Sie seien unmittelbarer und den Dingen angemessener, impulsiver und gleichzeitig der jeweiligen Sache gerechter werdend. Dafür führt er – typisch amerikanisch – viele Beispiele an, die unter anderem aus der Kunst, aus Glücksspielen, aus Personenbewertungen, aus dem Sport, aus militärischen Strategiespielen oder der Musik stammen. Was allerdings am Ende seines Buches fehlt, sind Aussagen darüber, wie wir mit der dargestellten Form der Intuition umgehen sollen, in welchen Bereichen sie eher wirkt und in welchen eher nicht.

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Foto von Miguelangel Miquelena

Die im Buch beschriebenen Studien von John Gottmann, der nach relativ kurzer Zeit vorhersagen kann, ob eine Paarbeziehung über lange Jahre Bestand haben wird, oder jene von Paul Ekman, der eine Taxonomie des menschlichen Gesichts entwickelte, zeigen, dass Intuition nicht „frei“ entsteht, sondern dass sie sich auf der Basis umfangreichen Wissens und der damit verbundenen Recherchen entwickeln kann. Die angeführten Untersuchungen basieren auf der Arbeit von Spezialisten, die auf Grundlage ihres Wissens neue Zusammenhänge entdecken. Sie sind eigentlich nicht neu – interessant ist jedoch die Darstellung und der Mix der Beispiele durch Malcom Gladwell.

Erhellend ist zum Beispiel seine Darstellung des diagnostischen Verhaltens von Ärzten in einem Chicagoer Krankenhaus. Bei Verdacht auf Herzinfarkt folgen sie einem Algorithmus, der im Wesentlichen aus einer Reduktion von Daten besteht. Anstatt eine Vielzahl von Daten zu gewinnen, folgen sie einem Modell, das einige wenige Indikatoren für die Einweisung in die Intensivstation vorsieht. Malcolm Gladwell nennt das „Scheibchen schneiden“ – weniger ist also mehr. Das gilt auch für seine Beschreibung eines militärischen Planspiels, bei dem ein fiktiver flexibler Gegner über die nach komplexen Plänen vorgehenden Gruppen triumphiert. Hier sei an Friedrich Dürrenmatt erinnert, der sinngemäß meinte: Je sorgfältiger Menschen planen, umso wirkungsvoller trifft sie der Zufall.

Die Beispiele, die Gladwell anführt, könnten den Leser dazu verführen, zu sagen: „Wieso soll ich die Dinge sorgfältig abwägen? Ich verlasse mich lieber auf meine Intuition.“ Das ist ein Irrtum, auf den Gladwell meines Erachtens nach zu wenig eingeht. Alle angeführten Beispiele stammen aus Kontexten, die ein hohes Maß an Kontrolle und Wissenschaftlichkeit ermöglichen. Allen ist gemein, dass Planung, Beschreibung, Erklärung und Prognose eine wichtige Rolle gespielt haben – also die Fundamente kritisch-rationalen Denkens. Wer eine Metatheorie sucht, wer Intuition „verwenden“ beziehungsweise konkret nutzen möchte, wird eher enttäuscht sein, denn es gibt keine Anleitung dazu. Für jemanden, der Geschichten über Intuition kennen lernen möchte, um sie zu illustrieren, sie weiter zu geben, zum Beispiel in Seminaren, ist Gladwells Buch gut geeignet; er wird sie in reichem Ausmaß finden.

Blink! Die Macht des Moments
Von Marcolm Gladwell
Campus Verlag 2005-12-21
264 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 3-593-37779-9
www.campus.de

Leseprobe

Der Teil unseres Gehirns, der diese schnellen und einfachen Schlüsse zieht, nennt sich auch adaptives Unterbewusstes, und die Erforschung dieser Entscheidungsprozesse ist eines der wichtigsten Gebiete der modernen Psychologie. Dieses adaptive Unterbewusste hat nichts mit dem zu tun, was Sigmund Freud das Unterbewusste oder das Unterbewusstsein nannte und mit dem er seine mysteriösen und düsteren Orte voller Begierden, Erinnerungen und Fantasie meinte, die uns zu sehr verstören, als dass wir uns auf einer bewussten Ebene mit ihnen auseinander setzen wollten.

Stattdessen können wir uns dieses adaptive Unterbewusste als eine Art Supercomputer vorstellen, der schnell und leise all die Unmengen von Daten verarbeitet, die auf uns einströmen und die wir zum Überleben benötigen. Wenn Sie zum Beispiel das Haus verlassen und plötzlich bemerken, dass ein Lastwagen auf Sie zurast, haben Sie keine Zeit, lange darüber nachzudenken, wie Sie wohl am besten reagieren. Der einzige Grund, weshalb die menschliche Spezies so lange überleben konnte, ist, dass wir im Lauf der Evolution einen Entscheidungsapparat entwickelt haben, mit dessen Hilfe wir eine Situation auch mit wenig Informationen schnell einschätzen können.

Der Psychologe Timothy D. Wilson beschreibt dies in seinem Buch „Strangers to Ourselves“ so: „Das Gehirn arbeitet hocheffizient, indem es einen großen Teil des komplexen Denkens an das Unbewusste delegiert, so wie ein modernes Linienflugzeug in der Lage ist, mittels Autopilot zu fliegen, mit wenig oder keinem Input von Seiten des menschlichen oder ›bewussten‹ Piloten. Das adaptive Unbewusste versteht es hervorragend, die Umwelt einzuschätzen, Menschen vor Gefahren zu warnen, Ziele zu setzen und Handlungen in intelligenter und effizienter Weise einzuleiten.“ Wilson beschreibt, wie wir je nach Situation zwischen dem bewussten und dem unbewussten Denken hin- und herschalten. Wenn Sie sich entscheiden, eine Kollegin oder einen Kollegen zum Abendessen einzuladen, dann findet diese Entscheidung auf der bewussten Ebene statt.

Quelle: personal manager 1/2006