Prof. Dr. Michael Kerres, Professor für Mediendidaktik und Wissenmanagement, gehört zu den Pionieren des E-Learning im deutschsprachigen Raum und gründete in Furtwangen Mitte der 1990er Jahre die «tele-akademie».
Prof. Dr. Michael Kerres ist Inhaber des Lehrstuhls für Mediendidaktik und Wissensmanagement und Leiter des Learning Labs der Universität Duisburg-Essen. Nach Studium und Promotion in Psychologie an der Ruhr-Universität in Bochum erhielt er 1989 seinen ersten Ruf auf eine Professur für Mediendidaktik und Medienpsychologie der Hochschule Furtwangen. Dort baute er gemeinsam mit Kollegen den – erstmals in Deutschland angebotenen – Studiengang Medieninformatik auf. 1994 begründete er die Teleakademie, deren Kursprogramm das Internet konsequent für offene, wissenschaftliche Weiterbildung nutzte. Nach Habilitation an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg 1998 wechselte er an die Ruhr-Universität Bochum auf eine Professur für Pädagogische Psychologie. 2001 folgte die Arbeitsgruppe dem Ruf der Universität Duisburg-Essen, um das Learning Lab mit den Online-Studienprogrammen «Educational Media» und «Educational Leadership» aufzubauen.
Herr Prof. Dr. Kerres, was ist für Sie «Learning Innovation» oder anders gefragt: Innovation im Bereich Lernen?
Auf jeden Fall: mehr als digitale Technik in der Bildung. Es geht für mich dabei um die Frage, neue Wege für die Bildungsarbeit angesichts grosser gesellschaftlicher Veränderungen zu beschreiten – und dann um die Frage, wie digitale Technik dazu beitragen kann, diese neuen Wege noch besser und effizienter zu gestalten. Die Vielfalt der Möglichkeiten der digitalen Technik sind immer weiter gewachsen und auch die Erkenntnisse, was wir mit digitaler Technik in der Bildung erreichen können. Dabei wird mit jeder Welle neuer technischer Entwicklungen immer angenommen, nun über ein Werkzeug zu verfügen, mit dem sich die Bildung gänzlich neu denken lässt, es werden Revolutionen versprochen und am liebsten natürlich Disruption 🙂
Haben Sie ein Beispiel für eine Firma, eine Organisation oder eine Bildungsinstitution, die solche neuen Wege vorbildhaft beschreitet und wenn ja, in welcher Weise?
Nun, wir arbeiten am Learning Lab weniger mit einzelnen Einrichtungen, sondern zum Beispiel mit dem Deutschen Volkshochschulverband in der Frage, wie man Volkshochschulen in der digitalen Transformation unterstützen kann. Mittlerweile, so scheint mir, wird von vielen Trägern erkannt, dass es dieser Prozess doch komplexer ist als zunächst gedacht. Zunächst geht man oft davon aus, dass man z. B. eine Lernplattform braucht und dann die Dozierenden schult. Doch dann merken die Einrichtungen, dass die Veränderungen tiefgreifender sind. Hier kommen dann unsere Mediencoaches ins Spiel, die wir für den Volkshochschulverband ausbilden, und dann die einzelnen Einrichtungen beraten können. Im Schulsektor arbeiten wir momentan recht erfolgreich mit Ansätzen der Vernetzung: Schulen einer Region bringen wir zu Schulnetzwerken zusammen, die sich gemeinsam auf den Weg der digitalen Schulentwicklung machen wollen. Wir bzw. unsere ausgebildeten Medienberater/innen begleiten dann diese Prozesse, bei denen die Schulen in der Zusammenarbeit ihr eigenes Profil der Digitalisierung herausarbeiten. Die Kooperation der Schulen dient hier dazu, das Eigene auch in der Differenz zu den anderen Schulen zu spiegeln – und natürlich auch sich über Erfahrungen auszutauschen. Gute Beispiele wären dies aus meiner Sicht, weil sie das Prozesshafte betonen, weil sie nicht von der «einen besten Musterlösung» ausgehen, sondern weil sie erkennen, sie müssen für sich die beste, eigene Lösung finden, sie erkennen, dass dies mit Veränderungen der Kultur, der Organisation und mit Prozessen zu tun hat und sie holen sich externe Hilfe, auch in der Vernetzung mit «peers».
