Essen im Dienste des Unternehmens?
Ein Unfall bei einem Arbeitsessen kann u.U. als Arbeitsunfall ausgewiesen werden: dies jedoch nur, wenn es von Anbeginn an – und vom ersten Bissen der hors d’oeuvres bis hin zum letzten Schluck Dessertwein – dezidiert als solches ausgewiesen ist (http://lexetius.com/2007,1722; BSG, Urteil vom 30. 1. 2007 – Az. B 2 U 8/06 R und Az. B 2 U 13/07 R). Die verschluckte Gräte infolge eines Essens zu wichtigen Vertragsverhandlungen bescherte einem Key Account Manager zwar erst in zweiter Instanz und unter Berufung auf die vorgenannten Urteile einen positiven Bescheid – doch:

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Ein Unfall bei einem Mittagessen, das man einnehmen muss, um für den weiteren Tagesverlauf leistungsfähig zu bleiben, erfüllt diesen Tatbestand nicht immer. Denn Pausen, egal ob bezahlt oder unbezahlt, wie beispielsweise die Raucherpause, die reguläre Mittagspause (auch der Gang in und durch die betriebseigene Kantine (siehe Az.: L 6 U 1735/12) oder die Toilettenpause, werden als „eigenwirtschaftliche Tätigkeiten“ bewertet – und sind folglich nicht über die Berufsgenossenschaft abgesichert.

Das musste schon ein Polizist schmerzhaft feststellen, der sich an einer Toilettentür den Finger einquetschte. Das Verwaltungsgericht München gab jedoch der Anerkennung als Dienstunfall nicht statt. Der Gang auf die Toilette ist geschützt. Betritt ein Arbeitnehmer jedoch die „heiligen Hallen“, ist der dortige Aufenthalt „vogelfrei“ – hier ist er Privatmensch – und ganz auf sich gestellt (siehe Az. M 12 K 13.1024); https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=VG%20Berlin&Datum=04.05.2016&Aktenzeichen=26%20K%2054.14). Ähnliches galt auch für die Frau, die eine Toilettentür ins Gesicht bekam (Az. L 3 U 323/01). Anders könnte es allerdings u.U. aussehen, wenn der Arbeitgeber seine Fürsorgepflichten verletzen würde, indem er Installationen in den Toilettenräumen vernachlässigt – und im Zuge dessen ein Unfall entstünde…

Dennoch wurde in den zwei folgenden Fällen anders entschieden:
1) Aktenzeichen VG 26 K 54.14: Eine Frau hatte sich in den Toilettenräumen an einem offenen Fensterflügel erheblich am Kopf verletzt. Hier entschied das Gericht, anders als im Fall des Polizisten, dass ein „Zusammenhang zwischen Unfall und Dienstausübung gegeben sei“; denn „ein Dienstunfall setze einen Körperschaden infolge eines plötzlichen Ereignisses in Ausübung oder infolge des Dienstes” voraus – und: “Der Unfall habe sich während der Dienstzeit am Dienstort ereignet.“ Zwar stellten die Richter fest, dass der Toilettengang an sich keine Tätigkeit im Rahmen dienstlicher Ausübung sei, doch die Toiletten “zum vom Dienstherrn unmittelbar beherrschbaren räumlichen Risikobereich” gehörten. Außerdem sei der Aufenthalt selber zwar von der gesetzl. Unfallversicherung ausgenommen, dies sei jedoch nicht auf das Beamtenrecht übertragbar… Das Urteil ist noch nicht abschließend und rechtskräftig. Das Gericht ließ Berufung zu.

2) Aktenzeichen: 6 U 1404/13, Sozialgericht Heilbronn: Ein Betriebsrat hatte sich im Anschluss an eine Betriebsratsversammlung bei einem Sturz verletzt. Die Berufsgenossenschaft lehnte den unter Alkoholeinfluss erlittenen Unfall als Arbeitsunfall ab, da er sich erst nach dem betrieblichen offiziellen Teil zugetragen habe. Das Gericht gab dem Kläger jedoch recht: Beim anschließenden geselligen Beisammensein wären auch dienstliche Angelegenheiten besprochen worden. Der Sturz ereignete sich außerdem auf einem „Arbeitsweg“ – dem Rückweg zum Hotelzimmer. Damit sei dieser unfallversichert, auch wenn der Kläger „nur private Gespräche“ nach dem offiziellen Programmteil geführt habe…

Ein kleiner Überblick von “sechs typische Situationen” und wie der Gesetzgeber sie regelt: (https://www.allianz.de/recht-und-eigentum/ratgeber/in-mittagspause-nicht-gesetzlich-unfallversichert/)

