Dass unser Leben dynamischer und unüberschaubarer wird und unsere Prognosen immer kürzer greifen, gehört inzwischen zu den Alltagserfahrungen der meisten Menschen. Die persönlichen und arbeitsbezogenen Verflechtungen nehmen zu, wir leben in komplexen Netzwerken. Zugleich steigen Zahl und Tempo der Innovationen. Das bemerken wir nicht nur beim Handy-, Computer- oder Autokauf, sondern auch dann, wenn die Zahl der Insolvenzen erneut zunimmt, weil Betriebe beim mörderischen Innovationstempo nicht mehr mithalten können. Der Umgang mit einer immer weniger voraussagbaren und komplexen Zukunft erfordert neu zu entdeckende Fähigkeiten – also Kompetenzen.

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Foto von Van Tay Media

Nehmen wir das Beispiel einer kleinen Multimediafirma, die einen Auftrag erhält. Sie soll innerhalb von sechs Wochen einen Internetauftritt gestalten. Besondere Vorstellungen hat der Kunde nicht: „Das überlasse ich ganz Ihrer Kreativität.“ Der Prozess, der nun im Team einsetzt, kann mit keinem besseren Begriff als dem der Selbstorganisation bezeichnet werden: Vage der Weg, vage das Ziel, einzig verlässlich sind die Fähigkeiten der Mitarbeiter, einen innovativen Weg zu finden.

Natürlich benötigen die Mitarbeiter auch viele fachliche Qualifikationen, denn sie müssen die neuesten technischen und künstlerischen Möglichkeiten kennen. Vor allem aber benötigen sie Selbstorganisationsfähigkeiten, beispielsweise persönliche Glaubwürdigkeit und Eigenverantwortung, Mobilität und Initiative, Planungs- und Marktkenntnis, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit. Diese Fähigkeiten, sich selbst zu organisieren, nennt man Kompetenzen.

Kompetenzen sind mit Qualifikationen keineswegs gleichzusetzen. Der Begriff Qualifikationen umfasst Wissen und Fertigkeiten, die wir in Prüfungen mechanisch abrufen können. Es gibt keine Kompetenzen ohne Qualifikationen, aber sehr wohl Qualifikationen ohne Kompetenzen. Wir alle kennen hoch qualifizierte Inkompetente. „Hochintelligente Kritische sind meist unkreativ“, lautete beispielsweise eine der wichtigsten Einsichten aus der Kreativitätsforschung der 70er Jahre.

Stellt der Chef einer Multimediafirma neue Mitarbeiter ein, wird er natürlich zunächst nach ihren Zeugnissen, Abschlüssen und Qualifikationen fragen. Was er aber eigentlich wissen möchte und muss, ist: Haben sie die Kompetenzen, unter den Bedingungen schnell wechselnder Arbeitsaufgaben und -ziele erfolgreich zu bestehen? Werden sie unerwartete Herausforderungen bewältigen?

Diese Fragen stellen sich immer mehr Unternehmen. Der Gewinn kompetenter Mitarbeiter wird zur Existenzfrage. Führende amerikanische Ökonomen des „Council of Competitiveness“ prognostizieren, dass die Entwicklung der Kompetenzen von Arbeitnehmern zum wichtigsten Wettbewerbsfaktor der nächsten Dekade wird, und sagen voraus: Der Konkurrenzkampf der Zukunft wird zunehmend als Kompetenzkampf geführt werden.

Entscheidend sind dabei die Kompetenzen der Mitarbeiter – und der gesamten Organisation. Denn ebenso wie die Beschäftigten in selbstorganisierten Teams arbeiten, agieren die Unternehmen selbstorganisiert am Markt. Auch Unternehmen verfügen über personale Kompetenzen, die sich in ihrer Unternehmenskultur zeigen, oder über aktivitätsbezogene Kompetenzen, die sich in ihrem Produktions- und Verkaufsverhalten spiegeln. Sie haben bestimmte Fach- und Methodenkompetenzen bezogen auf Produkte und Organisationsstrukturen und verfügen über sozial-kommunikative Kompetenzen im Marketing und der Kundenkommunikation.

