Sebastian, 34, hat gerade sein Video-Interview für die Bewerbung im Marketing eines Konsumgüterkonzerns abgeschlossen. Das Interview lief vollautomatisch ab – die Fragen wurden als Text eingeblendet, die Sebastian anschließend beantwortete. Im Hintergrund analysiert ein KI-System emotionale Zustände, Wahrheitsgehalt der Antworten, gesundheitliche Parameter anhand einer Analyse der Retina, die Wahrscheinlichkeit für Krankmeldungen und Engagement und wie gut Sebastians Persönlichkeit zum vorhandenen Team passt.

Foto: Aedrian

Dieses fiktive Beispiel zeigt etwas überspitzt, was allein auf der Basis einer Videoanalyse heute bereits möglich ist. Es illustriert, wie groß die Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten in HR und im Personalmanagement ist, wo Künstliche Intelligenz bereits heute einen Mehrwert liefern kann.

Breites Spektrum

Grob lassen sich die Anwendungsgebiete in drei Bereiche aufteilen:

  • Erkennen,
  • Vorhersagen und
  • Erzeugen von Inhalten.

In die Kategorie “Erkennen” gehören Systeme zur automatischen Erfassung von Daten. Dazu gehören zum Beispiel die Inhalte von Lebensläufen beziehungsweise Bewerbungsunterlagen, die automatisch mit den Anforderungen eines Stellenprofils abgeglichen werden können. In Social Media Plattformen können auch geeignete Kandidatinnen und Kandidaten für Jobs identifiziert oder in Anschreiben Persönlichkeitsmerkmale analysiert werden. Gerade im Bereich der Eignungsdiagnostik dienen Algorithmen als ergänzendes Instrument zur Analyse von Sprache, Videos und Texte.  

Häufig sieht man die Kombination dieser Anwendungen mit der zweiten Kategorie, der Fähigkeit der Prognose: Es gibt eine Reihe von sogenannten Scoring-Programmen, die unterschiedliche Vorhersagen liefern. Angefangen mit der Wahrscheinlichkeit, mit der Mitarbeiter kündigen, was zum Beispiel für die strategische Personalplanung wichtig ist. Oder ob sich betrügerische Absichten abzeichnen – was trotz moralischer Fragwürdigkeit in einigen Unternehmen angewandt wird, wie der Beitrag “Der Chef sieht alles” aus der Zeit 38/2021 zeigt. Für die Personalentwicklung bedeutsam sind außerdem KI-Programme, die Weiterbildungsangebote individuell zugeschnitten auf die Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erstellen können. Das funktioniert ähnlich wie das Empfehlungssystem von Musik bei Streaminganbietern oder in Online-Shops. IBM hat vor Jahren bereits intern damit begonnen, auf diese Weise individualisierte Fortbildungspfade für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzubieten.

In die dritte Kategorie „Erzeugen“ gehören Programme, die eigenständig Inhalte verfassen können. Die kreativen Fähigkeiten von KI-Programmen verbessern sich von Jahr zu Jahr. Derzeit etablieren sich zum Beispiel für das Marketing im englischsprachigen Raum zunehmend Programme, die auf der Basis von Stichworten qualitativ erstaunlich gute Textbausteine formulieren können. Auch moderne Chatbots können schon recht gut Dialoge führen, um zum Beispiel im Rahmen von Recruiting und Employer Branding potentiellen Jobinteressenten ihre Fragen zu beantworten. Solche Text- und Wissensbausteine lassen sich auch zunehmend für das automatisierte Erstellen von Trainingsunterlagen einsetzen.

Achtung: Fehler im System

Wie alle digitalen Tools vermittelt auch ein KI-Werkzeug häufig den Charakter der Perfektion. Wer heute im Personalbereich mit KI bestimmte Tätigkeiten automatisieren, verbessern, digitalisieren will, muss ein paar grundlegende Kenntnisse im Umgang mit KI mitbringen.