  1. Der Weg zur Kantine
    Der Weg zur Kantine ist gesetzlich unfallversichert. Der Versicherungsschutz endet bzw. beginnt mit dem Durchschreiten der Kantinentür.
  2. Aufenthalt in der Kantine
    Der Aufenthalt in der Kantine sowie Essen und Trinken sind grundsätzlich nicht versichert, egal ob Sie ausrutschen oder Ihnen eine Gräte im Hals stecken bleibt.
  3. Der Weg zum Essen außerhalb des Betriebsgeländes
    Sie kaufen sich was zum Essen, suchen eine Gaststätte oder Fremdkantine auf oder fahren zum Mittagessen nach Hause: Der Weg zur Nahrungsaufnahme ist grundsätzlich versichert. Allerdings schreibt der Gesetzgeber vor, dass der Zeitaufwand und die Wegstrecke in einem angemessenen Verhältnis zur Pausendauer stehen müssen.
  4. Der Aufenthalt zum Essen außerhalb des Betriebsgelände
    Wie bei der Betriebskantine endet auch hier der Versicherungsschutz an der Außentür der Gaststätte usw.
  5. Erledigung einer privaten Besorgung
    Wird das Betriebsgelände verlassen, um schnell einen privaten Einkauf zu tätigen,  besteht kein Versicherungsschutz.
  6. Sie machen einen Spaziergang um den Block
    Spaziergänge sind ebenfalls ohne Versicherungsschutz. Sie werden als rein „eigenwirtschaftliche Tätigkeit“ angesehen, auch wenn Sie danach mit klarem Kopf an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Die Urteile sind also allesamt sehr variabel – und nicht immer ad hoc nachvollziehbar und verständlich. Dennoch bleibt uns am Ende Gelegenheit zu einem kleinen philosophischen Ausblick:

Einen Großteil unserer Lebenszeit verbringen wir bei der Arbeit. Das heißt, die normalen lebenserhaltenen Äußerungen wie, Essen, Trinken und Toilettengänge, sind Teil dieser Zeit. Wie gesagt, wir sprechen hier von lebenserhaltenen Maßnahmen. Es gibt darüber hinaus auch Zeiten, in denen wir regenerieren müssen, in denen wir wieder Kraft sammeln für das nächste Meeting, die nächste Berechnung, die anstehende Reparatur o.ä… Zeiten, die für Betriebswirtschaftler als „Leerlauf“ gelten, die jedoch zu innerem Abstand – und damit zu mehr Innovationen und Kreativität führen könnten.

Dennoch sind sie von der offiziellen Arbeitszeit ausgenommen, beziehungsweise stark zweckdefiniert und differenziert: als Nahrungsaufnahme (diente die Nahrungsaufnahme der Stärkung für Betriebszwecke, zum Privatvergnügen (Eis-Essen), zu der unausweichlichen Tätigkeit aus Dienstpflicht?) – oder als Gang zur Nahrungsaufnahme (Gang durch die Kantine, Einkaufen für das Essen im Büro? etc.). Auch das „Zählen von Toilettenpausen“ wurde schon mehrfach bewertet – und abgewiesen: Auf der einen Seite ist das auch absolut richtig.

Denn Internisten wie Richter sind sich einig: Vorschriften im Hinblick auf „wie oft und wie lange“ sind in keinster Weise vorschreibbar – und auf Dauer für alle Beteiligten ungesund (z.B. ArbG Köln, 21.01.2010, 6 Ca 3846 / 09). Auf der anderen Seite besteht natürlich potenziell das „Missbrauchspotenzial“, Mittagspausen länger hinauszuziehen oder Rauchpausenzeiten zu “addieren”. Doch einmal ehrlich: Die meisten Mitarbeiter sind ehrlich – arbeiten bis in ihre häufig vertraglich „abgegoltenen“ Überstunden hinein und machen Pausen mit angemessener Leistung wett. Da jedoch Begriffe und Konzepte wie das „mobile Office”, das “Office 4.0”, das “digitale Zeitalter” und die “Wissensökonomie” in der heutigen Wirtschaft nun doch immer mehr Raum einnehmen – und nach neuen Konzepten und mehr Toleranz verlangen –  jenseits von „nine to five“-schreibtischbezogener Arbeit – müssen wir uns in der Einzelbetrachtung der Fälle dann nicht noch ein mehr anstrengen – und ggf. auch dazulernen?

