzung und Zusammenarbeit. Von Fall zu Fall werden die Kopplungen vertieft und enger, um einen

konkreten Purpose zu verfolgen und eine gemeinsame Initiative umzusetzen. All das geschieht in den meisten Ökosystemen völlig selbstorganisiert. Es gibt allerdings auch Business-Ökosysteme, die stark von einem Player beeinflusst und organisiert werden, wie im Bereich der Smartphones die Android- und iOS-Ökosysteme durch Google beziehungsweise Apple. Wie sich ein Ökosystem abgrenzen lässt, ist allerdings mehr eine Konstruktion der Betrachtenden. In Purpose Driven Organizations wird vor allem vom jeweiligen Purpose abhängen, was als Teil des Ökosystems gesehen wird und was nicht.

Mit den anderen Organisationen, Gruppen und Personen im Ökosystem wird mit der Zeit eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte entstehen. Die Organisation betrachtet sich immer wieder aus den Perspektiven dieser Umwelten, integriert (teilweise) deren Sichtweisen und reagiert auf das, was diese tun. Und gleichermaßen wirkt sie auf diese ein. Eine nicht gerichtete Co-Evolution entsteht. Die intensive Exploration der realen Bedürfnisse, Anliegen und Probleme von Kunden und anderen Stakeholdern ist dabei eine wesentliche Praktik in Purpose Driven Organizations. Immer wieder binden sie damit neue Personen, Gruppen und Organisationen, zum Beispiel Randgruppen, Wettbewerber, Branchenfremde, in ihre Entwicklung ein und überschreiten damit tradierte Grenzen.

Eine interaktive Produktentwicklung und frühestmögliche Interaktion mit Kunden und Usern sind für sie normal. Das Getränkeunternehmen PREMIUM geht sogar so weit, Kunden als Mitglieder der Organisation zu verstehen und zu Mitentscheidern zu machen, wenn es zum Beispiel um Veränderungen an einem Produkt geht. 

Getragen werden Ökosysteme von einer Haltung des »just enough«, der Genügsamkeit, Selbstbeschränkung und Achtsamkeit. Gier und eine Fokussierung auf den eigenen Vorteil würden das Ökosystem ruinieren.


Literaturtipp

Weitere Informationen und Praxisbeispiele zum Thema finden Sie in dem Buch:

Purpose Driven Organizations: Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Von Franziska Fink und Michael Moeller. Schäffer-Poeschel 2018.

Webtipp

Lesen Sie weitere Artikel von Franziska Fink unter:
https://www.hrm.at/profile/franziska-fink/shared_knowledge

Vierte Disziplin: Superflexible Vertrauenskultur

In Purpose Driven Organizations lassen sich auch bezogen auf ihre Kultur viele Ähnlichkeiten beobachten. Sie präferieren Beziehungen, die vor allem von Vertrauen und weniger von Macht bestimmt sind. Augenhöhe und Achtsamkeit sind tragende kulturelle Prinzipien und Werte. Sie setzen beim Lösen von Problemen stärker auf Kooperation als auf Wettbewerb. Lernen und Agilität geht vor Effizienz und Perfektion. Daher erscheint ihnen frühes Erproben von 80-Prozent-Lösungen am Markt und deren rasches Verbessern in kurzen Iterationszyklen wertvoller, als darauf zu warten, bis durch intensives Durchdenken und Ausfeilen aller Details eine perfekte und kostenoptimierte Lösung entwickelt ist. In Summe erscheinen uns Superflexibilität und Vertrauen die kulturellen Kernelemente von Purpose Driven Organizations zu sein. Sie sind superflexibel, indem sie gleichzeitig für Resilienz und für agile Weiterentwicklung Sorge tragen. In ihnen herrscht ein Menschenbild vor, das hohes Vertrauen in Personen für selbstverständlich hält.

Trotz aller kulturellen Ähnlichkeiten: Kultur lässt sich auch in Purpose Driven Organizations als nichtentscheidbare Entscheidungsprämisse nur in sehr geringem Maße zielgerichtet beeinflussen und gestalten. Wie persönliche Gewohnheiten bildet sie sich im Lauf der Zeit von selbst. Dass Kultur nicht zielgerichtet gestaltet und entschieden werden kann, bedeutet nicht, dass sie sich nicht verändert. Zudem lässt sie sich beobachten und reflektieren. Das erscheint uns sinnvoll, denn Kultur hat wesentlichen Einfluss auf das Denken und auf Entscheidungen. Grundlegende Überzeugungen, Annahmen, Glaubenssätze und Werte beeinflussen, was Personen überhaupt bewusst wahrnehmen und welche Schlussfolgerungen sie aus ihren Beobachtungen ziehen. Bei hoher Komplexität kann Kultur in Organisationen das Fehlen von formalen Entscheidungsprämissen teilweise kompensieren. Purpose Driven Organizations etablieren für den Umgang mit ihrer Kultur Praktiken, um kulturelle Präferenzen zu klären und um die gelebte Kultur kontinuierlich zu beobachten und zu reflektieren. Leitbildprozesse können dabei die Klärung kultureller Präferenzen fördern und Impulse für die Ausgestaltung anderer Entscheidungsprämissen liefern.