  • KI ist selten perfekt. Das Wesen von KI-Systemen ist in der Regel Statistik. Daher sollte man die Ergebnisse auch so interpretieren: als Wahrscheinlichkeiten. In vielen Fällen ist die Qualität sehr hoch – aber gerade wenn KI-Ergebnisse gravierende Auswirkungen auf das Leben von Menschen haben, ist ein menschlicher Experte als letzte Instanz zwingend.
  • KI kann Vorurteile haben. Die Ergebnisse von KI sind nur so gut, wie die  Daten, mit denen die Algorithmen angelernt werden. Versteckte Vorurteile werden häufig verstärkt. Prominente Beispiele sind der Chatbot Tay von Microsoft – der sich innerhalb von 16 Stunden zu einem misogynen Rassisten entwickelte. Wer die Entscheidung für den Einsatz von KI trifft, muss sich daher auch mit der Qualität von Daten auseinandersetzen.
  • KI ist so intelligent wie eine Ameise. Es gibt keinen Grund, Angst vor einer KI zu haben. Diese Systeme denken nicht, sie analysieren nur Zusammenhänge – das aber sehr gut und schnell. Angst sollte man vor denen haben, die die Ergebnisse zum Beispiel für Personalentscheidungen blind einsetzen, ohne den Kontext zu hinterfragen. Prognosen funktionieren für das Einkaufsmanagement von Handelsunternehmen sehr gut. Wenn es aber um pauschale Verdächtigung der Belegschaft bei der Betrugsprävention geht, müssen andere Maßstäbe an den Einsatz von KI gelegt werden. Daher gibt es seit diesem Jahr klare Vorgaben der EU, die den Einsatz von KI regeln (siehe Info der Europäischen Kommission).

Wie Mensch und Maschine kooperieren

Die Fähigkeiten von Menschen und Maschinen ergänzen sich in vielerlei Hinsicht. Die Auseinandersetzung, wie im Personalmanagement aussehen kann, beginnt gerade erst. So zeigt die Studie „Creating People Advantage“ der Unternehmensberatung BCG: Das Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz liegt im Bereich Personalwesen weit abgeschlagen auf dem letzten Platz der 32 erfragten Themen. Auf den zehn ersten Plätzen stehen typische HR- und Personalmanagementthemen wie Gesundheit und Sicherheit, Engagement und Wohlbefinden der Mitarbeiter, Employer Branding, Qualifizierung, Umschulung und Weiterbildung, Purpose und Kultur, Recruiting.

Übersehen wird dabei allerdings, dass KI in allen Themenbereichen bereits Einzug hält. Die Diskussion über den sinnvollen Einsatz muss daher dringend geführt werden. Wie weit darf die Analyse persönlicher Daten gehen? Wie werden individueller Nutzen und Privatsphäre abgegrenzt? Schlagzeilen machten im Sommer dieses Jahres zum Beispiel KI-basierte Systeme, die das Mitarbeiterverhalten anhand der produzierten digitalen Daten in Mail- und Chatprogrammen auf potenziellen Datenklau untersuchen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen so unter einem Generalverdacht. Im Falle eines KI-Alarms sind sie plötzlich einer Aufforderung zur Rechtfertigung ausgesetzt.

In der Personalentwicklung sollten für die sinnvolle Kooperation von Mensch und Maschine vor allem die nicht von Maschinen ersetzbaren Kompetenzen der Menschen gestärkt werden. Zum Beispiel die Fähigkeit, neue Lösungen zu finden, unerwartete Stimuli wahrzunehmen, mit abstrakten Problemen umzugehen, sich schnell anpassen und verändern zu können. Menschen sind auch sehr gut darin, Beobachtungen zu generalisieren, aus Erfahrungen zu lernen und gerade bei unvollständiger Datenlage schwierige Entscheidungen zu treffen (hier wird das berühmte Bauchgefühl eingesetzt).

Mit diesen Fähigkeiten lassen sich die Stärken (und Schwächen) der Maschinen optimal ergänzen, denn

  • Programme sind unermüdlich, wenn es um langweilige Routineaufgaben geht,
  • können große Mengen an Daten durchforsten,
  • viele Aufgaben parallel abarbeiten und
  • Routineentscheidungen schnell und zuverlässig treffen.

Auf diese Weise lassen sich aus der Kombination menschlicher und maschineller Stärken sehr leistungsstarke Arbeitsprozesse entwickeln.

KI sollte daher gerade im Personalmanagement immer als das betrachtet werden, was es ist: ein weiteres Werkzeug, um Entscheidungen fundierter treffen zu können – und lästige Routineaufgaben schneller und zuverlässiger zu erledigen. Ein gesundes Misstrauen hilft dabei, Fehlentscheidungen zu entdecken und zu korrigieren. So wie wir das auch bei den unzureichenden Computerübersetzungen von Google Translate gelernt haben. 

Michael Leitl ist gemeinsam mit Alessandro Brandolisio und Karel Golta Autor des AI Toolbook, Innovationsstratege und Chemieingenieur. Sein Schwerpunkt ist die Innovation mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz. Mit Hilfe seines Wissens über neue Technologien, Medien und Naturwissenschaften analysiert Michael Probleme und entwickelt Trendreports, Innovationskonzepte und -Strategien.

The AI Toolbook. Mit Künstlicher Intelligenz die Zukunft sichern

310 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-86774-648-9