Gero Hesse: Das allerwichtigste ist, dass man ein Gründerteam hat, das mit Leidenschaft bei der Sache ist. Ich brauche aber auch eine gute Businessidee und muss den Markt verstehen und einschätzen können. Oftmals wird dabei aber zu isoliert gedacht. Es wird beispielsweise eine tolle Lösung für ein Element im Recruitingprozess entwickelt. Das mag vielleicht für einige kleinere oder mittelständige Unternehmen noch passen, aber oft fehlt der ganzheitliche Blick. Wenn die Gründer verstehen, dass sie bedenken müssen, diesen isolierten Punkt in die Gesamtheit der HR-Strategie und der HR-Prozesse einzuarbeiten, dann glaube ich, dass daraus etwas Großes werden kann.

man in black jacket sitting on chair
Foto von Zaiqiao Ye

Gero Hesse: Das hat natürlich etwas mit der Marktentwicklung zu tun. Angebot und Nachfrage. Wenn man sich anschaut, was insgesamt so passiert, dann gibt es ein paar Metatrends, die auf das ganze HR-Thema – und darin insbesondere auf das Thema Mitarbeitergewinnung – einzahlen.

Das ist einmal die stabile wirtschaftliche Situation in Deutschland, die ja auch im europäischen Vergleich herausragend ist. Wir sind seit Jahren in einer guten Verfassung, die Wirtschaft wächst. Die Unternehmen suchen entsprechend immer nach Mitarbeitern.

Zweiter Metatrend ist die demografische Entwicklung, die dem ersten Trend genau entgegenläuft. Die Situation heute ist dadurch eine andere als früher, als Deutschland ebenfalls als Volkswirtschaft erfolgreich war, aber auf dem Arbeitsmarkt eine ganz andere Menge an qualifizierten Arbeitskräften zur Verfügung stand. Das hat sich geändert. Bei der Frage, ob es den Fachkräftemangel gibt oder nicht, muss man, meiner Meinung nach, sehr branchenfokussiert denken. Wenn man sich dann beispielsweise die IT-Branche, die Pflegebranche oder die Logistikbranche anschaut, dann kann man sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel und zwar einen absolut gravierenden! Sicher ist dies in anderen Branchen noch nicht so weit ausgeprägt, die Zahlen deuten aber darauf hin, dass es auch dort zu einem Fachkräftemangel kommen kann.

Neben den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der Demografie ist die Digitalisierung der dritte Metatrend. Die Digitalisierung schafft einerseits eine ganz andere Transparenz über Arbeitgeber – denkt man nur mal an Xing, Linkedin oder Kununu – und bietet andererseits die Möglichkeit, ganz andere Produkte und Services bereitzustellen rund um die Themen Personalgewinnung, Personalmanagement und Personalentwicklung.

Aufgrund dieser drei Metatrends verzeichnen wir eine steigende Anzahl von HR-Startups in Deutschland.

Gero Hesse: Das kommt daher, dass ich mich mit Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting schon seit vielen Jahren beschäftige. Das sind ja auch Schwerpunktthemen meines Blogs.

Und meine Firma TERRITORY EMBRACE, deren Geschäftsführer ich bin, hat vor zweieinhalb Jahren „Employour“ gekauft, das zu dieser Zeit selbst noch ein Startup war. Das war erfrischend und sehr spannend, einerseits die Kultur da kennenzulernen, andererseits aber auch die Feststellung, dass Startups oft natürlich einen ganz unverbauten Blick auf die Dinge haben. Oftmals sind die Gründer ja noch recht jung und betrachten Themen anders, da sie noch nicht diese jahrelange Berufserfahrung haben. Das war ein erster, vor allem geschäftlicher Berührungspunkt.

Meine Startup-Serie auf Saatkorn habe ich dann in etwa vor einem Jahr gestartet. Das lag daran, dass ich mich sehr dafür interessiert habe, herauszufinden, welche HR-Startups es gibt und was die machen. Wenn man dann etwas recherchiert, kommt man schnell zu dem Schluss, dass viele der Themen, mit denen sich diese Startups auseinandersetzen, mit Rekrutierung oder Personalentwicklung zu tun haben. Das passte also thematisch sehr gut auf meinen Blog. Ich finde es eben spannend, zu sehen, was aus dieser Szene für Ideen kommen, wer sich da engagiert und welche Trends man daraus ableiten kann. Da dachte ich mir, es wäre doch cool, diese Unternehmen auf meinem Blog vorzustellen. Für die Startups ist es eine Möglichkeit, kostenlos an etwas Bekanntheit zu kommen. Und wie es scheint, finden die Leser das Thema auch spannend, denn es läuft ganz gut. Bislang habe ich etwa 50 HR-Startups in meiner Serie vorgestellt.

