Probleme offensiv und konstruktiv angehen

Umgekehrt würden beispielsweise Legastheniker, besonders wenn gezielt auf sie eingegangen würde und andere Beteiligte wie auch die Mitschüler mitinformiert und mit ins Boot geholt werden würden, den Klassendurchschnitt nicht „belasten.“ Besagte Kollegin musste gezielt für ihre Kinder kämpfen, damit sie in den Regelunterricht aufgenommen wurden. Wer für seine Kinder das nicht schafft, zeitlich, logistisch, argumentativ, dessen Kinder haben von Anfang an einen schlechteren Start und eine andere „Weichenstellung“. Der Sohn einer Freundin wurde von einer Schulberaterin als minderbegabt „diagnostiziert“ – gut, dass die Mutter das Verdikt nicht glaubte: Der Mann ist mittlerweile ein hochgeachteter Jurist.

Nichtdestotrotz treffen eine Reihe von Facheinschätzungen auch zu - und gibt es Kinder, die von einem Förderunterricht wirklich profitieren können. Das muss jedoch nicht automatisch heißen, dass sie nach entsprechender Förderung nicht auch am normalen Berufsleben teilnehmen könnten.

Die „Karriere“ von Kindern mit „individuellen Dispositionen“ geht jedoch in der Regel gemäß der "ersten Weichenstellung" weiter: Immer auf der „Förderschiene“ und sich selten mit dem Regelunterricht und seinen Anforderungen messen könnend. Außerdem muss erwähnt werden, dass bestimmte Lerninstitutionen aus finanziellen Gründen technisch nicht immer so gut ausgestattet sind, wie sie es sein könnten.

Fazit: eine „optimale Förderung“ für das Berufsleben sieht anders aus

Nur wer als normalintelligentes Kind - jedoch mit spezifischen Störungen (Sehbehinderung, Rollstuhl, Spastik, Legasthenie etc.) - engagierte, einigermaßen solvente, gut vernetzte und hartnäckige Eltern, Lehrer und Förderer an seiner Seite hat, und die auf eine gute Bildungs-Infrastruktur zurückgreifen können – kann den Sprung in den „Regel-Berufsalltag“ gut schaffen – und bringt dann u.U. auch genügend Selbstbewusstsein und Fachwissen mit, um sich „trotz Gegenwind“ durchzusetzen.

Andere Kinder, deren Eltern über weniger Zeit, Geld, Bildung und sozialen Hintergrund verfügen, deren Förderbedarf jenseits geförderter Beeinträchtigungen besteht (z.B. durch eine Krankheit, die seltener anzutreffen ist) und deren Wohnsitz sich in Regionen befindet, die schlechter Anschluss an relevante Bildungseinrichtungen ermöglichen (außer es gibt Internate), müssen auf „Quoten“ und Förderprogramme hoffen. Die „Maximalkarriere“ dort: Ausbildung in Förderkindergärten und -schulen, in Berufsbildungsstätten, in Behindertenwerkstätten, in bezuschussten Stellen für nicht marktgerechte Berufe, sondern in Ausbildungsstätten, „die Ausbildungen bieten für traditionell für diese Behinderung als geeignet erachtete“ Berufe. Diese entsprechen häufig nicht wirklich den tatsächlichen Talenten und Fähigkeiten der Jugendlichen.

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Foto von Austin Distel

Zahlenspiele

Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) veröffentlichte seine jüngsten Zahlen zur „Behindertenquote“: Demnach wären aktuell mehr als eine Million Mitarbeiter mit Behinderungen in deutschen Unternehmen beschäftigt. Die Quote ist von der Unternehmensgröße abhängig: Je größer die Firma, desto mehr potenzielle Einstellungen von Behinderten – und der Branche: Die meisten arbeiten in der Verwaltung (7%), gefolgt vom Bergbau (6,5) und Fahrzeugbau (6%). Arbeitgeber, die die Quote nicht erfüllen, müssen eine Abgabe zahlen, für Kleinunternehmen gibt es noch andere Regelungen.

Bei der Ausbildung behinderter Jugendlicher gibt es den IW-Wissenschaftlern zufolge ‘noch Luft nach oben‘.

Die Gründe, die die Wissenschaftler anführen, klingen erst einmal plausibel: „Zum einen könne es sein, dass Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer individuellen Dispositionen nicht die notwendigen Fähigkeiten für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Allgemeinen oder einer spezifischen Tätigkeit in einem bestimmten Beruf haben…. Außerdem würden noch „zu viele junge Leute mit Handicap ihre Ausbildung bisher in geförderten Einrichtungen absolvieren,“ und: „Im Durchschnitt verfügten Schulabgänger mit Behinderung zudem über schlechtere Noten und Abschlüsse.“

Unser Kommentar:

Die „Berufsbiographie“ eines Menschen beginnt in Deutschland quasi schon im Kindergarten und in der Grundschule – also im Schulsystem, und dies kann je nach Bundeland sehr variieren. In Bayern empfahl man einer Arbeitskollegin, ihre Kinder, von denen eines "lediglich“ eine Leseschwäche aufwies und das andere eine Legasthenie – gleich in eine Förderschule zu geben. Leseschwächen, die leider immer mehr zunehmen sowie einer Legasthenie, kann man jedoch normalerweise bei entsprechender Vorbereitung, Kommunikation und Abstimmung mit den Verantwortlichen auch im Normalunterricht begegnen.

