Ehrlichkeit im Recruiting ist kein Nice-to-have, sondern ein Muss, argumentiert Miriam Sternitzky, Chief People Officer bei Westwing. Sie plädiert für radikale Offenheit – von der Stellenanzeige bis zum Vertragsangebot. Wie das in der Praxis funktioniert, erzählt sie im Interview.
Bei der Suche nach guten Mitarbeitenden müssen sich Unternehmen in Szene setzen – und sparen dabei Nachteile einer Position gerne aus. Wie ehrlich können Unternehmen im Recruiting sein?
Recruiting sollte deutlich ehrlicher sein, als es aktuell oft der Fall ist. Das Problem ist, dass viele Unternehmen Recruiting eher wie Marketing behandeln. Sie verkaufen sich als das perfekte Unternehmen mit den besten Benefits, der tollsten Unternehmenskultur und den glücklichsten Mitarbeitenden. Doch oft entspricht das nicht der Realität – und das bleibt nicht lange unbemerkt. Die Folge sind Enttäuschung, Demotivation, innere Kündigung – oder eine tatsächliche Kündigung. Deshalb darf Recruiting keine reine Werbeveranstaltung sein. Ehrlichkeit bedeutet nicht, sich als Unternehmen herabzusetzen, sondern sich authentisch zu präsentieren. So ziehen Betriebe passende Talente an und schrecken unpassende Kandidat:innen ab. Wenn dennoch keine Bewerbungen eingehen, liegt das Problem nicht in der Transparenz, sondern in internen Faktoren. Dann gilt es, diese zu adressieren – nicht ein unrealistisches Bild nach außen zu zeichnen.

Wie zeigt sich diese Offenheit im Recruitingprozess von Westwing?
Offenheit bedeutet für uns: Wir zeigen Kandidat:innen genau das Unternehmen, das sie auch nach der Unterschrift erleben werden – mit all seinen Ambitionen, seinem Tempo und seinen Herausforderungen. Wir glauben nicht an Hochglanz-Versprechen, sondern an Klartext.
Ein Beispiel: In unseren Interviews sprechen wir nicht nur über die Rolle, sondern ganz offen über die Realität dahinter – etwa, wenn Prozesse noch nicht ideal laufen oder Strukturen sich gerade verändern. Dabei geht es nicht um Abschreckung, sondern um Ehrlichkeit. Wer bei uns startet, soll das mit einem realistischen Bild tun.
Auch unsere Feedbackkultur im Prozess ist direkt: Wenn wir Zweifel an der Passung haben, kommunizieren wir das offen – mit konkreten Beispielen und dem Angebot zum Austausch. Und wenn wir begeistert sind, sagen wir das auch.

Welche Versprechen aus dem Recruiting werden oft nicht eingehalten – und welche Folgen hat das?
In vielen Stellenanzeigen finden sich dieselben Phrasen, die oft nicht der tatsächlichen Unternehmenskultur entsprechen. Ein Beispiel ist die Formulierung „flache Hierarchien“. Häufig bedeutet dies lediglich, dass sich alle duzen, während die Führungskräfte die Entscheidungen trotzdem strikt top-down treffen. Ein weiteres Schlagwort ist „Work-Life-Balance“. Damit suggerieren Unternehmen zum Beispiel, dass Mitarbeitende nicht außerhalb der regulären Arbeitszeit weiterarbeiten müssen. Doch wer dann später nicht länger arbeitet, riskiert Nachteile. Auch die ‚offene Feedbackkultur‘ ist oft einseitig ausgelegt. Mitarbeiter:innen sollen Feedback annehmen, aber nicht geben. Wenn Unternehmen solche Versprechungen im Recruiting machen, aber in der Zusammenarbeit nicht einhalten, führt das zu Enttäuschung, weil sich Personen bewusst für eine bestimmte Kultur entschieden haben, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Die Folge sind frustrierte Mitarbeitende, die bereits in der Probezeit kündigen. Eine Nachbesetzung kostet das Unternehmen viel Geld. Doch auch wenn die Mitarbeitenden bleiben, fehlt der sogenannte „Cultural Fit“ – und folglich auch die Leistungsbereitschaft.
