Herr Sprenger, das Scheitern von Fusionen wird häufig auf unvereinbare Firmenkulturen zurückgeführt. Der Begriff „Kultur“ ist allerdings sehr dehnbar. Was verstehen Sie unter einer Unternehmenskultur?
Ich bezweifle manchmal, dass es so etwas überhaupt gibt. Denn in vielen Unternehmen gibt es sehr unterschiedliche Funktionssilos mit sehr verschiedenen Kulturen. Andererseits haben Unternehmen natürlich gemeinsame Wurzeln, aus denen sich unausgesprochene Erwartungshaltungen und Selbstverständlichkeiten entwickelt, die letztendlich die Firmenkultur ausmachen.

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Foto von Austin Distel

Kultcharakter hat in diesem Zusammenhang eine Studie von Edgar H. Schein aus den 1950er Jahren. Er fragte damals: „Was prägt die Arbeitsmoral?“ Heute würde man sagen: „Was prägt die Unternehmenskultur?“ Schein kam zu dem Ergebnis: „1. das konkrete Verhalten 2. der wertsetzenden Persönlichkeit 3. im Konfliktfall, das von den Mitarbeitern seismographisch wahrgenommen und in einer Spielregel verallgemeinert wird.“ Daran orientiert sich das gesamte Unternehmen: am konkreten Verhalten und nicht daran, was jemand sagt oder was in Hochglanzbroschüren steht.

Wer sind die wertsetzenden Persönlichkeiten?
Das sind Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer, aber auch die Führungskräfte in den verschiedenen Mikrokosmen des Unternehmens. Mitarbeiter beobachten sehr genau, wie Vorgesetzte reagieren – nicht bei Sonnenschein, sondern im Konfliktfall, wenn es knirscht. Wie reagieren sie zum Beispiel, wenn sie kritisches Feedback bekommen? Was passiert, wenn einem Mitarbeiter ein Fehler unterläuft? Diese Situationen nehmen alle Beteiligten hochsensibel wahr.

Da die Vorgesetzten das Verhalten in ihrem Bereich prägen, gibt es in vielen Unternehmen auch unterschiedliche Kulturen. Menschen arbeiten ja nicht in Großunternehmen, sondern in Nachbarschaften. Diese Nachbarschaften definieren sich über den Vorgesetzten, ein paar Kollegen, den Mittagsstammtisch und Kaffeeküchenrituale. In diesen Nachbarschaften artikulieren sich Gemeinsinn, Wir-Gefühl und Zusammenarbeit. Unternehmen müssen versuchen, diese Nachbarschaften zu stärken und nicht zu schwächen. Das bedeutet zum Beispiel: Abschied von allen Großprogrammen.

Ist es besser für Unternehmen, eine starke einheitliche Kultur zu haben oder viele unterschiedliche Kulturen?

Starke Firmenkulturen haben einen großen Vorteil: Sie senken die Transaktionskosten. Denn je mehr Selbstverständlichkeiten es im Unternehmen gibt, desto weniger müssen Sie über Verträge, Policies und Monitoring-Systeme regeln. Sind bestimmte Dinge so klar und unstrittig, dass Sie nicht mehr darüber reden müssen, sparen Sie Zeit und Kosten. Fest steht aber auch, dass komplexe Unternehmen meist auch viele unterschiedliche Kulturen haben. Je komplexer ein Unternehmen ist, desto vielfältiger sind seine Kulturen.

Zwischen diesen Kulturen können aber auch Konflikte entstehen. Das gilt vor allem für internationale Unternehmen. Wie sollten die Beteiligten damit umgehen?
Man muss etwas Gemeinsames haben, um etwas Trennendes zu erleben. Nur wenn beide Seiten einander brauchen, um ein gemeinsames Problem zu lösen, werden sie versuchen, mit dem Konflikt konstruktiv umzugehen. Dazu müssen sie aber erst ein Problem als ein gemeinsam zu lösendes Problem anerkennen. Das ist häufig nicht der Fall, weil das Bewusstsein für Zusammen-Arbeit im Wortsinne von den Unternehmen systematisch geschwächt wurde. Wenn es dem Management nicht gelingt, ein Problem als gemeinsames Problem zu präsentieren, besteht kein Grund, zusammenzuarbeiten. Dann ist bei Konflikten die organisatorische Trennung oft die beste Lösung. Unternehmen sollten grundsätzlich den Gedanken wach halten, dass gemeinsame Wege beginnen, aber auch enden können.