Ihren Marktwert können Unternehmen zunehmend über das Humankapital bestimmen, in das die Kompetenzen der einzelnen Mitarbeiter einfließen. Wie Mitarbeiterkompetenzen und Humankapital genau zusammenhängen, ist jedoch bislang noch weitgehend unerforscht. Hochkompetente Unternehmen wie McDonalds benötigen beispielsweise nicht unbedingt hochkompetente Mitarbeiter. Andererseits ergeben Anhäufungen hochkompetenter Mitarbeiter nicht automatisch kompetente Organisationen, wie einige Universitäten beweisen.

Ebenso wie Mitarbeiter und Unternehmen handeln auch Regionen und Länder im nationalen wie internationalen Maßstab selbstorganisiert und verfügen über spezifische regionale Kompetenzen. Sie haben ihr eigenes Gesicht (personale Kompetenzen), sind mehr oder weniger aktiv und rührig (aktivitätsbezogene Kompetenzen), konzentrieren in ihren Unternehmen und Organisationen eine Fülle von Erfahrungen (fachlich-methodische Kompetenzen) und unterhalten Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen nach innen und außen (sozialkommunikative Beziehungen).

Mitarbeiter, Unternehmen und Regionen müssen sich einem Konkurrenzkampf um Kompetenz stellen, den sie nur mit Hilfe eines professionellen Kompetenzmanagements gewinnen können. Das Beschreiben, Messen und Fördern von Kompetenzen gehört deshalb – jetzt und in Zukunft – zu den Kernaufgaben des Personalmanagements. Kompetenzen sind der entscheidende Teil des Humankapitals. Dieses müssen börsennotierte Unternehmen seit Anfang des Jahres in ihrer Bilanz ausweisen. Ihr Kompetenzkapital können die Organisationen jedoch nur bestimmen, wenn sie in der Lage sind, die darin eingehenden Mitarbeiterkompetenzen zu messen.

Kompetenzen messen

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung zahlreiche Methoden entwickelt, Kompetenzen zu messen (siehe Literaturtipps). Neben quantitativen Messungen (zum Beispiel Kompetenztests) entstanden qualitative Charakterisierungen (Kompetenzpässe), komparative Beschreibungen (Kompetenzbiografien), simulative Analysen (Flugsimulatoren) und observative Zugänge (Arbeitsproben). All diese Methoden können in einem erweiterten Sinne als Messverfahren bezeichnet werden und haben ihren eigenen Stellenwert.

Unterscheidet man mit Heinz Schuler zwischen

  • subjektzentrierter Eigenschaftsdiagnostik (Welche Eigenschaften hat die Person?),
  • handlungszentrierter Verhaltensdiagnostik (Was tut die Person?) und
  • resultatzentrierter Ergebnisdiagnostik (Welche Leistungen erbringt die Person?),

und bezieht dies auf die Ergebnisse selbstorganisierter Handlungen, so zeigt sich die gesamte Bandbreite möglicher Verfahren der Kompetenzmessung.

Schon jetzt werden viele Verfahren in Assessments, Eignungs- und Einstellungsprüfungen, Karriereberatungen und Personaluntersuchungen erfolgreich eingesetzt.

Darunter sind Verfahren, die …

  • Einzelkompetenzen (insbesondere Basiskompetenzen) oder bestimmte Kompetenzkombinationen erfassen.
  • ganzheitliche und qualitativ-beschreibende Kompetenzbilanzen erstellen.
  • übergreifende Kompetenzgitter etablieren.
  • Kompetenzerfassung zu kommerziellen Instrumenten auf- und ausgebaut haben.

Natürlich gibt es viele Überlappungen zwischen diesen Gruppen. Eine sehr praxisnahe Methode ist die der Kompetenzbilanzen. Dabei analysiert der Mitarbeiter mit Hilfe eines Coachs seine eigenen Kompetenzen anhand gezielter Fragen zur Erwerbsbiografie. Die Ergebnisse fließen in einen Bericht, der den Personalverantwortlichen Argumente für ihre Personalentscheidungen an die Hand gibt. Kompetenzbilanzen sind auch für Laien ohne testtheoretisches Vorwissen lesbar und können somit verhältnismäßig leicht – alle Notwendigkeiten des Datenschutzes wahrend – in die betriebliche Praxis eingeführt werden.

