Herr Sprenger, in einem kürzlich veröffentlichten Artikel schreiben Sie: „Viele Personaler haben einen Hang zum Menschenmachen“. Ein harter Vorwurf. Wie meinen Sie das?
Ich beobachte bei vielen Personalern eine ganz bestimmte Grundeinstellung. Sie glauben offensichtlich, dass sie einen privilegierten Zugang zur Wahrheit haben und aufgrund ihrer Ausbildung über die wahren Werte, Normen und Sichtweisen verfügen. Wenn ich mir den Habitus vieler Personalisten anschaue, kann man den zusammenfassen mit dem Satz: „Ich weiß, was für euch gut ist, denn ich weiß, wie die Welt funktioniert.“ Das gilt für Strukturen, Systeme, aber auch für Menschen. Sie haben ein Menschenbild, das sich an idealen, theoretischen Maßstäben orientiert. Dieses Bild legen sie den Menschen über, um anschließend ein Defi zit festzustellen zwischen dem Mitarbeiter und dem Ideal, das sie selbst aufgebaut haben. Auf diese Weise legitimieren sie ihre Arbeit: Indem sie permanent idealisierte Erwartungen schüren, produzieren sie ihre eigene Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

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Foto von bruce mars

Personalisten nehmen die Menschen also nicht ernst?
Sie nehmen die Menschen vor allem nicht so, wie sie sind, sondern möchten sie gerne verändern. Deshalb rufen sie ihnen ständig zu: „Sei anders!“ oder „Du wärst ein sehr viel besserer Mensch, wenn du ein anderer wärst!“ Sie geben ihnen damit das Gefühl, dass sie gut sein könnten, es aber noch nicht sind. Insofern haben Personaler einen Hang zum Menschenmachen. Ich bin dagegen überzeugt, dass Menschen selbst wissen, wer sie sind und was gut für sie ist.

Sie selbst haben als Leiter der Personalentwicklung für das Unternehmen 3M gearbeitet …
… und ich würde mich immer noch als Personalentwickler bezeichnen. Aber ich definiere gute Personalentwicklung einfach anders als viele.

Wie sieht gute Personalentwicklung aus?
Personalentwicklung ist dann sinnvoll, wenn sie erstens unterstützt, was die Menschen wollen, zweitens ihre Dienstleistung nicht aufzwingt und drittens dezentral und damit nahe am Markt ist. Die Personalentwicklung hat lange versucht, den Dienstleistungsgedanken zu verdrängen und sich als eigenständige Funktion zu inszenieren, die zentral definierte Angebote schafft. Stattdessen sollte sie sich wieder stärker als Dienstleister für die Mitarbeiter und die Linie verstehen. Die Abteilungen selbst müssen definieren, was sie benötigen.

Aber ist es nicht auch Aufgabe von PE, unternehmensweite Standards der Weiterbildung zu definieren und durchzusetzen?
Natürlich muss die Personalentwicklung auch definieren, was aus ihrer Sicht für die Organisation wichtig ist. Aber sie ist nur dann erfolgreich, wenn sie etwas anbietet, was die Menschen wirklich wollen und benötigen. Als Personalentwickler muss ich überlegen, wie ich dieser Nachfrage gerecht werde. Das kann unter Umständen auch bedeuten, dass Personalentwickler als Makler für externe Personaldienstleistungen agieren.

Ich denke, dass die Zeit der großen Personalpläne, denen man sich unterzuordnen hat, um an die Fleischtöpfe des Unternehmens zu kommen, vorbei sein müsste. Es ist aus meiner Sicht zum Beispiel völlig sinnlos, zehn bis zwölf Mitarbeiter zu High Potentials zu erklären und ihnen ein Programm überzustülpen, das der eine vielleicht braucht, der andere aber nicht.

Sie fordern eine Personalentwicklung, die stärker auf den einzelnen Mitarbeiter eingeht. Können das die vielfach dünn besetzten PE-Abteilungen in den Unternehmen leisten?
Menschen lernen – wenn überhaupt – dann nur sehr langsam und selbstmotiviert an konkreten Problemen. Das funktioniert also nicht flächendeckend, nicht kollektiv, sondern nur individuell. Es hat einen sehr geringen Wirkungsgrad, ohne konkrete Probleme – gleichsam vorbereitend – zu lernen. Es ist zudem völlig sinnlos, Menschen gewissermaßen gegen ihren Willen in irgendwelche Seminarbausteine reinzupacken und ihnen dann zu erklären, was sie eigentlich lernen sollten.

Anstatt auf die Schwächen der Mitarbeiter zu schielen, sollte die Personalentwicklung zudem viel stärker auf die individuellen Talente der Mitarbeiter achten und sie entsprechend einsetzen. Wir können nur nutzen, was die Menschen mitbringen. Personalentwicklung sollte daher immer auch Organisationsentwicklung sein.

