man standing in front of people sitting beside table with laptop computers
Foto von Campaign Creators
Der Begriff E-Learning kam in den 1990er-Jahren auf und seitdem ist eine Menge passiert. Welche Entwicklungen haben Sie am meisten überrascht?

Tatsächlich ist viel passiert und die Weiterentwicklungen gehen ungebremst voran. Produktentwickler und Pädagogen haben in den vergangenen Jahren viel dazugelernt. Überrascht hat mich, dass im Grunde recht simple Technologien im Stande waren, Impulse für eine Umwälzung des gesamten Bildungswesens zu setzen.

An welche Technologien und Umwälzungen denken Sie da?

Ich denke an die ersten E-Learning-Anwendungen. Vor rund zehn Jahren waren Serious Games und Webinare ja noch kein Thema. Die Lernplattform stand im Vordergrund. Typisch waren Lernmanagementsysteme, mit denen die User Inhalte verwalten, einstellen und abrufen konnten. Das war keine technologische Sensation, aber diese Systeme haben viel ausgelöst – insbesondere im schulischen Bereich und im Hochschulwesen. Dort entstanden viele interessante Projekte, zum Beispiel Notebook-Klassen, in denen die zeitliche Taktung des Unterrichts aufgelöst wird und die Schüler selbstständig mit Notebooks und Internet lernen. Oder auch Clusterschulen und das Forum für Neue Medien der Universitäten, die sich zu Netzwerken zusammengeschlossen haben, um E-Learning voranzubringen. Weder Lernplattformen noch Notebooks wären nötig, um Unterrichtsstrukturen zu verändern oder Netzerke zu bilden, aber das Engagement für E-Learning hat viel in Bewegung gesetzt.

In den Unternehmen sehen Sie solche Entwicklungen noch nicht?

Die Universitäten und der schulische Bereich waren im deutschsprachigen Raum Vorreiter. Das ist nicht notwendigerweise so. Bei den ersten wirklich großen E-Learning-Konferenzen in den USA, die um das Jahr 2000 herum stattfanden, war der Fokus gleich auf dem Thema Corporate E-Learning. Das Zugpferd war der versprochene Return-on-Invest, der sich allerdings zum Leidwesen vieler Unternehmen nicht so recht einstellen wollte.

Warum hinken die Unternehmen aus Ihrer Sicht beim Thema E-Learning hinterher?

Oft fehlen am Arbeitsplatz einfach die Rahmenbedingungen, insbesondere bei KMUs. Informationsdefizite der Beteiligten, sowohl seitens der Entscheider und Arbeitgeber als auch seitens der Mitarbeiter, spielen noch immer eine wesentliche Rolle. Wo Lehren und Lernen inhärent beheimatet ist, findet E-Learning von selbst Einzug, anderswo ist zunächst Akzeptanzmanagement und Einflussnahme auf die Unternehmenslernkultur erforderlich, um die Früchte ernten zu können.

Was sind aktuell die spannendsten Trends im E-Learning?

Es gibt technologisch und gesellschaftlich bedingte Trends. Die gesellschaftlich Bedingten sind interessanterweise teilweise gegenläufig. Es gibt einen Trend zum informellen Lernen und gleichzeitig einen in Richtung Zertifizierung. Experimentelle und spielerische Szenarien sind zunehmend gefragt, aber zugleich wird die Messbarkeit des Lernerfolges immer wichtiger. Wir wollen das Lernen individualisieren, aber auch formalisieren, zum Beispiel im Zuge des Bolognaprozesses. Der Ökonomisierung des Lernprozesses steht die Forderung nach einem Lernen „immer und überall“ entgegen. Die Liste der Gegensätze ließe sich fortsetzen.

Zielen die technologisch bedingten Trends eindeutiger in eine Richtung?

Auf der technologischen Seite sehe ich mehrere Entwicklungen. Mobile Endgeräte wie Handys oder Laptops und das soeben vorgestellte iPad gewinnen an Bedeutung, denn sie sorgen dafür, dass Lernumgebungen ständig verfügbar sind. Parallel dazu erobern Videos, Serious Games (Lernspiele) und Social Software wie Wikis oder soziale Netzwerke wie Xing ihren Platz in der Bildungs- und Arbeitswelt. Seit einigen Jahren werden semantische Anwendungen diskutiert, also Anwendungen, die Bedeutungen erkennen und näherungsweise in Richtung der bislang noch vergeblich herbei geschworenen künstlichen Intelligenz vordringen. In der betrieblichen Weiterbildungspraxis sind sie aber noch nicht angekommen. Es gibt zwar bereits semantische Anwendungen, zum Beispiel Empfehlungs-Systeme, Ähnlichkeitssuche und Expertensysteme, die bestimmten Usergruppen automatisch passende Informationen bereit stellen, die Entfaltung dieser Systeme steht aber noch aus.