Dieser prozesshafte Ansatz gefällt mir. Gibt es für diese guten Ansätze auch eine Art «Marktplatz» oder eine andere Form der Dokumentation und des Austausches?
Sie haben Recht: Das sollte es eigentlich geben, damit solches Wissen weitergegeben werden kann. Zumindest erfassen wir in einem aktuellen Forschungsprojekt Gelingens-Bedingungen der digitalen Schulentwicklung, das heisst welche Faktoren begünstigen die Integration der digitalen Medien in den Schulbetrieb.
Was sind für Sie Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?
Der Blick hat sich immer mehr geweitet und wir erkennen heute mehr als zuvor, dass die Digitalisierung die Organisationen als Ganzes betrifft. Und deswegen rücken Fragen des Change Management, der Unternehmensstrategie und der Entwicklungsarbeit in den Vordergrund.
Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?
Der Fehler beginnt dann, wenn wir davon sprechen Betriebe «müssen» etwas umsetzen. Die Digitalisierung eröffnet enorm viele Optionen. Und keiner weiss vorweg, welche die richtigen sind. Auch hier benötigen wir wieder einen prozesshaften Blick, ein Ausprobieren und eine selbstkritische Evaluation, was wir schaffen oder nicht schaffen.
Ausprobieren ist ja nicht gerade eine Stärke des DACH-Raumes. Da möchte man lieber planen, sicherstellen und ausführen. Stellen Sie da eine Veränderung in den Betrieben fest hin zu mehr Lust am Ausloten, Austesten und auch Scheitern?
Ehrlich gesagt: die Tendenz bleibt, die Dinge erst mal «grundsätzlich» zu diskutieren, erst mal einen Plan zu machen usw., bevor man in Piloten oder Projekten etwas ausprobiert. Die Lust, mal etwas anderes auszuprobieren, ist erstaunlich gering, in meiner Erfahrung.
Was fordert Sie aktuell heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?
Mich beschäftigt besonders die Frage, wie Bildungsforschung im Kontext der Digitalisierung sich weiterentwickeln kann, d. h. wie können wir die Dynamik der Veränderungen adäquat erfassen. Und wie können wir Formate des Dialogs von Bildungsforschung und Bildungspraxis voranbringen, um beide Seite nutzbringend gewinnen zu lassen. Im Auftrag des deutschen Wiss. Ministeriums leiten wir einen Forschungsverbund mit verschiedenen Leibniz-Instituten, das dieser Frage grundsätzlich, aber auch ganz konkret in der Unterstützung von geförderten Digitalisierungsprojekten nachgeht. In diesem sog. Metavorhaben ist die Herausforderung, wie Bildungsforschung anzulegen ist, die sowohl die scientific community als auch die Bildungspraxis angemessen adressiert. Dieses Problem ist einerseits essentiell und lässt sich «auflösen», aber es können Wege erarbeitet werden, mit diesem Problem «methodisch» umzugehen.
Es geht also um eine praxisorientierte Bildungsforschung, die Bildungsinstitutionen und Unternehmen konkrete Handlungsempfehlungen und methodische Anleitungen an die Hand gibt, wie Lernen in einer digitalen Welt gestaltet werden kann?
Ja, aber gleichermassen ist einzulösen die Forderung der Bildungsforschung nach grundsätzlichen Erkenntnissen über das Lernen in der digitalen Welt, die über das konkrete Beispiel, die konkrete Lösung in einem Unternehmen hinausgeht.
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kerres, vielen Dank für Ihre Ausführungen.
Prof. Dr. Michael Kerres, Keynote Swiss eLearning Conference 2017
Interview: Daniel Stoller-Schai
Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.
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