Sind amerikanische Unternehmen in der Personalentwicklung weiter?
Nein, auch die amerikanische Personalentwicklung ist nach wie vor hochgradig zentralistisch und oktroyiert. Ich glaube aber, dass die ersten Unternehmen umdenken, wie zum Beispiel SAP oder Microsoft. Von Konzernen wie diesen wird langfristig auch ein anderer Geist ausgehen.

Sie selbst geben Seminare zum Thema Führung und Persönlichkeit. Gibt es Kriterien für gute Führungsarbeit?
Was gute Führung ist, weiß niemand – abgesehen von den unternehmensinternen Platzanweisern in der Personalabteilung. Es gibt nämlich sehr unterschiedliche Arten und Weisen, eine gute Führungskraft zu sein. Entscheidend ist das Ergebnis – und das kann sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur sein. Deshalb lässt sich der Erfolg von Führungskräften auch selten messen, eher bewerten.

Auch der Versuch vieler Personalabteilungen, Führungs- oder Personalarbeit in Zahlen zu fassen, ist aus meiner Sicht Unfug. Die ganze Idee des „Was nicht messbar ist, ist nicht managebar“ schwächt die Personalarbeit. Wir sollten als Personaler vielmehr dazu stehen, dass unsere Arbeit Qualität erzeugt, aber nicht Quantität. Dass sie bewertbar ist, aber nicht messbar. Das gilt auch für Führungskräfte: Ob das Klima in ihrer Abteilung gut ist, kann ich sehen und spüren. Wenn dort viel gelacht wird, ist das zum Beispiel ein Zeichen für gegenseitiges Vertrauen. Aber ich denke nicht, dass Personaler unternehmensinterne Instrumente entwickeln müssen, an denen sich die Menschen zu messen und zu orientieren haben – wie zum Beispiel Mitarbeiter- oder Vorgesetztenbefragungen.

Was haben Sie denn gegen Feedback?
Feedback sagt meist nur etwas darüber aus, wie mich ein anderer erlebt. Eventuell sagt es auch etwas darüber aus, wie er mich haben will. Feedback sagt also mehr über den Feedbackgeber aus als über den Feedbacknehmer. Insofern kann man sich überlegen, ob man damit etwas anfangen kann. Im Unternehmen wird hingegen immer Lernen mit Anpassen verwechselt. Goethe sagt: Man lernt nur von jenem, den man liebt.

Sie vertreten die These, dass Führungskräfte nicht motivieren, aber Demotivationen vermeiden können. Was sind aktuell die Hauptquellen von Demotivation in den Unternehmen?
Ich glaube, dass Unternehmen den Menschen eine gewisse Heimat und eine Perspektive bieten müssen. Andernfalls hat diese Beziehung keine Zukunft und funktioniert nicht. Die Mitarbeiter sollten nicht permanent um die Dauer der Zusammenarbeit fürchten müssen. Natürlich können Unternehmen keine Arbeitsplatzsicherheit geben, weil sie am Markt agieren und im Wettbewerb stehen. Aber sie dürfen nicht ständig die Dazugehörigkeit der Mitarbeiter in Frage stellen.

Sie haben mit „Der dressierte Bürger“ gerade ein gesellschaftspolitisches Buch geschrieben. Was hat Sie zu diesem Themensprung von der Personalentwicklung hin zur Politik motiviert?
Mich hat die Frage beschäftigt, unter welchen Umständen unsere Gesellschaft mündig werden kann. Wie schaffen wir es, dass der einzelne Bürger mehr Selbstverantwortung übernimmt? Von der Denkfigur her ist dieses Buch eine logische Fortsetzung meiner früheren Veröffentlichungen. Denn die Politiker versuchen auch, uns durch irgendwelche volkspädagogischen Maßnahmen zu erziehen. Wir sollen weniger rauchen, mehr Kinder in die Welt setzen und mehr Steuern zahlen. Sie gleichen vielen Personalentwicklern, denn sie rufen uns ständig zu: „So wie du bist, bist du nicht in Ordnung!“ Damit wir dann tun, was sie wollen, belohnen sie uns. Das führt dazu, dass wir sehr häufig tun, was belohnt wird und nicht, was wir sinnvoll finden. Das ist die gleiche Mechanik, die letztlich Eigenverantwortung und Selbstmotivation in den Unternehmen zerstört.

Damit sind wir wieder bei unserem Eingangsthema – dem Menschenmachen …
Exakt. Politikern und Personalverantwortlichen fällt es scheinbar gleichermaßen schwer, die Menschen so zu respektieren wie sie sind. Beide müssen endlich lernen, die Freiheit des anderen zu akzeptieren – natürlich innerhalb von Spielregeln. Dem Staat kommt dann die Aufgabe zu, die innere und die äußere Sicherheit zu gewährleisten – aber nicht mehr. Er hat jedenfalls kein Recht, sich in unser Leben zu drängen.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager5/2005