Sie berücksichtigen gleichermaßen den formellen, nonformellen und informellen Erwerb von Kompetenzen und erhöhen damit die Chancengerechtigkeit von Bewerbern. Zudem liefern sie konkrete Hinweise darauf, wie der Arbeitgeber Kompetenzdefizite einzelner Mitarbeiter mit Training on the Job oder Weiterbildungen abbauen kann. Kompetenzbilanzen verursachen einen relativ geringen Zeitaufwand. Zwar ist ein Kurztest auf den ersten Blick ökonomischer. Er wird jedoch dem komplexen Phänomen Kompetenz weitaus weniger gerecht und liefert eine unpräzisere Basis für die Personalauswahl oder -entwicklung.

In anderen europäischen Ländern hat sich die Methode längst durchgesetzt. In Frankreich, der Schweiz, Dänemark und Norwegen wird sie – teils staatlich gefördert, teils privatwirtschaftlich organisiert – bereits gewinnbringend genutzt.

Studie zeigt Defizite im Kompetenzmanagement

Für moderne Unternehmen wird das Erkennen, Verstehen, Messen und Managen von Kompetenzen immer wichtiger. Das gilt für große Organisationen ebenso wie für mittlere und kleine. Personalmanager fungieren als entscheidender Motor modernen Kompetenzmanagements. Viele Betriebe haben das jedoch noch nicht erkannt, so das Ergebnis einer aktuellen Onlinebefragung des Instituts für angewandtes Wissen (iaw-Köln) und des Fraunhofer IPK Berlin unter mehr als 600 deutschen Unternehmen. Danach gleichen die wenigsten Personalverantwortlichen die geforderten und die vorhandenen Kompetenzen ab. Wenn überhaupt geschieht dies über das Mitarbeitergespräch. Aufwändigere, aber leistungsfähigere Verfahren kommen selten zum Einsatz.

Der Studie zufolge unterstützen die meisten Firmen ihre Mitarbeiter nicht dabei, den aufgabenspezifischen Wissensbedarf kurzfristig zu decken. Die Beschäftigten sind hier weitgehend auf sich allein gestellt. Auch die langfristige Personalentwicklung ist defizitär. So versäumen es Manager und Personalverantwortliche oft, den Qualifizierungsbedarf an den vorhandenen Mitarbeiterkompetenzen und den vom Unternehmen geforderten Kompetenzen auszurichten.

Die Autoren der Studie fordern deshalb, künftig mehr Gewicht auf die strategische Entwicklung der Unternehmens- und Mitarbeiterkompetenzen sowie auf die strukturelle Unterstützung und Förderung des selbstorganisierten Lernens zu legen. Selbstorganisierte Kompetenzentwicklung, so das Fazit, wird zum Kern beruflicher Weiterentwicklung, gleichermaßen wichtig für die persönliche Entwicklung und die des Unternehmens. Das Messen von Kompetenzen und ihrer lernkulturellen Voraussetzungen ist somit kein Randthema mehr, sondern wird zur Grundvoraussetzung für eine innovative Arbeitsgestaltung.

Kompetenzen fördern

Personalwirtschaftliche Fragen, die in diesem Zusammenhang besonders wichtig werden, sind unter anderen:

  • Welche gesellschaftlichen Veränderungen stehen vor uns und wie gehen wir damit bildungstheoretisch um?
  • Wie können wir die Anforderungen, die sich daraus ergeben, in Kompetenzentwicklungsprogramme einfließen lassen?
  • Wie können wir vorhandene Kompetenzen erkennen, verstehen, bewerten, entwickeln, trainieren und kommunizieren?
  • Wie können wir innovative informelle Lernkulturen entwickeln?
  • Wie können wir das zivilgesellschaftliche Engagement und entsprechende Kompetenzpotentiale personalwirtschaftlich einbinden?

Eine innovationsfördernde Lernkultur muss kompetenzbasiert, eine kompetenzbasierte Lernkultur muss innovationsfördernd sein. In Personalentwicklung und Weiterbildung haben sich neue Trends herausgebildet, die in den Diskussionen eine zunehmende Rolle spielen. Sie lassen sich in einem siebenstufigen Inklusionsmodell zusammenfassen.