Gero Hesse: Der Aspekt Leidenschaft gilt für alle Startup-Gründungen, egal, ob HR oder nicht. Wenn man aber im HR-Bereich als Startup Fuß fassen will, muss man schon etwas Verständnis aufbringen können für die Situation, welche die Personaler in den Unternehmen haben. Dabei wird oft eine gewisse Problematik spürbar: Viele leidenschaftliche Gründer haben eine tolle Idee, die dann aber nur äußerst schwer in die etablierten Prozesse eines Unternehmens einzupassen ist. Das ist die zu managende Hauptherausforderung.

Wenn es zum Beispiel um Rekrutierung geht, dann muss ich bedenken, dass, wenn ich den Mittelstand oder Konzerne gewinnen will, diese in der Regel bereits größere IT-Prozesslandschaften haben, für welche ich Schnittstellen zur Verfügung stellen muss. Schaffe ich diese Schnittstellen nicht, dann habe ich eine Insellösung, die nur sehr schwer zu vermarkten ist.

Gero Hesse: Flexibilität. Die Erkenntnis, dass man auf veränderte Marktbedingungen reagieren muss und dass Letzten Endes der Kunde König ist. Erfolgreiche Startups haben oftmals eine sehr ausgeprägte Kundenorientierung. Oder Startups, die sehr stark auf die Zielgruppe eingehen und Plattform-Anbieter sind, sagen: „Der User der Plattform steht im Mittelpunkt und nicht der zahlende Endkunde“. Also maximale Userzentrierung. Das ist unter den Startups weiter verbreitet als in irgendeiner Standardlösung.

Gero Hesse: Ganz klar. Wenn Sie sehen, wie zum Beispiel etablierte Bewerbermanagement-Lösungen in bestimmter Hinsicht unter Druck geraten. Denn es gibt Startup-Lösungen, die in manchen Bereichen viel weiter sind als das, was die großen Etablierten an Standartlösungen bieten. Das ist logisch, da die großen Etablierten ihr Produkt über Jahre entwickelt haben, teilweise in den USA – was problematisch ist, da der deutsche Markt mit seinen Eigenheiten anders funktioniert als viele andere Märkte. Häufig vergessen die großen internationalen Anbieter, wenn sie auf den deutschen Markt gehen, dass Rekrutierung eigentlich ein sehr lokales Thema mit lokalen Rahmenbedingungen, wie Gesetzgebung, Prozesse oder Bedarf, ist. Darauf können sich kleine Anbieter ganz anders einstellen.

Deren Problematik ist dann wiederum, sich in die Gesamt-IT-Landschaft einzufügen, die oft von internationalen Konzernen dominiert wird. An dieser Stelle kann man schon erkennen, dass die großen Anbieter gezwungen worden sind, immer flexibler zu werden.

Gero Hesse: Ich denke, die großen Trends werden erstmal bestehen bleiben. Denn das Rekrutierungsthema wird aus den anfangs genannten Gründen immer virulenter. Man sieht außerdem, dass Tech eine immer größere Rolle spielt – nicht nur im HR-Bereich – und dass die Fokussierung auf neue Möglichkeiten, die durch die Digitalisierung entstehen, ganz gravierend ist. Da können Startups natürlich viel schneller agieren und sich auf neue Möglichkeiten einstellen, als die etablierten großen Anbieter von Standardlösungen.

Gleichzeitig wird es eine Professionalisierung und eine immer stärkere Verschmelzung geben. Denn viele Gründer denken von Anfang an mit, wie sie ihre Idee in Zukunft in die Landschaft einbetten können, die bereits im Mittelstand und in den Konzernen gegeben ist. Das wird zur Folge haben, dass viele Startups immer früher aufgekauft werden. Wenn man sich die heute erfolgreichen, namhafteren Startups anschaut, dann gibt es keins, das nicht zumindest in Verhandlungen ist oder mehrere Angebote auf dem Tisch liegen hat. Die Gründer sind immer gut beraten, ihr Produkt so weit zu entwickeln, das man sehen kann, dass das Ganze funktioniert, bevor sie es abgeben. Denn es gibt auch viele Beispiele, die hinterher nicht erfolgreich werden.