Lassen Sie uns einige Technologien näher beleuchten. Welche Möglichkeiten bietet das Web 2.0 aus Ihrer Sicht für die Aus- und Weiterbildung in Unternehmen?

Web 2.0-Instrumente stellen eine qualitative Erweiterung der Vernetzungs- und Informationsmöglichkeiten dar und lassen sich zur Verbesserung der internen Kommunikation oder der Kundenbeziehungen und natürlich zum Wissenserwerb einsetzen. Zum Web 2.0 gehören beispielsweise Podcasts, das sind Audio- oder Videodateien, oder Slideshare, also Anwendungen, die das gemeinsame Betrachten von Folien im Internet ermöglichen. Unternehmen können Informationshappen über Twitter oder YouTube verbreiten und die Zusammenarbeit über Wikis oder so genannte CmapTools fördern. Letztere erlauben es den Usern, Inhalte und Konzepte grafisch darzustellen. Hinzu kommen Blogs, die den individualisierten Austausch zwischen Mitarbeitern anregen können, oder E-Portfolios, die Kompetenzen von Mitarbeitern abbilden. Die plakative Beschreibung lautet: Web 2.0 = Mitmachweb. Ob Unternehmen nun den potenziellen Mehrwert dieser Instrumente nutzen, hängt von der Firmenkultur ab.

Einige Weiterbildungsexperten gehen davon aus, dass Lernen besonders effektiv ist, wenn es informell am Arbeitsplatz stattfindet. Stimmen Sie zu?

Informelles Lernen macht heute in vielen Bereichen schon bis zu 80 Prozent unseres Wissenserwerbes aus. Nach Jay Cross, einem E-Learning-Proponenten der frühen Stunde, müssen sich Unternehmen tatsächlich die Frage stellen, warum sie 80 Prozent des Weiterbildungsbudgets für formale Bildung und nur 20 Prozent davon für informelles Lernen ausgegeben, wenn sich der Wissenserwerbsertrag genau umgekehrt verhält. Demzufolge beschäftigen sich viele Bildungswissenschafter und einige Arbeitgeber schon damit, wie sie informell erworbene Kompetenzen formal anerkennen können. Bei Personalverantwortlichen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass klassische Weiterbildungen nicht ausreichen, um nachhaltige Lernprozesse anzustoßen.

Welche Tools können informelle Lernprozesse besonders gut unterstützen?

Informelles Lernen entsteht aus einem persönlichen Interesse, das Arbeits- beziehungsweise Handlungserfordernissen entspringt. Damit informelles Lernen stattfinden kann, müssen Rahmenbedingungen gegeben sein, die Kommunikation, Kooperation und Vernetzung unterstützen. Hier können Web-2.0-Tools hilfreich sein. Zum Beispiel die eben erwähnten E-Portfolios, die ein großes Potenzial haben. E-Portfolios sind Archive, die Informationen und Daten über die Bildungsentwicklung einer Person sammeln, beispielsweise Bildungsabschlüsse, Erfahrungen aus Projekten oder Konferenzen sowie Reflexionen aus allen Lebenslagen. So können die Mitarbeiter in den E-Portfolios auch jene Kompetenzen darstellen, die sie informell erwerben. Diese Tools unterstützen in erster Linie den Entwicklungsprozess des Individuums, indem sie helfen, Kompetenzen bewusst zumachen. In der Folge können Arbeitgeber dann das Kompetenzbudget für das Unternehmen identifizieren und nutzbar machen.

Wie verbreitet sind E-Portfolios?

In Unternehmen sind E-Portfolios, anders als im Bildungswesen, bislang so gut wie unbekannt. Das hat eine Studie ergeben, die wir im Vorjahr durchgeführt haben. Ausnahmen sind die Niederlande, Großbritannien und die USA, in denen es einige Leuchtturmprojekte gibt. Das Land Wales hat beispielsweise seinen Einwohnern unter dem Stichwort „Careers Wales“ E-Portfolios angeboten, um sie in ihrer beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Auch der Bundesstaat Minnesota in den USA stellt der gesamten Bevölkerung die so genannten „eFolioMinnesota“ zur Verfügung. Die Nutzerzahlen liegen jeweils in der Größenordnung von Hunderttausend. Zurzeit gibt es bereits zahlreiche E-Portfolio-Systeme, darunter eine Open-Source-Lösung namens „Mahara“ (www.mahara.at).

