Die Grenzen der KI: Warum Maschinen menschliche Geschichten nicht erfassen

Im heutigen Recruiting sind moderne Technologien unverzichtbar. Sie ermöglichen es, Prozesse zu verschlanken, Talente zielorientiert zu identifizieren und Daten intelligent zu verwalten und zu nutzen. Über die aktuell größten Potenziale, aber auch Schwachstellen von Applicant Tracking Systemen – kurz: ATS – sprach das TALENTpro-Magazin mit Max Samer von Bite und Dennis Böcker von SmartRecruiters. Sie verraten, welche Innovationen sie derzeit besonders beschäftigen, diskutieren den Umgang mit Datenschutz und Vorurteilen bei KI-Tools (Künstliche Intelligenz) und unterstreichen die wachsende Bedeutung der individuellen Ansprache von Bewerber:innen.

Max, Dennis, welches Thema treibt Euch als Hersteller von Recruiting-Software aktuell am meisten um?

Max Samer,
Leitung Jobportale bei der Bite GmbH

Max Samer: Unser Fokus liegt auf dem ständigen Wandel, den wir im Auge behalten möchten. Die Softwareentwicklung schreitet auch im Recruiting unaufhaltsam voran. Wir möchten Teil dieses Fortschritts sein und Unternehmen auf ihre jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Lösungen anbieten. So können diese sich in einem herausfordernden Bewerber:innenmarkt erfolgreich behaupten.

Dennis Böcker,
Vice President EMEA Central bei SmartRecruiters

Dennis Böcker: Eine unserer großen Herausforderungen ist, dass viele Entscheider:innen KI-Lösungen einführen wollen, aber gleichzeitig nicht so recht wissen, was Künstliche Intelligenz überhaupt bedeutet und welche Probleme sie lösen kann. Wir sind also gefordert, unseren Kund:innen das Thema KI umfassend und einleuchtend näherzubringen.

Wie ist die generelle Stimmung gegenüber Künstlicher Intelligenz im Recruiting bei den Unternehmen?

Böcker: Vor fünf Jahren war KI für viele Unternehmen noch kein Thema; das hat sich mittlerweile geändert. Dennoch treffe ich nach wie vor auf Verantwortliche, die skeptisch sind gegenüber Künstlicher Intelligenz. Sie bestehen darauf, dass KI entweder gar nicht in ihren Lösungen vorhanden ist oder problemlos deaktiviert werden kann. Es ist schwer, das quantitativ zu erfassen, aber die Skepsis ist definitiv spürbar.

Sprechen wir mit unseren Kund:innen über Künstliche Intelligenz, ruft ein Thema zuverlässig Bedenken und Zögerlichkeit hervor: der Datenschutz. Die Verantwortlichen haben Angst, auf diesem Feld Fehler zu machen, und möchten sich tausend prozentig absichern.

Samer: Unsere Hauptkunden sind kleine und mittlere Unternehmen. Für sie liegt der Fokus darauf, erst einmal den Schritt zur Digitalisierung zu meistern. Mir kommt hier sofort die Gesundheitsbranche in den Kopf, die sich noch viel digitaler aufstellen muss. Erst danach kommt die Frage auf, welche Vorteile KI bietet. Sprechen wir mit unseren Kund:innen über Künstliche Intelligenz, ruft ein Thema zuverlässig Bedenken und Zögerlichkeit hervor: der Datenschutz. Die Verantwortlichen haben Angst, auf diesem Feld Fehler zu machen, und möchten sich tausend prozentig absichern.

Wie gewährleistet Ihr einen optimalen Datenschutz?

Samer: Wir nutzen ausschließlich eigene Server, die in Deutschland stehen. Alle Daten werden End-to-End verschlüsselt; es gelangt nichts nach außen. Wir haben derzeit auch keine Pläne, externe Tools wie Cockpit oder ChatGPT zu integrieren, da dies die Sicherheit beeinträchtigen könnte.

Böcker: Weltweit werden die Regularien für KI-Systeme immer umfassender und strenger. Diese Regeln legen fest, was KI überhaupt ist, was sie tun darf und welche Daten sie sammeln kann. Um die länderspezifischen Datenschutzbestimmungen zu überblicken und einzuhalten, arbeiten wir als globales Unternehmen eng mit unseren lokalen Teams zusammen. Möchten Unternehmen zusätzliche Technologien in unsere Lösung integrieren, implementieren wir das Co-Pilot-Konzept, bei dem ein proaktiver Partner im System die Anwender:innen unterstützt, dynamisch auf stetig wechselnde Vorschriften reagieren zu können.

Bei welchem Schritt in der Candidate Journey profitieren Bewerber:innen und Recruiter:innen am meisten vom Einsatz innovativer Technologien?

Böcker: Recruiter:innen verbringen eine Menge Zeit damit, Job-Interviews zu organisieren und abzustimmen mit den beteiligten Personen – häufig ein ständiges Hin und Her. Setzen sie Tools ein, erleichtern und beschleunigen sie diesen Prozess deutlich. Es gibt eine Reihe von technologischen Hilfsmitteln, die hier dienlich sind – von smarten Kalendern über Whatsapp bis zu Chatbots.