Lässt sich eine Firmenkultur sichtbar machen oder sogar messen – im Sinne einer Cultural Due Diligence?
Genau das ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Denn in dem Augenblick, in dem ich sie benenne, verschwindet die Firmenkultur. Ein Beispiel: Ich habe mein Handwerk bei der 3M gelernt, dort spielte das Thema Arbeitszeit überhaupt keine Rolle. Als innovationsgetriebenes Unternehmen wollte man sich nicht mit einem quantitativen Arbeitsbegriff befassen. In dem Moment jedoch, in dem man im Unternehmen darüber spricht, dass Arbeitszeiten eigentlich keine Rolle spielen, sagen sofort einige: „Moment mal, das stimmt doch nicht immer und nicht für alle.“ Und ganz plötzlich redet man dann über Vertrauensarbeitszeit, was ja bedeutet, dass es auch eine Misstrauensarbeitszeit geben muss. Dann kommt man zu irgendeiner Differenzierung und legt fest, dass sich einige Mitarbeiter nicht an bestimmte Arbeitszeiten halten müssen, während die Arbeitszeiten der anderen Mitarbeiter gemessen werden. Im Endeffekt gibt es dann meist eine Dekorierten-Amnestie für das Top-Management. Die ursprüngliche Firmenkultur hat sich damit aufgelöst. Aus diesen Gründen ist es ganz wichtig, Unternehmenskulturen möglichst implizit zu lassen. Unschärfe ist hier ein Vorteil.

Firmenkulturen implizit zu lassen, kann aber bei Fusionen problematisch sein. Denn da treten Konflikte ja häufig auf, weil das eine Unternehmen nicht auf die Kultur des anderen vorbereitet ist.
Deshalb funktionieren Fusionen ja auch meistens nicht. Ich halte von der Idee des Fusionierens nur dann etwas, wenn die Kultur eines Unternehmens überhaupt nicht oder nur sehr schwach ausgeprägt ist. Bei stark ausgeprägten Unternehmenskulturen kann eine Fusion nicht funktionieren, was Sie am Beispiel Hewlett-Packard und Compaq ja sehr gut beobachten konnten. Ich glaube, dass Zukunft Herkunft braucht. Starke Wurzeln, die Herkunft bilden, sollte man nicht schwächen. Zukunft sichern heißt dann: Wurzelbewusstsein fördern. Dieses Bewusstsein ist die große Erzählung – und ältere Mitarbeiter halten sie lebendig, gleichsam als kollektives Gedächtnis. Deshalb ist es sehr wichtig, wie Unternehmen mit älteren Mitarbeitern umgehen. Gibt es in einer Firma nur wenige ältere Mitarbeiter, ist das Wurzelbewusstsein nur noch schwach ausgeprägt. Das ist gut für eine Fusion, aber schlecht für alles, was nachhaltig sein soll. Nichts, was bleiben soll, kommt schnell.

Lässt sich eine Unternehmenskultur verändern?
Nein, sie lässt sich nicht verändern, jedenfalls nicht in lebensgeschichtlichen Zeithorizonten. Sie lässt sich nur auflösen.

Und weiterentwickeln?
Das würde bedeuten, dass Unternehmen steuerbar sind. Sie sind aber nur irritierbar. Ich kann die Reaktion eines Unternehmens auf eine Irritation nicht prognostizieren. Wenn es eine starke Kultur hat, dann ist die Möglichkeit, sie zu verändern – relational zu den Bewegungsgeschwindigkeiten auf den Märkten – gering. Und ich sage noch einmal: Sehr starke Unternehmenskulturen, so sie denn existieren, sind ein No-go für Fusionen. Denn sie schwächen die Wurzelkraft des Unternehmens und führen zu prohibitiv hohen Transaktionskosten. In letzter Konsequenz ist das ein Nein zur Zukunftsfähigkeit dieses Unternehmens. Betriebswirtschaftlich rational ist das selten. Was nicht bedeutet, dass eine Fusion nicht aus anderen Gründen sinnvoll sein kann – zum Beispiel um Marktaustritte durchzusetzen, die in der alten Struktur nicht legitimierbar gewesen wären. Und mit Blick auf die Managementgehälter ist eine Fusion sicher für einige Beteiligte außerordentlich sinnvoll.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 4/2006