Ganz andere Anwendungen verbergen sich hinter dem Begriff „Microlearning“. Welches Potenzial hat diese Lernform für die berufliche Weiterbildung?

Microlearning steht für ein Lernen, das sich auf kleine „Info-Häppchen“ konzentriert. Charakteristisch ist die kurze Verweildauer im Lernprozess. Der Lernende beschäftigt sich wenigen Sekunden oder Minuten mit einer Frage, reagiert darauf und erhält sofort eine Erfolgskontrolle. Typische Formate sind Multiple-Choice-Fragen, Quizzes, Twittereinträge, Podcasts oder Videoclips, die über Web, E-Mail oder SMS übermittelt werden. Diese Lernformate haben durchaus ihre Berechtigung, aber auch ihre Begrenzungen.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Microlearning kann Sie beispielsweise beim Lernen für den Führerschein unterstützen: Auf Ihrem Handy erscheint dann ein Verkehrszeichen. Sie müssen eintippen, was dieses Zeichen bedeutet und ihre Antwort wird sofort überprüft. Weniger hilfreich ist Microlearning allerdings, wenn es darum geht, komplexe Verkehrssituationen zu entwirren oder Fahrpraxis aufzubauen.

Das spricht wiederum für traditionelle Präsenz-Lernformen. Welche Vorteile haben sie gegenüber E-Learning?

Es gibt Lernziele, die sich mit E-Learning nur durch einen ungleich höheren Aufwand erreichen lassen. Dazu gehört nicht unbedingt der Aufbau von Soft-Skills, obwohl das häufig als Beispiel genannt wird. Denn es gibt sehr gute E-Learning-Programme, die soziale Kompetenzen wie das Verhalten in Konflikten schulen. Dennoch lassen sich die Grenzen von E-Learning am Beispiel des Konflikttrainings zeigen: Wenn Unternehmen ein aufwändiges Lernprogramm zum Thema Konfliktmanagement entwickeln lassen, ist das unter Umständen kostenintensiver als eine Präsenzveranstaltung – es sei denn, der Arbeitgeber schult mit dem Programm gleichzeitig eine sehr hohe Anzahl von Mitarbeitern. Aber das ist nicht immer der Fall. Hinzu kommt, dass Trainer in Seminaren spontaner auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen können. Wenn es also um die Vermittlung von komplexen, aktuellen und teilnehmergetriebenen Inhalten geht, sind dem Medium E-Learning Grenzen gesetzt.

Das heißt, Unternehmen müssen genau hinschauen, für welche Weiterbildungsanlässe sie E-Learning einsetzen?

Ja, wenn sie zum Beispiel Präsenzlehre ohne organisatorische, didaktische und inhaltliche Veränderungen in E-Learning umsetzen, geht Qualität verloren. Ganz davon abgesehen stößt E-Learning auch heute noch oft an technologische Grenzen, weil Breitbandanbindungen ans Internet fehlen oder Kompetenzen im Umgang mit Informationstechnologien. Weitere Hürden sind Datenschutz und Urheberrechtsfragen. Auch ein vermeintlicher Vorteil von E-Learning, die Zeit- und Ortsunabhängigkeit, kann durchaus zum Nachteil mutieren, nämlich dann, wenn die Lernenden ohne die Verbindlichkeit einer Präsenzveranstaltung weder Zeit noch Lust zum Lernen aufbringen.

Wie lässt sich dieses Problem lösen?

Unternehmen können bestimmte E-Learning-Angebote in das obligatorische Pflichtprogramm der betrieblichen Weiterbildung aufnehmen. Möglich sind auch Belohnungssysteme in Form von sozialer Anerkennung oder Kompensationsleistungen, zum Beispiel Ausgleichsstunden. In einigen Unternehmen ist es allerdings erst einmal notwendig, vorhandene Lernhürden abzubauen. Denn zuweilen dürfen die Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeiten gar nicht auf die Unternehmenssoftware und damit auf Lernprogramme zurückgreifen. Damit torpedieren die Arbeitgeber freilich die Hauptvorteile von E-Learning, die Unabhängigkeit von Ort und Zeit. Der entscheidende Faktor scheint mir allerdings die Beseitigung der Informationsdefizite zu sein und damit einhergehend eine strategisch fundierte Vorgangsweise bei der Implementierung von E-Learning.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager