Der Handwerker, der pünktlich kommt. Er wirkt zuverlässig. Lächeln gewinnt oft mehr Sympathie als eine sachliche Miene. Alles Beispiele dafür, wie Einschätzung funktioniert. Und oft ist das auch gar nicht so falsch. Doch zuweilen ist solch Ersteinschätzung unzureichend. Und hat speziell in Unternehmen ordentlich negative Konsequenzen. Zum Beispiel, wenn Führungskräfte basierend auf Fehleinschätzungen Mitarbeiter einstellen oder befördern. Und das wirkt sich negativ auf den Erfolg ihres Unternehmens aus. Die Lösung: Führungskräfte reflektieren für sich, wann sie warum zu Fehleinschätzungen neigen.

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Foto von Perry Grone

Zum Autor:
Hans-Jörg Schumacher (1958) leitet den Geschäftsbereich Leadership Development der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal 


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Hier die beliebtesten Fehleinschätzungen:

Der Sympathie-Effekt.
Das Beispiel:
 
Der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens findet nach langer Suche offenbar den passenden Buchhalter. Der Mittelständler erkennt im Bewerber einen eigenen Charakterzug wieder: Pragmatismus. Außerdem weist der Kandidat viel Erfahrung vor. Und: Er spielt – wie der Chef - Tennis. Der Fall scheint klar: Das ist der richtige Mann. Dass er der Falsche ist, zeigt sich schnell: Wiederholte Pannen in der Buchführung. Der pragmatische Macher entpuppt sich im Alltag als Besserwisser und Möchte-gern-Chef. Seine Abteilungskollegen beklagen sich beim Geschäftsführer immer lauter: „Den Befehlston des Neuen lassen wir uns nicht bieten.“ Und: „Wir sind nicht seine Handlanger.“ Das Ganze zeitigt Konsequenzen: Drei Monate später sucht der Geschäftsführer erneut einen Buchhalter. 

Der Sympathie-Effekt.
Die Auflösung:

Warum stolperte der Geschäftsführer über den Sympathie-Effekt, auf dessen Grundlage er den Bewerber einstellte?

Dem Manager erscheint sympathisch am Kandidaten, was ihn an sich selbst erinnert. Verständlich. Allerdings braucht ein Buchhalter im Job andere Fähigkeiten und Eigenschaften als der Chef eines Unternehmens. Mit anderen Worten: Ein Pedant ist an der Unternehmensspitze in der Regel so sehr eine Fehlbesetzung wie ein Pragmatiker in der Buchhaltung. Und: Wo ein Manager oftmals seinem Unternehmen die Linie vorgibt, kann ein Buchhalter als interner Dienstleister keine eigenen Entscheidungen treffen. Gesetze und Bedürfnisse der Firma binden ihn.

Lernaufgabe: Gute Führungskräfte machen sich bewusst, dass die einzelnen Organisationsfunktionen durch unterschiedliche Persönlichkeitstypen, und also durch Fähigkeiten getragen werden müssen.

Der Maßstab-Effekt.
Das Beispiel:

Ein Unternehmen plant eine IT-Schulung, die verantwortliche Führungskraft ist im Thema IT fit. Wird sie aufgefordert, die IT-Kompetenz ihrer Mitarbeiter zu beurteilen, kann es passieren, dass sie diese eher schlecht einstuft. Und das, obwohl die Beschäftigten über die erforderlichen Kenntnisse für ihren Job verfügen. Das könnte dazu führen, dass die Führungskraft ihre Mitarbeiter zu unnötigen IT-Schulungen schickt – das Unternehmen unnötig Geld aus.

Der Maßstab-Effekt funktioniert auch umgekehrt: Eine Führungskraft hat von IT wenig keine Ahnung. Sie könnte daher das IT-Knowhow ihrer Mitarbeiter überschätzen und ihnen nötige Schulungen verwehren. Die Folge: Aufgaben werden nicht so gut oder so schnell als möglich erledigt.

Der Maßstab-Effekt.
Die Auflösung:

Führungskräfte sollten die Selbsteinschätzung der Mitarbeiter zu geplanten Maßnahmen einbeziehen, zum Beispiel durch anonyme Befragungen.

Lernaufgabe: Zweite und dritte Einschätzungen einholen.

Der Hierarchie-Effekt.
Das Beispiel:

Man kennt es: Einem Abteilungsleiter wird automatisch mehr Sachverstand als einem Sachbearbeiter unterstellt. Oder einem Diplom-Betriebswirt ein ausgeprägteres unternehmerisches Denken als einem Industriekaufmann nachgesagt. Im Führungsalltag geschieht das häufig. Ergo werden Mitarbeiter mit den falschen Aufgaben betraut. Eine weitere Folge: Wenn der Industriekaufmann etwas sagt, haben seine Aussagen in den Augen hierarchisch orientierter Personen weniger Bedeutung, als wenn ein Diplom-Kaufmann dasselbe sagt. 

Der Hierarchie-Effekt.
Die Auflösung:

Wen wundert es, wenn der ein oder andere Mitarbeiter sich bei dieser Kultur aus Gesprächen innerlich abmeldet. Zwar brauchen unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche Talente; das bedeutet aber nicht, dass Mitarbeiter nichts zu bestimmten Sachverhalten beitragen können.

Merke: Manch Obdachloser weiß das moderne Gesellschaftsleben treffender einzuschätzen, als mancher Mensch mit Job und Auto.