Intelligenz- und Kreativforschung – ein Plädoyer für mehr Gelassenheit am Arbeitsplatz
Körpersprache-Experten, Bewegungsforscher und Wissenschaftler zur Intelligenzforschung arbeiten daran, wie Menschen kreativer, effektiver und gesünder arbeiten können, wo und wie Kommunikation am einfachsten funktioniert – und wie das den Unternehmen langfristig nützt. Große moderne Konzerne wie Google oder Microsoft, Apple & Co. setzen es um: Lange Tische in den Kantinen für gemeinschaftliches Mittagessen, Kreativ-, Ruhe-, Spiel- und Sportbereiche, Sitzecken unterschiedlichster Größe und Gestaltung, von raffiniert, kreativ bis kuschelig – alles dies ist in modernen Unternehmen, die sich als “Denkfabrik” verstehen, „all inklusive“.

„Trotz“ weicher Kissen – knallharte Leistungserfüllung
Die Angestellten werden dort schon bei der Einstellung auf Herz und Nieren geprüft, „Passen sie zu unserem Stil?“. Doch dann haben sie ausgesprochen viele Freiheiten – und bleiben tatsächlich oft über den „klassischen Feierabend“ hinaus im Betrieb, wenn sie das Thema fasziniert und das Projekt es erfordert. Das in sie gesetzte Vertrauen und die in sie „investierte Gemütlichkeit“ wird nicht missbraucht, im Gegenteil. Investitionen in ihre Mitarbeiter zahlen sich langfristig für diese Unternehmen aus.

Sitzecken, Mittagstische, Sportbereiche dienen in diesen Unternehmen als bewusste Investitionen, nicht, um die Mitarbeiter „zu verwöhnen“, sondern um ihre Lebensgeister frisch, innovativ und einsatzfähig zu machen – und zu halten. Aus dem Urteil mit dem „verunfallten Betriebsrat“ wird deutlich: „Dienstgespräche“ finden an allen möglichen – und unmöglichen Orten statt. Und manch einer hat die besten Teamgespräche schon zwischen Kaffeemaschine und Mittagsmüsli gemacht – und die eine oder andere Idee kam schon einmal beim Nachdenken in aller Ruhe: auf dem „stillen Örtchen“.

Investitionen in Toleranz und Arbeitssicherheit beste „Unfall- und Prozessversicherung“
Dies ist damit natürlich auf keinen Fall ein Plädoyer, die Erkenntnis, dass der stille Ort ein Raum für Privatsphäre sei, vollkommen zu revidieren. Im Gegenteil.
Doch die unterschiedliche Bewertung der Rechtslagen zeigt nur allzu deutlich, dass
1. immer wieder nur die individuelle Ausgangslage entscheidend sein kann,
2. es nie Pauschalurteile geben kann und darf,
3. man Raum lassen sollte für neue Erkenntnisse und Innovationen im Bereich der Beurteilung betrieblicher Zusammenarbeit – und berufsgenossenschaftlicher Haftung – denn:

Die menschliche Natur- und Arbeitswelt wird nie aufhören, skurrile Begebenheiten zu produzieren – mit denen sich dann die Arbeitsgerichte befassen müssen. Bei Unfällen hört natürlich der Spaß auf. Doch Investitionen in die Arbeitssicherheit – wie auch in flexibles Denken, Toleranz und eine gute Portion Humor– könnten im Vorfeld vielleicht die ein oder eine Verhandlung verhindern – zumindest entschärfen.

siehe:
http://www.ihrarbeitsrecht.de/501/arbeitsunfall-beim-abendessen-oder-es-gibt-einfach-nichts-was-es-nicht-gibt/
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BSG&Datum=30.01.2007&Aktenzeichen=B%202%20U%208%2F06%20R
http://www.spiegel.de/karriere/unfall-auf-toilette-im-buero-gilt-als-dienstunfall-fuer-beamte-a-1094100.html
https://www.allianz.de/recht-und-eigentum/ratgeber/in-mittagspause-nicht-gesetzlich-unfallversichert/
http://www.kanzlei-hasselbach.de/2015/unversicherte-arbeitsunfaelle-in-der-mittagspause/06/
http://rechtsanwaeltin-peer-mannheim.jimdo.com/anspr%C3%BCche-aus-arbeitsunf%C3%A4llen-gegen-die-berufsgenossenschaft/
http://www.anhaltspunkte.de/zeitung/urteile/S_1_U_95.03.htm
http://www.bund-verlag.de/shop/out/media/6166-0_SozR-ArbN_SGB_VII.pdf
http://www.kanzlei-hasselbach.de/2016/gehoeren-toilettenpausen-zur-arbeitszeit/08/
http://www.dgb.de/themen/++co++15bf0254-32e2-11e6-92fc-525400e5a74a