Philippe Wampfler, Sekundarlehrer und Bildungsexperte für neuen Medien, sowie Referent, Autor und Weiterbildner für Digitalisierung und die Auswirkung auf die Bildung.

Philippe Wampfler, Agiler Unterricht sollte zu einem Standard werden
Philippe Wampfler

Philippe Wampfler (*1977) ist in Baden aufgewachsen und hat in Zürich Germanistik, Mathematik und Philosophie studiert. Aktuell ist der Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge und Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich.

Seit 2012 forscht er intensiv zu Fragen der Digitalisierung, besonders in Bezug auf die Auswirkungen auf die Bildung. Er ist Referent, Autor und Weiterbildner in diesem Themenbereich.

Was ist für Sie «Learning Innovation»? (= Innovation im Bereich Lernen; innovatives Lernen)

Grundsätzlich bedeutet das für mich: Neue Perspektiven auf Lernprozesse kennen lernen, eigene Vorstellungen dazu hinterfragen und modifizieren – und neue Praktiken ausprobieren, evaluieren und einführen. Das ist ein komplexer Prozess, bei dem für mich verschiedene Transfervorgänge im Mittelpunkt stehen: Wie kann ich fremde Konzeptionen des Lernens mit eigenen verbinden? Wie komme ich dazu, neu Lehr- und Lernformen zu erproben? Wie finde ich wirksame Formen der Adaption und Evaluation meines Verhaltens? Damit nachhaltige Innovation stattfindet, müssen Antworten auf diese Fragen gefunden werden: Auf individueller wie auch auf systemischer Ebene, also etwa von Schulen, Unternehmen, Universitäten.

Ein wichtiger Schlüssel dazu ist die Vernetzung mit anderen Lernenden und Lehrenden. Mit dem Aufkommen digitaler Plattformen ist das deutlich einfacher geworden. Ein wichtiges Konzept ist auch «Working Out Loud» von John Stepper, das im Wesentlichen besagt, dass Innovation entstehen kann, wenn die eigene Arbeit sichtbar gemacht wird. Dabei bieten Blogs und soziale Netzwerke Unterstützung.

Was ist für Sie das Paradebeispiel von einer Schule oder einer Bildungsinstitution, die in diesem Sinne neue Formen von Lernen umsetzt und praktiziert?

Ich bin beeindruckt von der Bildungs-Plattform Intrinsic, die den Versuch unternimmt, Lernen und Lehrerausbildung neu zu denken. Von Beginn weg ist das Projekt klar als Austausch verschiedener Perspektiven gedacht, als Möglichkeit, motivierende Lernumgebungen zu schaffen. Intrinsic geht nicht von einem Gebäude, nicht von einem Abschluss und auch nicht von bestimmten Methoden aus, sondern setzt das Lernen in den Mittelpunkt und organisiert darum herum Workshops und Möglichkeiten, sich mit interessanten Menschen auszutauschen.

Was sind für Sie Herausforderungen und Ziele – Strategien / Projekte und Programme im Bereich Lernen und Arbeiten?

Zwei für mich zentrale Herausforderungen sind Change Management an Schulen sowie die Verbindung unterschiedlicher Perspektiven. Bildungsinstitutionen orientieren sich oft stark am Unterricht: Damit gehen sich nicht von den Bedürfnissen Lernender aus, sondern organisieren die Aktivitäten von Lehrenden. Diese stehen jedoch nicht am Anfang von Lernprozessen, sondern begleiten diese. Hier eine wirksame Veränderung einzuführen ist ein komplexes Geschäft, weil das Personal, die Architektur, die Politik alle gleichzeitig gefordert sind, Innovationen möglich zu machen.

Mit den unterschiedlichen Perspektiven meine ich die Tatsache, dass an allen Orten, wo Menschen arbeiten, unterschiedliche Sichtweisen präsent sind. Zu oft wird das nicht als Ressource angesehen, sondern als Problem: Vereinheitlichung scheint die Lösung für ein Problem darzustellen, das weder ein Problem ist noch eine Lösung braucht: Vielmehr müssen zeitgemässe Arbeitsteams Diversität zum Blühen bringen und dürfen sie nicht ersticken.

Sie sprechen den Aspekt «Change Management» an Schulen an. Damit dies passiert, gehe ich davon aus, dass das Thema «Change und Schulen» schon an den Pädagogischen Hochschulen thematisiert werden sollte. Ist dies aus Ihrer Sicht der Fall oder besteht da Handlungsbedarf?

Eigentlich müsste ein nachhaltiger Ansatz schon beim Berufsbild ansetzen: Lehrpersonen müssen bereit sein, Schulen zu verändern, zu gestalten, zu entwickeln. Oft ergreifen aber Menschen diesen Beruf, welche als Schülerinnen und Schüler gute Erfahrungen gemacht haben und unbewusst die Schulerfahrung reproduzieren, die sie selbst erlebt haben. Das macht das Schulsystem recht träge.

An den Pädagogischen Hochschulen sollten aus meiner Sicht grundlegende Fähigkeiten und Strategien zur Entwicklung von Unterricht und Schule vermittelt und geübt werden. Um ein Modewort zu verwenden: Agiler Unterricht sollte zu einem Standard werden. Das bedeutet, dass Lehrpersonen neue Methoden erfinden, erproben und sie weiterentwickeln. Wer so unterrichtet, ist auch bereit, eine ganze Schule umzukrempeln.