Die Lernaufgabe: Menschen respektieren, unabhängig von Status und Einfluss. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Und die findet sich nicht in Stammzirkeln, die Welt ist eben doch groß.

Der Benjamin-Effekt
Das Beispiel.

Eng verwandt mit dem Hierarchie- ist der Benjamin-Effekt. Jungen Mitarbeitern wird automatisch weniger Kompetenz zugeschrieben als älteren Kollegen, die schon viele Jahre Berufserfahrung haben und eventuell schon lange fürs Unternehmen arbeiten. In Industrieunternehmen und Verwaltungen wird jungen Mitarbeitern weniger zugetraut,  sie sich müssen sich erst einmal bewähren. Die Folge: Junge, talentierte Mitarbeiter wandern ab, weil sie in ihren Augen nur „Zulieferarbeiten“ erledigen und kaum gefördert werden.

Das Gegenteil gilt häufig in IT-Unternehmen. Oder in Unternehmen wie Werbeagenturen, die sich als Kreativ-Schmieden verstehen. In ihnen wird älteren Mitarbeitern oft unterstellt, sie seien nicht mehr up-to-date. Oder sie seien weniger flexibel und kreativ, belastbar und lernfähig als die jungen. Dann wirkt sich der Benjamin-Effekt positiv für die Jungen aus. Und die Alten? Sie ziehen sich mental aufs Altenteil zurück, weil sie Tag für Tag, wenn auch subtil spüren: Meine Chefs haben mich bereits abgeschrieben.

Der Benjamin-Effekt.
Die Auflösung:

Es gelten dieselben Hinweise wie beim Hierarchie-Effekt.

Der Halo-Effekt.
Das Beispiel:

Es ist das klassische Alltagsbeispiel: Ein Mitarbeiter ist ein eloquenter Redner. Er kann sich und seine Leistungen sehr gut präsentieren und verkaufen. Dann glauben insbesondere Vorgesetzte, die mit ihm nicht täglich Kontakt haben, häufig, dass seine Leistung überdurchschnittlich ist. Als fördern und befördern sie ihn. Das führt dazu, dass die eigentlichen Leistungsträger frustriert sind, weil ihre Leistung nicht angemessen gewürdigt wird. Eine weitere negative Konsequenz ist: Irgendwann sitzen in den gehobenen oder gar oberen Etagen des Unternehmens überwiegend „Blender“, die fachlich wenig Ahnung haben. Ein Phänomen, das man bis vor wenigen Jahren in Konzernen sehr häufig sah, weil ihre Führungskräfteentwicklungsprogramme primär smarte Karrieristen nach oben beförderten. Übrigens: Inzwischen haben die meisten Konzerne dies erkannt und legen bei der Auswahl ihrer „High Potentials“ andere Kriterien an.

Der Halo-Effekt.
Die Auflösung:

Auch auf weniger wortgewandte Mitarbeitern achten, den Blick auf Ergebnisse richten und die Sympathie für Showtalente mal außen vorlassen. Merke: Wer nicht fragt, muss sich auf das verlassen, was man ihm liefert. Und das ist nicht immer die ganze Wahrheit.

Die Lernaufgabe: Den Blick auf das Was und nicht auf das Wie richten. Inhalte zählen. Die muss man notfalls einholen.

Der Kleber-Effekt.
Das Beispiel:

Führungskräfte schließen häufig aus bisherigen Leistungen eines Mitarbeiter auf dessen künftige Leistung. Eine Leistungsabnahme fällt dadurch weniger auf. Folglich suchen Vorgesetzte zum Beispiel auch nicht das Gespräch mit Mitarbeitern über die Ursachen. Das hat oft zur Folge, dass die Leistung des Mitarbeiters dauerhaft sinkt, ohne dass die Führungskraft dies registriert. Warum? Die Führungskraft hat dem Mitarbeiter ein für alle Mal den Stempel verpasst: Das ist ein guter Mitarbeiter.

Dasselbe registriert man umgekehrt. Fiel ein Mitarbeiter einer Führungskraft erst einmal durch Minderleistung auf, schaut sie selbstverständlich genauer hin: Wie arbeitet der Mitarbeiter? Und weil die Führungskraft das Bild „Das ist ein schlechter Mitarbeiter“ im Kopf hat, findet sie stets auch Fehler oder Dinge, die man besser machen könnte.

Der Kleber-Effekt.
Die Auflösung:

Leistungen kontinuierlich beleuchten: Was wurde unter welcher Maßgabe wann umgesetzt? Es geht nicht darum, einen guten Mitarbeiter Leistungsverweigerungen zu verdächtigen. Es geht um einen wachen Blick auf das Hier und Jetzt im Arbeitsprozess und darum, rechtzeitig Unterstützung zu organisieren.

Die Lernaufgabe: Im laufenden Tagesgeschäft Fragen an die Arbeit der Mitarbeiter stellen und den Überblick behalten.  

Weniger Beurteilungsfehler begehen

Die vorgestellten Vorurteile kennt jeder Mensch. Wenn Führungskräfte ihre „blinden Flecken“ kennen – die sie oft aufgrund ihrer Herkunft oder Erfahrung haben - können sie diese überprüfen, bevor sie urteilen. Sie treffen dann Fehlentscheidungen, die häufig nicht nur gravierende Folgen für die betroffenen Mitarbeiter, sondern auch für das Unternehmen haben.