Gero Hesse: Rekrutierung, Mitarbeiterentwicklung/Feedbacksysteme sowie ganzheitliche Lösungen für KMUs. Die meisten HR-Startups beschäftigen sich aber mit dem Thema Rekrutierung, was auch naheliegt, denkt man an die drei Metatrends, die ich vorhin aufgezählt habe. In diesem Bereich lodert das Feuer am hellsten. Viele Unternehmen haben Probleme, Mitarbeiter zu finden und aufgrund der Demografie wissen wir, dass sich dieser Zustand in den nächsten Jahren noch verschlechtern wird.

Innerhalb des Recruitings ist Matching eine große Thematik, Algorithmen die einem Bewerber automatisiert die bestmöglichen Jobs zuspielen und – umgekehrt gedacht – den Unternehmen die bestmöglich passenden Mitarbeiter herausfiltern. Außerdem alles rund um Datenverarbeitung, Big Data und Datenschutz. Das sind derzeit die großen Trends der Startups im Recruiting-Bereich.

Gero Hesse: Wenn man von den Gründern her denkt, dann ist es die Leidenschaft für das Thema, aber auch der Wunsch, irgendwann groß rauszukommen. Ein Startup aufzubauen und dann zu verkaufen oder in etwas Größeres zu integrieren und damit dann finanziell den Jackpot zu knacken. Davon träumen viele Gründer.

Bei den Mitarbeitern wird es interessant. Vor vielen Jahren waren die attraktivsten Arbeitgeber die Berater oder die Automobilisten, die ja auch heute noch sehr beliebt sind. Ganz früher galten auch Banken als attraktiv. Das ist „out“ seit der letzten Krise. Wenn man sich heute ehrgeizige Absolventinnen und Absolventen anschaut, dann wollen die entweder zu einem namhaften Unternehmen, einem spannenden Mittelständer oder einem Startup. Letztere sind auch deshalb besonders sexy geworden, weil mit ihnen ein bestimmter Lifestyle verbunden wird: Hart arbeiten und hart feiern, gemeinsam die Welt verbessern, mehr Freiheit, mehr Individualismus und sich eben nicht den Regeln der Konzerne beugen – wie einem „Nine to Five“-Job, zu dem ich vielleicht sogar noch einen Anzug anziehen oder eine Krawatte tragen muss.

Schaut man dann mal in die Startups rein, könnte man manchmal erschrecken, weil die Kultur in Startups, in meinen Augen, oft viel rigider ist, als in den meisten Konzernen heutzutage. Da wird oft viel diktatorischer geführt, weniger Mitarbeiter zentriert, weniger partnerschaftlich. Das ist ein Stück weit eine Blase. Aber die zieht eben viele Leute an. Ich kann das auch verstehen, denn die Idee, mal an etwas mitzubauen, ist natürlich erstmal sexy. Das ist attraktiver als sich irgendwo ins gemachte Nest zu setzen. Gerade für junge Menschen. Das kann ich absolut nachvollziehen.

Gero Hesse ist Managing Director von TERRITORY EMBRACE, der Employer Branding- und Personalmarketing-Einheit von TERRITORY.

Schon nach seinem BWL-Studium entdeckte Hesse seine Leidenschaft für Employer Branding und Personalmarketing. Zunächst verantwortlich für Employer Branding bei einer Unternehmensberatung, übernahm er 2000 das Employer Branding von Bertelsmann. Nach zehn Jahren wechselte Hesse als Geschäftsführer zur Bertelsmann-Tochter Medienfabrik und gründete die Employer-Branding-Agentur Embrace, welche seit Mai 2016 zur Content-Communication-Agentur TERRITORY gehört.

Zudem betreibt er den mehrfach ausgezeichneten Employer-Branding- und Recruiting-Blog saatkorn.com und ist in den Themenfeldern Employer Branding, Personalmarketing, Recruiting und Digitalisierung als Autor und Speaker unterwegs. Sowohl 2011 als auch 2013 wurde Hesse vom Personalmagazin in die Liste der „40 führenden Köpfe im Personalwesen“ aufgenommen. Der passionierte Familienvater lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Gütersloh und ist leidenschaftlicher Rockmusik-Fan.