Das kann ich nur unterstreichen und das führt uns auch gleich zur nächsten Frage: Was müssen Betriebe, Organisationen, Bildungsinstitutionen tun, um Lerninnovationen umzusetzen?

Freiräume schaffen – auf allen Ebenen. Räumlich braucht es Platz für Innovationen (etwa in einem Makerspace), zeitlich brauchen Menschen Gefässe, in denen nicht vorgegeben ist, wer wann was zu erledigen hat. Dann kann Innovation entstehen.

Muss nicht Innovation – auch im Bereich Lernen – durch ein Ziel oder ein Problem motiviert sein, das es zu erreichen oder zu lösen gilt? Welches Ziel oder Problem müsste im Schulbereich erreicht oder angegangen werden? Können wir da wieder auf Konzepte wie von Wagenschein oder Freinet oder anderer Reformpädagogen zurückgreifen und sie mit digitalen Mitteln ergänzen oder anreichern, also quasi eine digitale Reformpädagogik umsetzen?

Ich verstehe die Frage auf zwei Ebenen: Zunächst geht es um das Problem, welche eine innovative Schule durch die Innovation löst. Dann um die Frage, ob Reformpädagogik gerade durch ihren Fokus auf problemlösendes Lernen Hilfestellungen bieten kann, um innovativen Unterricht zu entwickeln.

Das zentrale Problem, an dem Innovation auf Schul- oder Organisationseben ansetzen sollte, ist das nach dem Sinn der eigenen Tätigkeit. Erleben die Anwesenden (das können Lehrende, Lernende, Angestellte, Führungspersonen sein) ihre Tätigkeit als sinnhaft und bereichernd? Haben sie den Eindruck, durch ihre Arbeit in dem Sinn kompetent zu sein, dass sie in der Welt etwas bewegen können? Ein Veränderungsprozess sollte also vom Ziel ausgehen, die Arbeit in der Institution sinnhafter zu machen.

Die Reformpädagogik bietet viele Ansätze, mit denen eine Individualisierung des Lernens zu leisten ist, gerade auch, weil sie Lernen an Problemen als zentrale Methode anerkennt. Aus meiner Sicht ist Reformpädagogik mit digitalen Mitteln eine sehr gute Ausgangslage, um Unterricht besser auf Lernende abzustimmen.

Gut, ich denke, das Themenfeld «Reformpädagogik und Digitalisierung» gäbe noch einiges her. Ich möchte aber noch auf die individuelle Ebene wechseln: Was fordert Sie aktuell (erfreulich und auch anstrengend) heraus? Mit was wollen Sie sich in den nächsten Jahren beschäftigen?

Ja, ich denke, es wäre hilfreich, wenn systematische Arbeiten erschienen, in denen Reformpädagogik und Digitalisierung verbunden werden. Vermutlich könnten wir heute auch einiges aus den Fehlern der Reformpädagogik lernen, gerade weil im Zuge der Digitalisierung oft Konzepte neu erfunden werden, die eigentlich schon eine längere Tradition haben.

Ich will digitale Hilfsmittel in Lernprozessen einsetzen können, ohne Lernenden ihre menschliche Autonomie und Kreativität zu nehmen und ohne mich dabei an bestimmter Hard- oder Software zu orientieren. Das heisst, dass ich Lernende nicht kontrollieren oder konditionieren will, sondern digitale Arbeitsumgebungen einsetzen will, um ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, ihr persönliches Lernen und ihre Lernnetzwerke in den Mittelpunkt ihrer Aktivität zu stellen. Das ist deshalb eine Herausforderung, weil in traditionellen Schulsettings Digitalisierung oft als Effizienzsteigerung bei Prozessen eingesetzt werden, die ich pädagogisch und didaktisch eher kritisch sehe: Standardisierung, Notengebung, Behaviorismus.

Diese Position führt dazu, dass ich teilweise schwer einzuordnen bin: Ich sehe das Potential der Digitalisierung, warne aber trotzdem vor bestimmten Entwicklungen.

Das nehme ich gerne abschliessend nochmals auf: Wo sehen Sie das grösste Potential im Bereich des digitalen Lernens und wo die grösste Bedrohung?

Die grösste Bedrohung liegt für mich in einer umfassenden Standardisierung und Vermessung des Lernens, die dann zu einer Sinnverschiebung führen könnte: Wenn Menschen nur die Aufgaben lernen sollen, welche automatisierte Systeme noch nicht autonom erledigen können, dann ist die Digitalisierung des Lernens gescheitert, weil die Menschen nicht zu sich kommen durch das Lernen, sondern sich entfremden. Das Potential liegt umgekehrt darin, wo die Digitalisierung sichtbar machen kann, wie Menschen sich und ihre Beziehungen auf digitalen Plattformen entwickeln können. Wenn sie beispielsweise direkte Reaktionen auf ihr Lernen und ihre Arbeit erhalten, stützt sie das und hilft ihnen dabei, einen Sinn in ihrem Lernen zu finden.

Lieber Herr Wampfler, vielen Dank für diese neue Sichtweise auf Digitalisierung und Schulen.

Philippe Wampfler, Keynote Swiss eLearning Conference 2015

Interview: Daniel Stoller-Schai

Quelle:
Dieses Interview erschien zuerst in dem Sammelband “10 Jahre Learning Innovation Conference – 22 Interviews”. Hrsg. von Alexander Petsch und Dr. Daniel Stoller Schai, HRM Research Institute 2019.

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