Schließlich sind betroffene Kinder häufig normalbegabt und intelligent. Da aber die Personaldecke überall extrem dünn ist und nicht immer die Vorgaben erreicht – versucht man immer wieder, Kinder, die in irgendeiner Weise „anstrengend“ werden könnten, in andere Schuleinheiten abzuschieben. Intelligente Kinder haben dann weniger Möglichkeiten, sich mit leistungsgleichen Kindern zu messen. Sie müssen an einem Unterricht teilnehmen, der auch Kinder berücksichtigt, die tatsächlich im „Normalbetrieb“ überfordert wären.

Hessen reagierte laut Kultusminister Alexander Lorz auf die Zunahme von Kindern mit besonderem Förderbedarf daher mit einer personellen Aufstockung von 120 Lehrerstellen für das neue Schuljahr 2017/18. Damit würden an allgemeinbildenden Schulen ca. 300 mehr Lehrer für die Koedukation behinderter und nichtbehinderter Kinder eingesetzt, als an Förderschulen.

Immerhin werden nun diese „im Durchschnitt schlechteren Noten und Abschlüsse“ – wie auch der Mangel an „Fähigkeiten für spezifische Tätigkeiten in einem bestimmten Beruf“ – erklärlich. Und diesen Sachverhalt können Ausbildungsbetriebe – wie auch Unternehmen, die am „Ende der Kette“ stehen, dann tatsächlich auch nicht immer sofort „auffangen“. Selbst potenziell vielversprechende und talentierte Kandidaten bleiben so in der Abhängigkeit und „Förderschleife.“  Sie landen außerdem nicht dort, wo engagierte HR-Professionals durchaus auch offen sind für Neues: in den Ausbildungsstellen – und im Bewerbermanagement Ihrer Unternehmen.

Hilfe für engagierte Fach- und Ausbildungsbetriebe

"In Zeiten des Demographiewandels braucht man Menschen mit Behinderung, und das gilt heute mehr denn je," so Annetraud Grote, Juristin im Personalreferat des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) und Koordinatorin für das "Institut im Modellprojekt inklusive Ausbildung, InkA", das sich die gemeinsame Ausbildung von behinderten und nichtbehinderten Azubis in Unternehmen zum Ziel gesetzt hat.

Eingedenk des Inklusionsgedanken der UN-BRK fungiert als Träger des Projekts „inklusive Ausbildung“, das Unternehmensforum, eine Arbeitgeberinitiative. Seit 2002 setzt sie sich für mehr Inklusion von Menschen mit Behinderung in Unternehmen und Behörden ein. Mitglieder dieses Netzwerks sind große Konzerne wie die Deutsche Bahn, Fraport, ING-DiBa, Boehringer Ingelheim, BASF, SAP u.a. – ebenso das Robert-Koch-Institut, Behörden und mittelständische Unternehmen. Netzwerk und Projektkoordinatoren arbeiten eng mit dem BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) zusammen. Sie sensibilisieren Arbeitgeber für das Thema Inklusion und beraten sie entsprechend.

Wer berät die Jugendlichen?

Da gibt es u.a. die Schwerbehindertenbeauftragten der Arbeitsagenturen, die in der Regel sehr engagiert sind. Doch: Betriebe und behinderte Jugendliche „finden nur selten zusammen“. Die Gründe sind vielfältig. Grote befragte hierzu die Jugendlichen: Zum einen trauten sich qualifizierte behinderte Jugendliche häufig erst gar nicht, sich auf interessante Stellen zu bewerben oder ihre Behinderung offen anzugeben, weil sie einfach schon zu häufig Abweisung erfahren hätten.

Zum anderen zögerten sie aufgrund falscher Beratung: Im Gegensatz zu den ausgebildeten Behindertenbeauftragten setzten Eltern, Lehrer und Berufsbildungsstätten sowie reguläre Berater der Arbeitsagentur oder Personalvermittlungen leider immer noch auf „Entmutigung“ und die üblichen „Behindertenberufe“ passender Kandidaten - und damit eine wenig ambitionierte Vermittlung.

Das Matching von Angebot und Nachfrage hinkt der Arbeitsmarktentwicklung hinterher

Interessierte Betriebe könnten mittlerweile auf eine ganze Reihe von regionalen und überregionalen Fachstellen zurückgreifen. Doch wie findet man sie? Mögliche Beispiele haben wir am Ende des Artikels angegeben. Es gibt jedoch gerade im regionalen Bereich viele interessante Initiativen. Leider sind es oft Einzelinitiativen, die nicht immer gut vernetzt sind. Die Suche ist daher manchmal etwas mühsam. Gut ist es, wenn sich diese Initiativen schon zu  Netzwerken zusammengeschlossen haben und es zu größeren Initiativbildungen gekommen ist, wie bei InkA.  Es lohnt sich daher, regional bei IHK- und Bildungs-Messen, bei Messen zu  ehrenamtlichem Engagement, bei kirchlichen Trägern, Bildungsträgern und behördlichen Initiativen für Behinderten- und Flüchtlingsweiterbildung nachzufragen - oder automatische Benachrichtigungen von diesen Initiativen auch einfach einmal einzufordern.

Bürgerinitiativen sind hier häufig sehr viel weiter und aktiver als offizielle Organe – auch sie sind gute Partner bei der inklusiven Talentsuche. Tatsache ist, dass die „klassischen“ Vermittlungsstellen wie Arbeitsagenturen, Bildungsträger und Dienstleister – auch bei der Vermittlung regulärer Bewerber – nicht immer das gewünschte Matching bringen, da sie selber über die mittlerweile zahlreichen Initiativen nicht ausreichend informiert - und nicht ausreichend vernetzt sind. Hier heißt es auf allen Seiten: nicht warten, bis jemand kommt, sondern ganz offensiv aufeinander zugehen.

Engagierte Ausbildungsbetriebe und Kandidaten – Sie sollten sich „einfach“ trauen, aufeinander zuzugehen

Der Markt weiß nicht, dass Firmen Talente suchen. Firmen wissen nicht, wo sie nach geeignete Kandidaten suchen sollen. Je klarer eine Firma kommuniziert, dass auch Bewerbungen von außergewöhnlichen Kandidaten, Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund erwünscht sind umso leichter können engagierte Initiativen und Träger diese Stellen für ihre Kandidaten ausmachen. Umso eher trauen sich betroffene Bewerber, eine Bewerung loszuschicken. Umgekehrt sollten auch die Träger und Initiativen viel häufiger - die Initiative ergreifen. Es gibt keine "Holschuld" der Unternehmen. Der springende Punkt ist der Wille zu einer offenen Zusammenarbeit - und die klare Kommunikation dieses Willens nach außen. Das Projekt InkA will Beteiligte dabei ermutigen, dass Behinderungen keine Hindernisse und Makel sein müssen, sondern dass sie in diesem Fall sogar von Vorteil sind – für alle.


Quellen und Downloads:

https://behinderung.org/gesetze/schwbg.htm

überaus Fachstelle Übergänge in Ausbildung und Beruf - und BIBB - Fachportal des Bundesinstituts für Berufsbildung
https://www.ueberaus.de/wws/inka.php

 
Nachwuchskräftesicherung. Chancen durch Integration benachteiligter Jugendlicher in Ausbildung. Hrsg. Christian Pfeffer-Hoffmann. (minor, xenos inklusive)
http://fczb.de/wp-content/uploads/2015/08/2014_xinga_nachwuchskrftesicherung_web.pdf


https://www.lise-gmbh.de/fileadmin/bbw-rv/pdf/BBW_Der_Schritt_in_die_Arbeitswelt.pdf

Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.
https://www.kofa.de/fileadmin/Dateiliste/Publikationen/Studien/Studie_01-2016_Inklusion-in-der-dualen-Berufsausbildung.pdf

http://www.lokalkompass.de/wesel/politik/kein-handicap-fuer-die-ausbildung-appell-fuer-mehr-ausbildungsplaetze-fuer-junge-menschen-mit-behinderung-d586781.html

Dokumentation zu einer Veranstaltung der Behindertenbeauftragung der Bundesagentur für Arbeit: INKLUSIVE AUSBILDUNGEN FÜR JUGENDLICHE MIT BEHINDERUNG Drohendem Arbeitskräftemangel jetzt begegnen
http://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Ausbildung_Dokumentation.pdf?__blob=publicationFile

http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/neue-daten-behindertenquote-knapp-verfehlt-15000662.html

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/integration-grenzt-die-tech-szene-behinderte-aus-15024575.html

https://www.juris.de/jportal/nav/juris_2015/aktuelles/nachrichten_1/nachrichten.jsp

http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/hessen-zusaetzliche-lehrerstellen-fuer-kinder-mit-foerderbedarf-15050814.html

https://www.anwalt.de/rechtstipps/index.php?rechtsgebiet=Schwerbehindertenrecht


http://ht.ly/8rrM50c1m0s

https://www.uni-hildesheim.de/leichtesprache/newsletter/artikel/artikel/juristische/

http://ht.ly/8rrM50c1m0s