Als die Idee, oft sogar die Forderung an sich und andere, authentisch zu sein, Eingang in die Organisationen fand, wurden diese zu Orten der Verwirklichung von Ethik, Nachhaltigkeit, Wertschätzung und der Frage, wie vor allem Führungskräfte „eins mit sich“ sein können. Denken Sie nur an die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Chef/Chefin/Vorstand in Mitarbeiter-Surveys.  

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Foto von You X Ventures

Das ist berechtigt und zugleich eine Zumutung. Denn die Forderung, Leader sollten authentisch sein, blendet Konflikte zwischen Rolle und persönlicher Einstellung aus, die aber in der Praxis immer wieder auftreten. Warum wird jener CEO, der die neue Strategie auf der Bilanzpressekonferenz mit Enthusiasmus vermittelt, als unglaubwürdiger Verführer denunziert, nachdem intern bekannt wurde, dass er nach wie vor Zweifel hat, ob das wirklich der richtige Weg sei? Was hätten denn Analysten für Folgerungen gezogen und Journalisten geschrieben, wenn er ganz authentisch – mit gebrochener Stimme und Seufzern – angekündigt hätte, „Es ist uns einfach nichts Besseres eingefallen!“?

Wie authentisch uns eine Führungskraft erscheint, hängt letztendlich vor allem davon ab, ob uns ihre Ideen und Aussagen emotional berühren. Um es ganz klar zu sagen: Es geht darum, ob Vorgesetzte die Kunst der Rhetorik beherrschen. Doch wie authentisch eine Führungskräfte handelt, lässt sich von außen nur schwer beobachten.

Daher setzen wir an die Stelle dieser fragwürdigen Kategorie das Konzept einer „verantwortungsvollen, achtsamen Professionalität“. Ein Konzept, welches das (körperlich, geistig, seelische) „so geworden sein“ mit dem Sozialen, der Funktion und Rolle verbindet. Das öffnet den Raum für eine Inszenierung, bei der Kompetenzen, Skills, Repertoires, Einschätzungen, Gefühle, Erfahrungen, Hoffnungen, Taktiken, Werte interagieren können und in schlüssigen Handlungen ihren Ausdruck finden.

Das „Schlüssige“ ist nur dem Akteur zugänglich (außer er erzählt davon). Nur er weiß, was er im „Inneren“ abgewogen hat, welchem er stärker Gewicht und Stimme verliehen hat. Die anderen können nur beobachten und dem Beobachteten ihre Etiketten verleihen. (Wenn Ihren Führungshandlungen das Prädikat „authentisch“ verliehen wird, dann freuen Sie sich darüber.) Aber nur das Handeln auf Basis einer „verantwortungsvollen achtsamen Professionalität“  kann sicherstellen, dass Familien, Teams, Krankenhäuser, Theater, Regierungen, Kirchen, Banken, Fabriken funktionieren und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Erwartungen von Kindern,  Mitarbeiterinnen,  Kunden, Patienten, erfüllt werden.

Uns begeistert Professionalität im obigen Sinn und wie es gelingt, das Gesagte mit Handlungen in Übereinstimmung zu bringen. Wir plädieren dafür, auf die eingespielten Bewertungen  („authentisch“ = „die wahren/echten Gefühle/Gedanken zeigen“ versus „nicht authentisch“ = „täuschen/verbergen“)  zu verzichten. Wenn wir schon den Begriff des Authentischen erhalten möchten, bevorzugen wir, von „Professioneller Authentizität“ zu sprechen. Professionell authentisches Handeln bringt die eigene Befindlichkeit, die eigenen Überzeugungen und Zweifel im Kontext der eigenen Rolle, im Kontext der aktuellen Lage der Organisation und im Kontext der Gegenüber zum Ausdruck.

Das erfordert verantwortungsvolle Achtsamkeit. Diese könnte jene Angst beruhigen, die durch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Führenden und Geführten immer im Spiel ist: Worauf kann man sich bei den Forderungen, Versprechen und Aussagen des jeweils anderen wirklich verlassen? Es ist verständlich, dass wir nur dann vertrauen, wenn wir dem Verhalten von jenen, denen wir Autorität – das heißt nach wie vor Gefolgschaft – zugestehen, den Begriff von Authentizität zuschreiben können. Wir müssen hinter die Person, hinter die Maske (= persona) schauen können, damit wir bereit sind, deren Überzeugungen und Anweisungen zu folgen. 

Das Rollenspiel der Führung – angelegt als professionelle Authentizität – ist ein Spiel mit Paradoxien. Es verlangt, dass wir Variationen des Verhaltens einbauen, die Beobachter veranlassen, von Ehrlichkeit, Offenheit und Vertrauenswürdigkeit zu sprechen – in dem Wissen, dass wir über diese Einschätzungen keine Kontrolle haben. Dies schon deshalb, weil es genügend Situationen gibt, in denen Beobachter mit sehr unterschiedlichen Interessenslagen unsere „Auftritte“ bewerten.

Aber der entscheidende Clou, um Vertrauen gewinnen zu können – jenseits von Rhetorik und klugen Inszenierungen – liegt in der Bereitschaft, sichtbar zu werden, befragbar zu  sein, zuhören zu wollen, also in der Kommunikation.

Literaturtipp

ÜberLeben in der Gleichzeitigkeit: Leadership in der Organisation N.N. Von Susanne Ehmer, Hebert Schober-Ehmer, Doris Regele und Wolfgang Regele. Carl Auer Verlag 2016.