  1. Kompetenzen sind mehr als Qualifikationen, schließen diese aber als Voraussetzungen mit ein.
  2. Kompetenzentwicklung umfasst mehr als nur Weiterbildungsanstrengungen, aber diese dienen stets auch der Kompetenzentwicklung.
  3. Weiterbildung ist ein Teil des lebenslangen Weiterlernens, aber nur ein Teil. Denn Weiterbildung ist episodisch, lebenslanges Weiterlernen kontinuierlich.
  4. Weiterbildungsangebote (Servicemodell) sind nur ein Moment des Weiterlernens, mit dem sich der lebenslang Lernende auch und zunehmend selbst versorgt (Selbstversorgungsmodell).
  5. Qualifikationsprüfungen und -zertifizierungen berücksichtigen nur einen relativ kleinen Ausschnitt der insgesamt nachweisbaren und zertifizierbaren Kompetenzen.
  6. Die Aufzählung teilweise obskurer Einzelkompetenzen muss in die Analyse und Zertifizierung von Basiskompetenzen eingegliedert werden.
  7. Formelles Lernen wird zunehmend von informellem Lernen flankiert. Wird Letzteres aber bewusst induziert und womöglich zertifiziert, kommt es zu einer Formalisierung informellen Lernens.

Diese Trends gelten für alle lebenslang Lernenden – und sie erhöhen die Chancen der Geringqualifizierten. Denn mit den Kompetenzen geraten jene Anteile des Wissens und Könnens ins Blickfeld, die ein Arbeitnehmer auch außerhalb von Schule, Studium und beruflichen Weiterbildungen erworben hat (Trends 1 bis 3).

Jeder Mensch besitzt implizites Wissen, selbst wenn er es nicht immer beruflich verwerten kann. Doch genau hier sollten personalwirtschaftliche Entwicklungsbemühungen ansetzen. Personalentwickler müssen nicht unbedingt mehr Serviceeinrichtungen schaffen, aber die Fähigkeiten zur sinnvollen Selbstversorgung deutlich erhöhen (Trend 4). Denn Mitarbeiter lernen dann besonders effektiv, wenn sie die Möglichkeit haben, sich Wissen und Kompetenzen selbst anzueignen.

In der Praxis ist das explizite Wissen der Mitarbeiter meist weniger wichtig als deren Kompetenzen. Deshalb werden Unternehmen künftig Kompetenzen – ebenso wie Qualifikationen – prüfen und zertifizieren (Trend 5). Nur auf diesem Wege können sie vorhandene Kompetenzpotenziale identifizieren, aktivieren und weiterentwickeln – wo immer sie lernbiografisch entstanden sein mögen.

Dem Personalmanagement stellt sich die Aufgabe, aktivitätsbezogene (antriebs- und willensgeprägte) Basiskompetenzen zu fördern (Trend 6). Entwicklungsprozesse sollten darauf abzielen, die Fähigkeit zur zielbezogenen Selbststeuerung und zur zieloffenen Selbstorganisation auszubilden. In der Praxis bieten sich moderierte und begleitete Lernprozesse am Arbeitsplatz an (Trend 7). Das bedeutet, die Mitarbeiter erhalten Aufgaben und Projekte, die sie gezielt fördern.

Auch kleinere Unternehmen werden nicht umhin können, diese neuen Entwicklungen zu berücksichtigen. Modernes Personalmanagement ist in erster Linie Kompetenzmanagement. Dies sachgerecht zu betreiben, ist für jedes Unternehmen Herausforderung und Chance. Wer hier schneller und besser ist, gewinnt einen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern.

Buchtipps:

Handbuch Kompetenzmessung.

 

Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis.Hrsg. von John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel.

Schäffer-Poeschel Verlag 2003.

Kompetenzkapital.

Verbindungen zwischen Kompetenzenbilanzen und Humankapital.

Hrsg. von Joachim Hasebrook, Olaf Zawacki-Richter und John Erpenbeck.

Bankakademie Verlag 2004.

Kompetenztraining.

64 Informations- und Trainingsprogramme.

Von Volker Heye und John Erpenbeck.

Schäffer-Poeschel Verlag 2004.

Quelle: personal manager 1/2005