An welchen „Touchpoints“ mit den Bewerber:innen ist deiner Meinung nach Offenheit besonders wichtig?
Der gesamte Bewerbungsprozess erfordert Transparenz – von der Stellenanzeige an. Eine klare Beschreibung der Erwartungen im Jobinserat hilft, Fehlbewerbungen zu vermeiden und sorgt dafür, dass sich nur die richtigen Personen bewerben. Mein Motto ist daher “Qualität über Quantität”. Wichtig ist auch das erste Interview. Bei Westwing führt das Talent Acquisition Team die Erstgespräche, um die Unternehmenskultur zu vermitteln und Bewerber:innen realistisch auf die Rolle vorzubereiten. Stellt sich nach zehn Minuten heraus, dass es nicht passt, ist das kein Misserfolg, sondern spart wertvolle Zeit. Auch Führungskräfte, die in den weiteren Gesprächen involviert sind, müssen ehrlich sein und detailliert auf die Rolle eingehen. Es darf nicht darum gehen, eine Stelle schnell zu besetzen, indem die Recruitingverantwortlichen unangenehme Details verschweigen.
Welche Erfahrungen habt ihr mit eurer Art der Recruiting-Kommunikation gesammelt?
Viele Kandidat:innen geben uns das Feedback, dass sie unseren Bewerbungsprozess als besonders ehrlich erlebt haben – keine Buzzwords, sondern echte Einblicke. Dennoch entscheiden sich einige bewusst gegen uns, weil sie ein anderes Arbeitsumfeld suchen. Das ist für uns kein Misserfolg – im Gegenteil. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht der richtige Arbeitgeber für jeden und jede sind, genau deshalb setzen wir auf Transparenz. Recruiting ist wie Dating: Wir suchen ein echtes Match, nicht jemanden, bei dem wir uns verstellen müssen. Wir haben viel zu bieten – für Menschen, die Lust auf ein Umfeld mit hoher Eigenverantwortung, echtem Gestaltungsspielraum und ambitionierten Zielen haben. Wir bieten die Möglichkeit, schnell Verantwortung zu übernehmen, sichtbar zu wirken und in kurzer Zeit stark zu wachsen. Diese Ehrlichkeit setzt sich im Onboarding fort – regelmäßige Check-ins bestätigen, dass neue Mitarbeitende genau das vorfinden, was wir versprochen haben.
Was sind die drei wichtigsten Learnings, die du aus deiner Beschäftigung mit Recruiting teilen kannst?
Das erste Learning betrifft radikale Offenheit: Ehrlichkeit ist das A und O, sie spart Zeit und Geld. Lieber schrecken wir von Anfang an die Hälfte der Bewerber:innen ab, als später mit einer hohen Fluktuation konfrontiert zu sein. Das zweite Learning ist, dass Recruiting keine Einbahnstraße ist. Viele Firmen agieren immer noch so, als hätten sie allein die Entscheidungsgewalt. Doch in Wirklichkeit prüfen Kandidat:innen ebenso genau, ob das Unternehmen zu ihnen passt. Deshalb ist es entscheidend, eine positive Candidate Experience zu schaffen: Ein bewerbungsfreundlicher Prozess ohne lange Wartezeiten, komplizierte Formulare oder unnötig viele Gesprächsrunden. Mein drittes Learning ist, dass die besten Talente nicht immer perfekt ins Standardprofil passen. Deshalb ist der Ansatz von Skill-based Hiring oder Hire for Potential besonders wertvoll. Entscheidend ist nicht der perfekte Lebenslauf. Wichtig sind vor allem Haltung, Neugier und Drive.
Veranstaltungstipp
Miriam Sternitzky spricht als Keynote-Speakerin auf dem Expofestival TALENTpro, das am 4. und 5. Juni 2025 in München stattfindet: https://talentpro.de/
Quelle: Dieses Interview erschien zuerst in der Fachzeitschrift personal manager, Ausgabe 3/2025.
Interview: Miray Sarkbay