Samer: In der Candidate Journey bietet die Informationsphase vor der Bewerbung enormes Optimierungspotenzial. Ein Chatbot kann Kandidat:innen dabei helfen, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Normalerweise haben Kandidat:innen sehr viele Fragen, aber keine Lust, mehrere Karriereseiten zu durchforsten. Sie wünschen sich direkt klare Informationen. Deswegen haben wir nativ einen Chatbot entwickelt, der diese Anforderung erfüllt.

Chatbots genießen allerdings nicht den besten Ruf. Viele User:innen stört, dass Chatbots häufig unpassende oder gar keine Antworten geben.

Samer: Wir hören solche Bedenken immer wieder. Um sie abzubauen, lassen wir die Zahlen für uns sprechen. Seit gut einem Jahr setzen wir verschiedene KI-basierte Chatbots ein – und verzeichnen dabei beeindruckende Conversion Rates. Wenn mehr als 70 Prozent der Nutzer:innen, die mit dem Chatbot kommunizieren, letztlich den Bewerbungsprozess starten, ist der Chatbot äußerst effektiv. Übrigens verknüpfen wir den Chatbot per QR-Code mit einem Whatsapp-Kanal, um Bewerber:innen die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen oder sich zu bewerben, wann immer es ihnen passt.

Setzen sie Tools ein, erleichtern und beschleunigen sie diesen Prozess deutlich. Es gibt eine Reihe von technologischen Hilfsmitteln, die hier dienlich sind – von smarten Kalendern über Whatsapp bis zu Chatbots.

Wie wichtig ist das Erscheinungsbild des Chatbots? Fördert eine menschliche Optik den Erfolg?

Samer: Genau in diese Richtung entwickeln wir uns gerade. Wir haben festgestellt, dass optisch neutrale und unauffällige Chatbots nicht so gut funktionieren wie aufwendig und menschlich gestaltete. Ein Beispiel ist unsere Entwicklung „Petra Pepperoni“ für Domino’s Pizza. Sie ist eine junge, gut gelaunte, aufgeschlossene Lieferantin im blauen Markenoutfit. In der Interaktion ist sie manchmal sogar frech und verwendet Emojis. Ein solcher Spaß- und Sympathiefaktor scheint entscheidend zu sein für die Akzeptanz eines Chatbots.

Ein solcher Spaß- und Sympathiefaktor scheint entscheidend zu sein für die Akzeptanz eines Chatbots.

KI-Technologien werden immer eigenständiger und menschenähnlicher. Braucht es vor diesem Hintergrund den Menschen überhaupt noch? Kann die KI nicht den gesamten Recruitingprozess autonom durchführen?

Böcker: Einige Anbieter, vorwiegend im Bereich High-Volume-Recruiting, entwickeln und vermarkten KIs, die den gesamten Recruitingprozess autonom durchführen – vom Matching über das Job-Interview bis zur Einstellung. Diesen Ansatz teilen wir nicht. Für uns ist KI definitiv ein unterstützendes Werkzeug. Wir glauben, dass es im Recruiting darum geht, Menschen zu verbinden, die sich dann näher kennenlernen können. Unser Ziel ist es, Prozesse zu vereinfachen, die keine menschliche Interaktion erfordern.

Für uns ist KI definitiv ein unterstützendes Werkzeug. Wir glauben, dass es im Recruiting darum geht, Menschen zu verbinden, die sich dann näher kennenlernen können.

Samer: Ich stimme Dennis vollkommen zu. Im Recruiting will man doch die Geschichten hinter den Menschen erfahren, man möchte nicht nur hören, sondern auch erspüren, ob Persönlichkeiten mit der Unternehmenskultur übereinstimmen. Auf absehbare Zeit wird das keine Maschine hinbekommen. Hinzu kommt: Bewerber:innen fühlen sich unter Umständen vor den Kopf gestoßen, wenn einzig eine Technologie über ihre Zukunft entscheidet. Das kann zu einer negativen Einstellung gegenüber digitalen Technologien generell führen. Wie lässt sich vermeiden, dass KIs Vorurteile übernehmen, die sich aus historischen Daten ergeben? In vielen Branchen wurden in der Vergangenheit bevorzugt Männer und Menschen ohne Migrationshintergrund eingestellt. Eine KI könnte Bewerbungen dieser Gruppen vorziehen.

Böcker: Die Frage ist, wovon eine KI lernt. Lernt sie ausschließlich aus den früheren Aktivitäten eines Unternehmens, das diese Technologie verwendet? Dann ist es nur logisch, dass sie jene Gruppen bevorzugt, die dieses Unternehmen in den vergangenen Jahren eingestellt hat. Anders sieht es aus, wenn Anwender:innen die KI individuell steuern und dabei objektivere Kriterien festlegen. Es ist sinnvoll, dass die KI bei null anfängt und anonymisiert aus dem gesamten Bewerber:innenpool und den entsprechenden Vorgängen lernt, und nicht auf Basis historischer Daten.