Der Metallproduzent Gutmann Aluminium Draht setzte beispielsweise bei der Transformation zur Purpose Driven Organization auf Storytelling von Anekdoten aus der Organisation, um kulturelle Präferenzen zu veranschaulichen und zu transportieren.

Das Beobachten und Reflektieren der Kultur gelingt, indem wir konkrete Ereignisse (zum Beispiel eine Eskalation in einem Meeting, Critical Incidents) oder im Umlauf befindliche Geschichten über Situationen, Personen oder Ereignisse nutzen, um die gelebte Kultur zu verstehen und sichtbar zu machen. Unterstützend wirken Tools wie ein Glaubenssätze-Quiz, aber auch bestimmte Rollen, um Werte, Prinzipien, Normen und Glaubensätze regelmäßig zu thematisieren. So wird beim Aluminiun-Hersteller in jedem Meeting ein Achtgeber gewählt, der die Gruppe erinnert, sobald sie den achtsamen Umgang miteinander verlassen.

Zweite Disziplin: Kodifizierte Selbstorganisation

Purpose als dominante Entscheidungsprämisse zu betonen, macht noch keine Purpose Driven Organization. Auch die anderen Entscheidungsprämissen (Kommunikationswege, Personal) müssen den Drive in Richtung Sinn unterstützen. In bürokratischen Organisationen, die versuchen, jede Aufgabe mithilfe von detaillierten Programmen und fix geregelten Kommunikationswegen und Kompetenzen zu beherrschen, wird Sinnorientierung bald erlahmen – oder erst gar nicht zu finden sein. Wenn Ablaufoptimierungen, Prozesshandbücher und IT-Systeme alles im Detail festlegen, gibt es kaum noch Möglichkeiten, in einer Situation sinnorientiert zu entscheiden.

Das Streben nach der perfekt geölten Organisationsmaschine kann in volatilen und komplexen Zeiten und Umfeldern sogar gefährlich werden. Wenn Kunden in immer kürzerer Folge neue Produktvarianten fordern oder wenn Engpässe bei Rohstoffen überraschend auftauchen,  braucht es Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit. Purpose kann hier helfen, um wieder Orientierung und Motivation zu schöpfen. Aber dazu ist eben auch ein hohes Maß an organisatorischer Anpassungsfähigkeit notwendig: Nicht fixe Abläufe und enge Strukturen, sondern Freiraum und Selbstorganisation, damit rasch auf geänderte Anforderungen, neue Möglichkeiten und andere Abweichungen reagiert werden kann. Dabei ist weniger oft mehr.

Purpose Driven Organizations verzichten nicht auf formale Rollen und Kommunikationswege, aber sie setzen dabei auf Autonomie und Selbstorganisation. Der Prozess des Organisierens ist wichtiger als sein Output, die Organisationsstruktur.

»Organisationsprozess vor Struktur« heißt das Motto, denn in Kontexten hoher Volatilität und Vielfalt ist laufende Anpassung an Purpose und Möglichkeiten gefragt. Und wo laufend reorganisiert werden muss, kommt der Art und Weise, wie dies vonstattengeht, größere Bedeutung zu als den strukturellen Zwischenergebnissen.

Im Ergebnis wandert dabei der Fokus der Aufmerksamkeit von Strukturmodellen (zum Beispiel Linien-, Matrix-, Projektorganisation) zum Prozess des Organisierens: Welche Art und Form der Organisationsplanung ist am sinnvollsten, um bestmöglich über Kommunikationswege und Rollendifferenzierungen zu entscheiden? Dabei orientieren sich Purpose Driven Organizations primär an folgenden vier Prinzipien:

  • Autonomie und verteilte Autorität: Kommunikationswege werden kurzgehalten, indem die Autorität zu entscheiden, von höheren Hierarchieebenen in der Organisation verteilt wird, im Idealfall dorthin, wo der Bedarf zu entscheiden entsteht.
  • Hochfrequenzorganisieren: Statt Strukturen einmal zu perfektionieren und dann alle paar Jahre anzupassen, wird Re-Organisation zum Tagesgeschäft: kontinuierlich, iterativ, inkrementell.
  • Kodifizierte Selbstorganisation: Damit die Organisation dabei nicht im Chaos versinkt, werden Spielregeln für den kontinuierlichen Selbstorganisationsprozess festgeschrieben. Mitglieder und Teams sind weitgehend autonom und autorisiert, ihre Arbeit selbst zu strukturieren, aber der Ablauf, die Entscheidungsregeln und der Rahmen, in dem diese Entscheidungen getroffen werden, sind sehr klar geregelt.
  • Räume für informale Kommunikation: Die starke Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die formale Seite der Organisation und die Aufgaben wird ausbalanciert durch zusätzliche Räume für informalen Austausch über persönliche Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Beziehungen.

Ein Beispiel ist die DB Systel. Der IT-Dienstleister im Konzern der Deutschen Bahn mit 4.400 Mitarbeitern steckt mitten in der Transformation in die Selbstorganisation. Die Mitarbeiter agieren in kleinen Teams, kundenzentriert – mit einem klaren Purpose ihres Beitrags zum Ganzen. Ehemalige Führungsverantwortung wurde in drei Rollen geteilt: Product Owner, Agility Master und Umsetzungsteam. Klare Strukturen und Prozesse geben den Rahmen vor, in dem sich die Selbstorganisation entfalten kann. Durch die Umverteilung der fachlichen und inhaltlichen Verantwortung fällt dem einzelnen Mitarbeiter mehr Gestaltungsspielraum zu. Er kann selbstbestimmter arbeiten und übernimmt mehr Verantwortung. Der Fokus auf die Kundenanforderungen und die fortwährende Überprüfung macht diese Arbeitsweise effizienter als klassische Anforderungskataloge. Durch das Einbringen von „Spannungen“ (Differenz zwischen IST und SOLL) werden Rollen und Regeln – und damit die Struktur – in kleinen Schritten laufend an den Bedarf des Gesamtsystems angepasst. Organisatorisch bilden mehrere Teams Einheiten und Einheiten kumulieren in Clustern.

Die 5 Prinzipien der Purpose Driven Organization

Ein Modell dafür sind die fünf Disziplinen der Purpose Driven Organization. Damit nehmen wir alle systemisch relevanten Bereiche der Organisation in den Blick – die vier Entscheidungsprämissen Programme, Kommunikationswege, Personal, Kultur sowie die Gestaltung der Umweltbeziehungen. Die nebenstehende Grafik zeigt bekannte Entscheidungsprämissen, die hierarchische Unternehmen entwickeln. Je höher nun die Komplexität, in der sich ein Unternehmen bewegt, umso weniger wird diese Form der Organisation funktionieren. Statt mechanistischer Planung und Steuerung braucht es ein abstrakteres Ziel, an dem sich alle Mitarbeitenden orientieren können. Das ermöglicht verteilte Verantwortung – weil jeder weiß, woran Entscheidungen auszurichten sind – und einen Korridor, der kreative Lösungen zulässt, ohne dass die Organisation ihre Ausrichtung verliert. Das ist ganz knapp formuliert die Grundidee der Purpose Driven Organizations. Aber auch die anderen Bereiche der Organisation ändern sich, wenn das WOFÜR zum zentralen Programm wird. Die unten stehende Grafik zeigt die fünf Disziplinen im Detail:

1. Programme: Purpose wird zur dominanten Entscheidungsprämisse.

2. Kommunikationswege: Rollen und Kommunikationswege werden im Zuge einer kodifizierten Selbstorganisation ausdifferenziert.

3. Personal: Mitarbeitende werden im Sinn einer ganzheitlichen Partnerschaft nicht mehr nur

als Mittel betrachtet. Die Organisation sieht den eigenen Wert der Personen - über die Anforderungen der jeweiligen Stelle hinaus.

4. Kultur: Kulturell werden Werte, Normen und Glaubenssätze favorisiert, die Superflexibilität und eine Vertrauenskultur fördern.

5. Umwelt: Die Organisation koppelt sich eng mit anderen Organisationen und Stakeholdern, mit denen sie sich in einer Art Entwicklungsgemeinschaft sieht. Dadurch entsteht eine Co-Evolution im Ökosystem.

Einige Unternehmen setzen diese fünf Prinzipien bereits in der Praxis um.