Im Recruiting will man doch die Geschichten hinter den Menschen erfahren, man möchte nicht nur hören, sondern auch erspüren, ob Persönlichkeiten mit der Unternehmenskultur übereinstimmen.

Was, wenn Bewerber:innen ihre Lebensläufe absichtlich KI-optimiert erstellen, indem sie etwa gehäuft Schlüsselwörter verwenden?

Böcker: Natürlich können wir nie ausschließen, dass Bewerber:innen versuchen, den Prozess zu beeinflussen. Ob sie damit erfolgreich sind, hängt von den Stärken und Schwächen der jeweiligen KI ab. Ein großer Vorteil ist es, wenn eine KI bei komplexeren oder abstrakteren Formulierungen erkennt, dass diese zu einer bestimmten, einfach formulierten Anforderung in einer Stellenausschreibung passen.

Talente sollten im Personalmarketing und Recruiting möglichst individuell angesprochen werden. Birgt das auch Gefahren, etwa wenn sich Kandidat:innen „ertappt“ fühlen bei Anzeigen mit sehr persönlichem Bezug?

Samer: Letztlich sollte es den Nutzer:innen überlassen bleiben, welche Daten sie preisgeben wollen. Einige möchten viel von sich preisgeben, und bekommen dann auch perfekt zugeschnittene Stellenangebote ausgespielt; andere halten sich zurück. Übrigens: Je intensiver jemand einen Job sucht, desto bereitwilliger stellt er Daten zur Verfügung, etwa auf den Karriereseiten eines Unternehmens. Er profitiert dann von den immer besseren und interessanteren Auswertungsmöglichkeiten von Daten.

Böcker: Im Privaten sind Menschen an personalisierte Angebote gewöhnt, denken wir nur an Netflix, Amazon oder Facebook. Diese Erwartung sollten wir auch im Recruiting erfüllen. In unserem Unternehmen treiben wir das Thema intelligente Karriereseite stark voran: Erhalten User:innen passende Stellenangebote, etwa basierend auf ihrer Google-Suche und ihrem Standort? Haben sie das Gefühl, persönlich angesprochen und inhaltlich abgeholt zu werden? Idealerweise passen sich Karriereseiten automatisiert den Nutzer:innen an – und dafür braucht es Daten. Zu beachten ist außerdem: Auf Business-Plattformen wie LinkedIn teilen Menschen zahlreiche persönliche Daten, um für potenzielle Arbeitgeber attraktiver zu wirken und auffindbar zu sein. Im Karrierekontext sind User:innen also bereit, Daten zu teilen – wenn sie einen Vorteil daraus ziehen können.

Auf Business-Plattformen wie LinkedIn teilen Menschen zahlreiche persönliche Daten, um für potenzielle Arbeitgeber attraktiver zu wirken und auffindbar zu sein. Im Karrierekontext sind User:innen also bereit, Daten zu teilen – wenn sie einen Vorteil daraus ziehen können.

Wie wichtig ist es, Tools miteinander zu vernetzen, um eine nahtlose Anwendung für Recruiter zu schaffen?

Böcker: Die Kommunikation zwischen Systemen ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Prozesse effizienter und intelligenter ablaufen können. Verwaltet ein Unternehmen beispielsweise in seinem Hiring-System unterschiedliche Skills, die ihm wichtig sind, dann sollte es sicherstellen, dass die jeweiligen Skills im Personalmarketing und Recruiting ohne vermeidbare Zwischenschritte durch eine andere Technologie ausgespielt werden. Es geht darum, einen reibungslosen Fluss an Informationen zwischen allen Systemen herzustellen, sodass ein System vom anderen profitiert.

Verratet uns zum Abschluss, an welcher Innovation Ihr derzeit besonders intensiv arbeitet.

Böcker: Ich hatte bereits das Thema Co-Pilot angesprochen. Hier möchten wir noch ausgefeiltere Lösungen entwickeln. Wir wollen den Nutzer:innen eine Begleitung zur Verfügung stellen, die sie auf relevante Themen hinweist und darauf basierend kluges Handeln ermöglicht. Das umfasst die Ausschöpfung technologischer Möglichkeiten genauso wie die Vermeidung von Vorurteilen durch den Algorithmus und die Einhaltung von Compliance-Richtlinien. Anwender:innen bleiben so auf dem Laufenden und sparen Zeit, wodurch sie sich intensiver auf den persönlichen Kontakt mit den Kandidat:innen konzentrieren können.

Samer: Wie bei SmartRecruiters steht bei uns das Thema intelligente Karriereseite aktuell hoch im Kurs. Wir wollen hier in den kommenden Monaten Fortschritte erzielen und unseren Kunden maßgeschneiderte und gleichzeitig flexible Lösungen anbieten.

Interview: André Gärisch

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